Seit den Anfängen seines publizistischen Schaffens im Kaiserreich ließ Ossietzky sich zornig oder ironisch über antisemitische Äußerungen und Ausschreitungen aus, die in den ersten Jahren der Weimarer Republik verstärkt auftraten, dann wieder in der Endphase, als die Nazi-Oberen nach der für sie so überaus erfolgreichen Reichstagswahl im September 1930 ihre Sturmabteilungen von der Leine ließen. Wiederholt registrierte er das alltäglich gewordene »Lapidarwort ›Juden raus‹«, und es empörte ihn, dass der Staat »antisemitische Giftspritzen« in der Presse durchgehen ließ. Bitter bemerkte er dazu: »Wenn man dereinst die Geschichte dieser Republik schreibt, dann wird das längste Kapitel von ihren Unbegreiflichkeiten handeln.« [1]
Er selber lebte in einem Milieu, in dem er Antisemiten nicht unmittelbar begegnete, in dem gar nicht zwischen Juden und Nichtjuden unterschieden wurde, wie etwa der Briefwechsel bezeugt, den Ossietzky und Tucholsky führten. Zwei Drittel der Autoren der von Jacobsohn gegründeten Weltbühne waren jüdischer Herkunft. Nicht viel anders dürfte es bei dem von den »Juden« Großmann und Schwarzschild geleiteten Tage-Buch gewesen sein. Die Berliner Volkszeitung, an der Ossietzky seine journalistische Laufbahn begann, gehörte zum Verlag der jüdischen Familie Mosse. Überhaupt waren bei der demokratischen Presse viele Publizisten jüdischer Herkunft tätig. Antisemiten sahen darin eine Möglichkeit, gegen diese Presse zu hetzen, weil sie »verjudet« sei. Eine deutsche Presse war für sie nicht demokratisch, sondern nationalistisch.
In zwei Artikeln: »Israels Streitmacht« vom April 1921 und »Zion« vom September 1929 ging Ossietzky näher darauf ein, wie er die jüdischen Siedlungen in Palästina, das seit der Konferenz von Sanremo 1920 vom Vereinigten Königreich als Mandatsmacht des Völkerbundes verwaltet wurde, gesehen und bewertet hat.
Der britische Hochkommissar für Palästina plante die Schaffung einer Armee, die aus einem arabischen und einem jüdischen Bataillon bestehen sollte. Das Vorhaben scheiterte, weil zwischen beiden Bevölkerungsgruppen Konflikte ausbrachen. Das aber wusste Ossietzky noch nicht, als er schrieb: »Diese Nachricht wird ohne Zweifel auf die Antisemiten aller Länder, die bisher die Juden der Drückebergerei und der Feigheit bezichtigten, einen außerordentlich starken Eindruck machen. […] Aber ich muß leider gestehen, daß Judas etwas verspätete militärische Renaissance auf mich keinen erfreulichen Eindruck macht. Denn in den Juden verehrte ich das einzige unkriegerische Volk der sogenannten zivilisierten Welt, das Volk ohne Feldwebel. […] Spinoza hat philosophiert und, da er davon nicht leben konnte, Brillengläser geschliffen. Jehuda ben Halevi und Heinrich Heine haben Verse gemacht und Rothschilds Geldgeschäfte. Aber Ahasver im Stechschritt ist eine blanke Unmöglichkeit.« [2]
Er warf einen düsteren Blick in die Zukunft: »So holt Israel eifrig nach, was es seit der Evakuierung durch Titus versäumt hat: es stellt die geistigen Waffen ins Zierschränkchen und schafft sich eine schimmernde Wehr an. Diesen zeitgemäßen Fortschritt werden zunächst die armen Araberhorden zu spüren bekommen, die auf kargem Boden im Innern des Landes hausen …, ohne die geringste Ahnung vom historischen Recht, dessen tiefere Bedeutung ihnen nunmehr bald mit dem Maschinengewehr erschlossen wird …« [3]
