Das Grundgesetz hat ja bereits seine Jährchen auf dem Buckel. Mir kommt es so vor, dass es bis zum Artikel 146 nicht oder sehr selten gelesen wird. Denn dieser Artikel bestimmt eindeutig, dass dieses Grundgesetz längst nicht mehr gültig ist.
Während der Konferenz »Deutschland in bester Verfassung? Der Aufbruch in Hessen und Brandenburg. Der Neubeginn in Potsdam vor 20 Jahren. Das Grundgesetz heute« am 23. Mai 2012 im Cecilienhof und im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte sind weitere zehn Jahre verflossen, ohne dass sich zum Artikel 146 etwas Neues ergeben hätte.
In der »Potsdamer Erklärung« vom 23. Mai 2012 heißt es: »Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde als Provisorium für die BRD geschaffen.« Es wurde in der Woche vom 16. Bis 22. Mai 1949 von den Volksvertretungen der beteiligten deutschen Länder – mit Ausnahme Bayerns – mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen.
Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 betrachtete Deutschland als unteilbare demokratische Republik. Der Artikel 146 GG für die BRD enthält implizit das Eingeständnis der mangelnden demokratischen Legitimation: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«
Die in Potsdam am 23. Mai 2012 zusammen gekommenen Persönlichkeiten vertraten die Meinung, dass die Zeit reif war, den Artikel 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland zu verwirklichen. Zahlreiche Fragen lässt das Grundgesetz für die BRD unberücksichtigt, die teilweise bereits in den Länderverfassungen, die unter demokratischer Beteiligung der Bevölkerung verabschiedet wurden, enthalten sind. Zu den offenen Fragen des Grundgesetzes gehören insbesondere:
- Die Aufnahme sozialer Grundrechte und die Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips;
- ein striktes Verbot der Privatisierung bisher staatlicher Einrichtungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie eine wirksame Regulierung des Bankensektors;
- das Verfahren der Volksgesetzgebung;
- eine ausdrücklichere Festlegung auf die Friedensstaatlichkeit;
- das Verbot von Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Ausland;
- eine Antifaschismusklausel;
- die Aufnahme von Kinderrechten und des Schutzes von ethnischen Minderheiten.
Abschließend heißt es in der »Potsdamer Erklärung« vom 23. Mai 2012: »Eine deutsche Verfassung sollte den Prozess sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden in der Europäischen Union befördern und stärken. Das dritte Jahrzehnt der Vereinigung hat schon begonnen, die Zeit ist reif, um in eine Verfassungsdiskussion einzutreten, an deren Ende eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«