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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Inflation 1923 und heute

Als der Groß­va­ter des Autors die­ses Arti­kels, ein Mül­ler­mei­ster, vor eini­gen Jahr­zehn­ten starb, hin­ter­ließ er ihm unter ande­rem einen Geld­schein über »Eine Mil­li­ar­de« Reichs­mark, ver­knüpft mit dem Hin­weis: »Jun­ge, Geld ist nichts wert, Korn und Mehl ist das, was zählt«. Der Schein hängt bis heu­te bei uns in der Küche.

Ver­gli­chen mit den dama­li­gen Zei­ten scheint die heu­ti­ge Infla­ti­on gezähmt. Über­eilt sind aller­dings die Hoff­nun­gen, sie sei bereits am Aus­lau­fen. Die Preis­stei­ge­run­gen vor allem bei Lebens­mit­teln, Ener­gie und Mie­ten lie­gen für brei­te Volks­schich­ten auch jetzt noch über den Lohn­stei­ge­run­gen und noch deut­li­cher über den Lohn­er­satz­lei­stun­gen und Rentenerhöhungen.

Die Infla­ti­on von vor 100 Jah­ren ist untrenn­bar mit dem Ersten Welt­krieg ver­bun­den. Einer der bis heu­te bedeu­tend­sten Wirt­schafts­hi­sto­ri­ker deut­scher Spra­che, Hans Mot­tek, fass­te das in sei­ner »Wirt­schafts­ge­schich­te Deutsch­lands« so zusam­men: »Die im Krie­ge auf­ge­stau­te Kauf­kraft muss­te sich, obwohl die­ser Pro­zess bis zum Som­mer 1919 sich nur in den ersten Anfän­gen zeig­te, unter die­sen Bedin­gun­gen ele­men­tar Bahn bre­chen. Der Gegen­wert für die­se Kauf­kraft war bereits im Krie­ge durch die Rüstungs­wirt­schaft auf­ge­braucht. Der Geld- und Kapi­tal­markt ver­flüs­sig­te sich, das Rie­sen­ge­schäft mit der impe­ria­li­sti­schen Form der ›ursprüng­li­chen‹ Akku­mu­la­ti­on begann.«

Die­ses »Rie­sen­ge­schäft« war kein Resul­tat blin­der Markt­kräf­te. Es war – wie Mot­tek und ande­re aus­führ­lich gezeigt haben – eine poli­tisch beglei­te­te küh­le Aus­nut­zung die­ser Markt­me­cha­nis­men für das Pro­jekt, über eine »Infla­ti­ons­kon­junk­tur« die Kri­se des deut­schen Impe­ria­lis­mus nach sei­ner Nie­der­la­ge vom Novem­ber 1918 sowohl öko­no­misch als auch poli­tisch zu über­win­den. Dazu soll­ten die Kosten des impe­ria­li­sti­schen Krie­ges von 1914 bis 1918 auf die deut­sche Bevöl­ke­rung abge­wälzt und gleich­zei­tig die Schuld am Dar­ben den Sie­ger­mäch­ten in die Schu­he gescho­ben wer­den: »In wirt­schaft­li­cher Hin­sicht wur­de der Ver­trag von Ver­sailles von der Mono­pol­bour­geoi­sie benutzt, um die ent­ste­hen­den Lasten vor allem mit­tels des Infla­ti­ons­me­cha­nis­mus eben­so wie im Krie­ge auf die werk­tä­ti­gen Mas­sen abzu­wäl­zen.« Es zeich­ne­te sich nach Kriegs­en­de schnell ab, dass stei­gen­de Prei­se jenen, die dar­auf spe­ku­lier­ten, Geld in die Taschen spie­len wür­den: »Die spe­ku­la­ti­ven Käu­fe von Dol­lars und die spe­ku­la­ti­ven Käu­fe von Waren auf dem Inlands­markt (…) beruh­ten letzt­end­lich dar­auf, dass man mit einer Zuspit­zung der Infla­ti­on (…) rech­ne­te.« Bis zur Jah­res­wen­de 22/​23 ver­lief die­ser Pro­zess aus der Sicht der Herr­schen­den gut. Das Ergeb­nis der Infla­ti­ons­kon­junk­tur »war eine beschäf­tig­te, aber halb­ver­hun­ger­te Arbei­ter­klas­se, deren Real­löh­ne nied­rig gehal­ten wur­den«, und auf­grund der fal­len­den Wech­sel­kur­se der Mark zu fast allen ande­ren Wäh­run­gen eine regel­rech­te Export­of­fen­si­ve deut­scher Waren.

Im Jah­re 1923 geriet die­ser Pro­zess zuneh­mend außer Kon­trol­le und mün­de­te schließ­lich am 15. Novem­ber die­ses Jah­res in der Ein­füh­rung der »Ren­ten­mark«, durch die die alte Reichs­mark im Ver­hält­nis von 1 zu 1 Bil­li­on ent­wer­tet wur­de – und mit ihr alle Ver­mö­gens­wer­te, die noch auf Reichs­mark lau­te­ten. Die­ser Wäh­rungs­schnitt, der, wie kurz skiz­ziert, im Gegen­satz zu den wirk­li­chen Ursa­chen den Sie­ger­mäch­ten des I. Welt­krie­ges in die Schu­he gescho­ben wur­de, bil­de­te eine der Grund­la­gen für den fol­gen­den Auf­schwung faschi­sti­scher Massenparteien.