Ossietzky nannte Personen, die Bedeutendes geleistet hatten, denen aber das Militärische fremd war. Er führte sie als Angehörige eines Volkes an. Doch darüber machte er sich keine Gedanken. Wie es seiner Art entsprach, ergriff er Partei für Unterdrückte und Verfolgte. Als aber die Fronten zwischen Angreifern und Angegriffenen unübersichtlich wurden, änderte er seine Wertungen. In seinem Artikel »Zion«, den er acht Jahre später anlässlich blutiger Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern schrieb, gehören seine Sympathien den Juden:
»Juden, die zurückgekehrt sind ins Land der Erzväter und mühsam aufbauen, was in jahrhundertelanger Türkenherrschaft verschlampt und verschüttet wurde, stehen im Kampf mit Arabern, die sich als die ältern Besitzer fühlen. Straßenkampf und scheußliche Metzeleien in Jerusalem, in Hebron, in Jaffa, in Haifa. […] Von Anbeginn war die Spannung zwischen den Eingewanderten und den eingesessenen Arabern stark. Hier die Pioniere, von sozialistischen oder wenigstens altruistischen Idealen getragen, in ihrem jungen Nationalbewußtsein unbändig und oft wohl auch nicht die Formen der Andern respektierend. Dort die Araber, Grundbesitzer mit Feudalbegriffen; uralte Sippenpolitik, gemengt mit moderner nationalistischer Demagogie. Sie haben nur ein Zipfelchen von Europa erwischt, und zwar nicht das beste.« [4]
Europäische Pioniere treffen im Orient auf feudale Grundbesitzer, die Ossietzky nun anstelle »armer Araberhorden« ausmacht. Ein von altruistischen Idealen getragenes Nationalbewusstsein trifft auf nationalistische Demagogie. Ossietzky schloss sich hier Arnold Zweig an, der in derselben Ausgabe der Weltbühne emphatisch dazu aufrief, die neu gegründete »Liga für das arbeitende Palästina« zu unterstützen. [5] »Die Arbeiterschaft Palästinas«, schrieb Zweig, die zu einem Teil in kommunistischen Siedlungen lebe, leiste »Vorpostenarbeit für den Versuch der gesamten Menschheit, neue und bessere Formen des Zusammenlebens und der gerechten Verteilung des Arbeitsertrages zu finden«. Deren Widerpart, den Großgrundbesitz der Araber, beschrieb er so: »Wie in Deutschland nimmt er auch in Palästina die Form des Hüters nationaler Güter an. Um seine geistig ungewandten, leicht erregbaren Landarbeiter und Pächter dauernd in Abhängigkeit zu halten, braucht er ihre Gruppenaffekte nur gegen die neue jüdische Einwanderung anzustacheln und eine national-arabische Sache zu schaffen, die aufs Haar genau der national-preußischen Gemeinschaft von Gutsbesitzern und Landarbeitern in Pommern oder Ostpreußen gleicht.«
Eine weitere Gefahr für die »jüdische Arbeiterschaft« sah Zweig darin gegeben, dass »innerhalb des bürgerlichen Zionismus ein Geist seine Ansprüche anzumelden [droht], der überall auf der Erde zu finden ist und der die nationalen Einrichtungen der Juden in Palästina nur nach ihrer Rentabilität erhalten wissen will«. Was das zwiespältige Verhalten des zwischen materiellen Interessen und politischen Idealen schwankenden Bürgertums betrifft, und zwar nicht nur des jüdischen oder speziell auch nur des bürgerlich-zionistischen, konnte Ossietzky Zweig zustimmen, aber er wertete die Arbeit der eingewanderten Juden nicht so weltumspannend; er vermutete lediglich »einen Konflikt zweier Völker«, die auf demselben Boden wohnen, über dessen Verteilung sie sich nicht einig sind.
Arnold Zweig war Sozialist, kein Zionist. Er emigrierte zwar nach Palästina, kehrte aber nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus in die DDR zurück. Bei Ossietzky lösten Juden in Palästina keine sozialistischen Überlegungen aus. Ihm ging es um die britische Mandats- überhaupt Orientpolitik, die er als »offen antijüdisch« bezeichnete. Ihn beschäftigte, dass »eine reine Ideologie in das System des ränkevollen britischen Kolonialimperialismus eingespannt« werde. Er sah aber auch, dass eine Jahrtausende alte Idee machtpolitisches Kalkül überragte: »Der Millennarsehnsucht eines in alle Welt verstreuten Volkes die Erfüllung in Aussicht« zu stellen, war ein »wahrhaft erhabenes Geschenk an die Juden des ganzen Erdkreises«. Selbst wer den Waffenrock der Mittelmächte trug, sei »bei dem Klang des einen Wortes: Zion!« im Innersten bewegt worden.
Kehren wir von Palästina nach Deutschland zurück, wo Antisemiten ihr Unwesen trieben. Ossietzky behandelte sie mit Spott und Verachtung, mit Empörung und Zorn aber auch Juden, die sich aus geschäftlichen Interessen, wie er meinte, einem antisemitisch infizierten nationalistischen Milieu anpassten, statt sich entschieden zur Demokratie zu bekennen. Er stellte den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens unter Generalverdacht und nannte ihn spöttisch »Centralverein deutscher Staatsjuden bürgerlichen Glaubens«, wobei »bürgerlich« als »bourgeois« zu lesen ist. Tucholsky schrieb: »Centralverein jüdischer Staatsbürger deutschen Glaubens«, wobei er mit »deutsch« eine nationalistische Gesinnung meinte, die demokratisches Denken überlagert. [6]
Im Wahlkampf für den im September 1930 zu wählenden Reichstag – das parlamentarische Regierungssystem war schon durch eine Präsidialdiktatur ersetzt worden – brachte die Zeitung des Centralvereins einen Leitartikel, über den sich Ossietzky heftig empörte. Der Verfasser, Ludwig Holländer, warb für eine Annäherung an die Deutsche Staatspartei. Die erst Ende Juli 1930 entstandene Partei ging aus einer Vereinigung der bürgerlichen Deutschen Demokratischen Partei mit der Volksnationalen Reichsvereinigung hervor, einer taktisch motivierten Gründung Artur Mahrauns, des »Hochmeisters« des antisemitischen Jungdeutschen Ordens (Jungdo). Den Arierparagraphen des Jungdo übernahm sie nicht. Ossietzky erkannte in dem Zusammenschluss beider Parteien einen weiteren Schritt der Deutschen Demokratischen Partei auf dem Weg, der die Republik in die faschistische Diktatur führte. Er war voller Zorn und ließ das den Centralverein spüren:
»In der Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens befaßt sich deren Leitartikler, Herr Ludwig Holländer, mit der Staatspartei und mit den verwickelten Erklärungen Herrn Mahrauns, ob er und seine Freunde nun Antisemiten sind oder nicht. […] Vom C. V. war nicht mehr zu erwarten als ein höfliches Verharren in einer traditionellen Position, mehr Wehleidigkeit als Militanz. Es ist aber viel ärger gekommen: Herr Holländer trompetet mit vollen Backen zum Verlassen der alten Stellung. Natürlich kann er Bedenken nicht ganz verschweigen, nicht ganz untern Tisch fallen lassen, daß der Jungdeutsche Orden noch immer an seinem Arierparagraphen festhält und Herr Mahraun noch jetzt auf der Zinne der neuen Volksgemeinschaft etwas viel von ›christlicher und deutscher Kultur‹ schwafelt. Was