Der infla­tio­nä­re Schub, der sich ziem­lich genau ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter in West­deutsch­land ent­fal­te­te, hat bei allen histo­ri­schen Unter­schie­den und vor allem den, ver­gli­chen mit den 20er Jah­ren, gerin­ge­ren Infla­ti­ons­ra­ten eine Rei­he von Par­al­le­len. Er hängt in sei­nen Ursa­chen nicht nur auch mit einem Krieg zusam­men, dem Viet­nam-Krieg. Er zeigt auch die Kom­bi­na­ti­on zwi­schen der Schwä­che revo­lu­tio­nä­rer Kräf­te und der Hilf­lo­sig­keit der über die Regie­rung ein­ge­bun­de­nen Gewerk­schafts­füh­rung, die letzt­lich dazu führt, dass es zur Ein­kom­mens­sta­gna­ti­on oder zu einem Real­lohn­ver­lust der von Löh­nen und Lohn­er­satz­lei­stun­gen abhän­gi­gen Bevöl­ke­rung kommt.

Damals wie heu­te zeigt sich die Not­wen­dig­keit, die Regie­rung als Teil des Geg­ners und nicht etwa als Part­ner zu sehen, um in Infla­ti­ons­zei­ten wenig­stens Real­lohn­si­che­rung zu errei­chen. Wer­ner Cies­lak aus Wan­ne-Eickel, damals Sekre­tär beim Par­tei­vor­stand der DKP, kon­sta­tier­te am Ende des Jah­res 1973, dass letzt­lich die­ser »gro­ße Druck, der von einer sozi­al­de­mo­kra­tisch geführ­ten Bun­des­re­gie­rung aus­geht« (Mar­xi­sti­sche Blät­ter, 6/​1973, S. 1), Abschlüs­se zur Real­lohn­si­che­rung ver­hin­dert hät­te. Er ver­weist aber dar­auf, dass es häu­fig gleich nach den Tarif­ab­schlüs­sen wie­der zu neu­en Streik- und ande­ren Kampf­maß­nah­men kam, als sich abzeich­ne­te, dass die Ver­spre­chun­gen auf ein Abflau­en der Infla­ti­on nicht hielten.

Bei allen Unter­schie­den in den Dimen­sio­nen zwi­schen 1923 und 2023 bleibt es dabei: In sei­ner impe­ria­li­sti­schen Pha­se ver­knüpft sich die Infla­ti­on eng mit der Fra­ge des Krie­ges. Gro­ße Krie­ge – vor allem, wenn sie ver­lo­ren gehen – füh­ren zu gro­ßer Infla­ti­on, klei­ne­re zu klei­ne­rer. Infla­ti­on ist öko­no­misch ein idea­les Instru­ment, um Kriegs­fol­gen auf die Mas­sen der abhän­gig Beschäf­tig­ten abzu­wäl­zen, und ideo­lo­gisch ein idea­les Instru­ment, um die Schuld auf ande­re Staa­ten zu übertragen.

Der Kampf gegen Teue­rung und Infla­ti­on kann nur geführt wer­den als Ein­heit des öko­no­mi­schen mit dem ideo­lo­gi­schen Klas­sen­kampf, um die Erzäh­lung der Lohn-Preis-Spi­ra­le als Lüge zu ent­lar­ven, und des poli­ti­schen Klas­sen­kamp­fes, um zu ver­hin­dern, dass sich Sät­ze wie »Schuld dar­an ist der Ver­sailler Ver­trag« oder »Schuld dar­an ist Putin« in Mil­lio­nen von Hir­nen festsetzen.

Zen­tral für erfolg­rei­che Kämp­fe ist die Ver­brei­tung des Bewusst­seins, dass die Regie­rung die­ses Staa­tes nie­mals auf der Sei­te der abhän­gig Beschäf­tig­ten, son­dern – hin­ter wie­viel Nebel­wän­den auch immer ver­bor­gen – immer auf der Sei­te des Kapi­tals steht, das bestrebt ist, mit­tels der Infla­ti­on Lasten auf den Schul­tern der abhän­gig Beschäf­tig­ten und Ren­ten­be­zie­her abzuladen.

Der Kampf gegen die Infla­ti­on kann, wenn er den öko­no­mi­schen, ideo­lo­gi­schen und poli­ti­schen Klas­sen­kampf gut mit­ein­an­der ver­bin­det, Zugän­ge für die Stär­kung revo­lu­tio­nä­rer Kräf­te aus Tei­len der Bevöl­ke­rung öff­nen, die sonst kei­nen Zugang zu den ent­spre­chen­den Par­tei­en finden.

 Die Marx-Engels-Stif­tung führt am Sams­tag, den 18. Novem­ber 2023 ab 10 Uhr im Frei­zeit­heim Lin­den in Han­no­ver ein Tages­se­mi­nar mit dem Titel »100 Jah­re nach der gro­ßen Infla­ti­on: Droht eine Neu­auf­la­ge?« mit Prof. Dr. Klaus Mül­ler als Haupt­re­fe­ren­ten durch – nähe­re Infor­ma­tio­nen unter www.marx-engels-stiftung.de.