das bedeutet, weiß nach der langen leidvollen jüdischen Vergangenheit wohl selbst der irrste Gemeindeirre, und nur der Leitartikler des C. V. dreht und deutelt daran. […] Das deutsche Bürgertum galoppiert Hals über Kopf aus seinen überlieferten Programmen und Ideengebäuden und läßt den alten Parteihabit hinter sich. Und die jüdische Bourgeoisie findet, daß Liberalismus und Demokratie, die Mächte ihrer Emanzipation, das frühere Vollgewicht verloren haben, und wirft sich lieber in ein verzweifelt ungewisses Abenteuer. Aus Furcht vor materieller Einbuße gesellt sie sich zu Leuten, die ›an den Grundsätzen der christlichen und deutschen Kultur‹ nicht rütteln lassen wollen, die aber um diese Konzession bereit sind, jüdisches Geld zu verteidigen.«
Das sind happige Vorwürfe gegen die »jüdische Bourgeoisie«. Persönliche Erfahrungen konnte Ossietzky nicht einbringen. Er hatte nur mit Juden Umgang, die unverrückbar an Liberalismus und Demokratie festhielten. Dieses politische Bekenntnis kann bei Juden nicht überraschen, hatten sie doch bei der Entstehung der »Mächte ihrer Emanzipation« maßgebend mitgewirkt, wie überhaupt bei der Schaffung unserer modernen aufgeklärten Welt, der sie sich nicht als einer schon vorhandenen erst assimilierten. Man muss nicht gleich an Einstein, Freud und Marx, an Kafka und Mahler und an Rothschild denken, um das zu erkennen. Eine antisemitische Einstellung zeigt sich in Ossietzkys Worten nicht. Im Gegenteil: Er hätte die jüdische Bourgeoisie gegen Antisemiten verteidigt. Das ging nun nicht mehr, musste er feststellen:
»Der C. V. betont nicht mehr den jüdischen, sondern den bürgerlichen Glauben. Diese deutschen Staatsjuden bürgerlichen Glaubens haben sich entschieden und damit auch das Recht verwirkt, künftig über Antisemitismus zu zetern. Ich glaube hier nicht nur für mich, sondern auch für viele freiheitlich gesinnte Nichtjuden zu sprechen, die durch lange Jahre den Antisemitismus als die säkulare Schande bekämpft haben, wenn ich sage, daß wir die berühmten Appelle des C. V. an das gemeinsame humanitäre Gefühl in Zukunft gelassener ertragen werden. Namentlich wenn bei dieser Gelegenheit die offiziell als leer erkannten liberalen und demokratischen Grundsätze plötzlich wieder ihr früheres Vollgewicht erlangen sollten. Da eine repräsentative jüdische Organisation, wie es der C. V. ist, selbst in der Existenzfrage des Judentums mit sich handeln läßt, kann man schwerlich von Nichtjuden verlangen, daß sie auf die Schanzen steigen, wenn Holofernes wieder einmal vor Bethulien steht. Antisemiten kann man bekämpfen, das ist eine grade, offene Rechnung. Aber was in aller Welt soll man mit Juden machen, die sich selbst den gelben Fleck aufs Kleid tun, nur um für ihre Tresors und Aufsichtsratsposten die gütige Protektion einer Antisemitensippe zu gewinnen –? Da bleibt nichts als Resignation.« [7]
Im Mai 1932 ging Ossietzky ins Gefängnis. Er durfte Zeitungen und Bücher beziehen, was ihm ermöglichte, für die Weltbühne Rezensionen zu schreiben. Da es ihm aber nicht erlaubt war, sie zu publizieren, erschienen sie unter verschiedenen Pseudonymen. Nur einen Artikel, den Ossietzky schlicht und einfach »Antisemiten« betitelte, wollte er unter seinem Namen veröffentlicht haben. Der Verlag fand einen Ausweg. Er gab an, dass sich das Manuskript in Ossietzkys Redaktionsschreibtisch gefunden habe.
Genauer beschäftigte sich Ossietzky mit »literarischen Antisemiten«. Er stellte zunächst fest, dass sie mit den »längst als brüchig erkannten« Rassentheorien, mit »Ariertum« und dem »nordischen Menschen« nicht mehr viel hermachten. [8] Die Aussage ist gewiss auffällig, besagt aber in der Sache nicht viel. So musste Ossietzky lesen, dass das »Blut« als eine »unveränderliche Substanz« eines Volkes das Schicksal der Völker und Menschen bestimmt. »Aus den Geheimgesetzen des ›Blutes‹«, so referierte er, »werden sich Germanen und Judäer entgegenstehen bis ans Ende der Tage, werden sie sich niemals mischen können, werden sie sich ewig innerlich fremd bleiben müssen.« [9]
Das Wort »Rasse« taucht hier nicht auf, eine Theorie wird nicht in Anspruch genommen, statt Arier werden Germanen genannt, aber das Denken ist durch und durch rassistisch geprägt. Wenn Ossietzky lediglich die Propagierung eines »feierlichen Deutschtums« ausmacht, dann liegt das daran, dass nach seiner Ansicht Rassentheorien nicht mehr ernst genommen würden, die einst von einem »intellektuellen Antisemitismus« aufgestellt wurden, der ein »Ariertum« und den »nordischen Menschen« propagierte, und die von Gobineau, Housten Stewart Chamberlain und dem »bayreuther Parvenutum« vertreten wurden. Mag sein, dass die rassistischen Fundamente eines komplexeren Antisemitismus, der von traditionellen Quellen gespeist wurde, in den Augen Gebildeter zu Ossietzkys Zeiten brüchig geworden waren, doch nur wenig später wurde unter der Nazi-Diktatur rassistisches Denken die herrschende Ideologie, die auch den Antisemitismus vollkommen durchdrang. Er leitete vom Trennungswahn zum Vernichtungswahn über, dem außer Juden auch Sinti und Roma zum Opfer fielen. Völkervielfalt lässt die Idee der einen Menschheit bestehen; der Rassismus löst sie auf. Herrenrassen müssen minderwertige vernichten, um ihre Reinheit zu erhalten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen dieses inhumane Denken entsteht, dürfen bei einem auf Völker reduzierten Denken nicht aus dem Blick geraten.
Weil sie »alle Krankheiten ihrer Gattung vereinen, rapide umlaufen und Unfug anrichten«, unterzog Ossietzky zwei Publikationen einer ausführlichen Kritik: Hans Blühers »Erhebung Israels gegen die christlichen Güter« und Wilhelm Stapels »Antisemitismus und Antigermanismus«.
Den mit Publikationen über die Jugendbewegung hervorgetretenen Blüher lobte Ossietzky als einen Schriftsteller »von wirklich produktiven Einfällen«. Das war ironisch gemeint. So entdeckte er in dem rezensierten Werk eine »ungewollte Travestie«. Er meinte eine Passage, in der Blüher zu den Protokollen der Weisen von Zion, einer antisemitischen Fälschung, die angebliche Pläne für die Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft kolportierten, schrieb: »Auch hier besagt die Echtheit oder Unechtheit gar nichts, sondern nur ihr intelligibler Inhalt. Dieser aber ist […] unbedingt wahr. Denn das Judentum hat danach gehandelt.«
»Platt und wüst« wie in einer beliebigen Sechserbroschüre gehe es bei Blüher zu, kritisierte Ossietzky und brachte als Beispiel ein ausführliches Zitat: »Soll man hier sagen, eine deutsche Frau, der es möglich ist, ihr Geheimnis den Blicken eines jüdischen Arztes preiszugeben und seine Eingriffe willenlos zu dulden, hat so viel an Instinkt verloren, daß man auf sie verzichten muß? Oder soll man lieber hier doch warnen …? Die Unerträglichkeit dieser Vorstellung: der Jude am Lebenstor der deutschen Rasse ist kaum zu überbieten.« [10]
Anders als Blüher, so stellte Ossietzky fest, verzichte Stapel, »von seinen Bewunderern für die beste Feder der Rechten gehalten«, mit dem Begriff »Rasse« zu operieren. Er wisse, dass es damit keine Lorbeeren zu holen gebe. Aber seine Gegenüberstellung von jüdischem und deutschem »Volkstum« sei nicht weniger nebelhaft. Ossietzky sah sich zu einer Klarstellung veranlasst, wobei er sich auf die wirklichen Lebensverhältnisse bezog: »Das ›Volkstum‹ eines kleinen jüdischen Angestellten ist nicht das gleiche wie das seines jüdischen Chefs, der drei Autos hat. Das ›Volkstum‹ des jüdischen Proleten wird sicher erwachen, wenn ein paar Hakenkreuzlümmel die gottgesegnete Kraft ihrer Arme an ihm erproben wollen. Ob dies gleiche Bewußtsein jedoch in ihm rege wird, wenn man seinen Chef so mitnimmt – wir können es nicht untersuchen. Es ist auch ein Irrtum der nationalistischen Theorie, daß wir den ganzen Tag ›als Deutscher‹, ›als Jude‹ etcetera herumlaufen. Der heutige Berufsmensch ist ganz anders fixiert. Überhaupt ist ›Volkstum‹ kein Begriff, mit dem sich viel anfangen läßt. Staat und Wirtschaft bestimmen das Schicksal des Einzelnen im weitesten Sinne und geben die Stichworte für die Trennung in Parteien, während der soziale Alltag die allgemein gültigen Denk- und Lebensformen prägt.« [11]
»Viel Finsternis, viel Wirrwarr und noch mehr unfreiwillige Komik« machte Ossietzky bei Stapel aus. Als »ein Humoristikum ganz großen Ranges« zitierte er dessen Interpretation von Heines »Loreley«: »Man gebe sich der Innovation des Satzes ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹ hin, sofort fahren uns die Worte in die Arme und zwingen uns zu einem Zucken der Achseln, während die Handflächen auseinandergehen: eine typisch jüdische Geste. Und der Schluß mit dem ›Ich glaube …‹ und dem ›und das hat mit ihrem Singen die Loreley getan‹ ist ein Musterbeispiel der jüdischen Sentimentalität, der Sentimentalität des schräg gehaltenen (ein wenig nach hinten geneigten) Kopfes mit dem verlorenen Blick, aus welcher Stellung der Jude sofort mit einem Sprung, mit einem Witzwort heraushupfen kann; denn diese Sentimentalität ist der Ironie benachbart, sie hat nicht das Schwerblütige der deutschen Sentimentalität.« [12]
Ohne die leiseste Noblesse schrieb Ossietzky voller Zorn und Verachtung ein Resümee, wobei in die abschließende Äußerung die tiefsitzende Verärgerung eines Gefängnisinsassen eingeflossen sein mag, dem in einem politisch motivierten Prozess die redliche Gesinnung abgesprochen worden war: »Diese literarischen Antisemiten müssen in einem argen Dilemma herumlaufen. Sie bewegen sich immer am Rande des Pogroms, sie naschen gleichsam davon, aber sie scheuen sich, so aktiv zu werden wie weniger intellektuell beschwerte Zeitgenossen. Warum so schüchtern, meine Herren? Geben Sie sich doch einen Ruck, entbinden Sie das Stück Pöbel in sich, das in jedem Antisemiten steckt! Nehmen Sie doch den Pferdeapfel auf, werfen Sie ihn dem jüdischen Mitbürger ins Gesicht und rufen Sie ›Saujud‹ hinter ihm her! Sie werden Erleichterung fühlen und, da wir in Deutschland leben, auch ein Gericht finden, das Ihrer bedrängten Seelenlage Verständnis entgegenbringt. Diese kleine Anstrengung befreit Sie von einem häßlichen, kotigen Stück Atavismus und enthebt Sie der unangenehmen Verpflichtung, Bücher zu schreiben, deren subjektive Redlichkeit nicht bezweifelt werden soll, die jedoch durch ihre verquollene Art durchaus geeignet sind, die allgemeine Verlogenheit in diesem Lande noch zu vergrößern.« [13]
[1] Carl von Ossietzky: »Sämtliche Schriften«, Rowohlt 1994, Art. 444, Z. 15 ff.; [2] Art. 166, Z. 7-30; [3] Art. 166, Z. 38-45; [4] Art. 873, passim; [5] Die Weltbühne vom 3.9.1929, Teil II S. 345 ff.; [6] Erstmals in der Weltbühne vom 6.12.1923, wieder abgedruckt in: Kurt Tucholsky: »Gesamtausgabe«, Rowohlt 1997 ff., Bd. 6, Art. 46, Z. 97 f.; [7] Art. 945, Z. 131-140; [8] Art. 1061, Z. 49-53; [9] Ebd., Z. 64-67; [10] Ebd., Z. 142-147; [11] Ebd., Z. 298-311; [12] Ebd., Z. 401-412; [13] Ebd., Z. 464-479