Als der Großvater des Autors dieses Artikels, ein Müllermeister, vor einigen Jahrzehnten starb, hinterließ er ihm unter anderem einen Geldschein über »Eine Milliarde« Reichsmark, verknüpft mit dem Hinweis: »Junge, Geld ist nichts wert, Korn und Mehl ist das, was zählt«. Der Schein hängt bis heute bei uns in der Küche.
Verglichen mit den damaligen Zeiten scheint die heutige Inflation gezähmt. Übereilt sind allerdings die Hoffnungen, sie sei bereits am Auslaufen. Die Preissteigerungen vor allem bei Lebensmitteln, Energie und Mieten liegen für breite Volksschichten auch jetzt noch über den Lohnsteigerungen und noch deutlicher über den Lohnersatzleistungen und Rentenerhöhungen.
Die Inflation von vor 100 Jahren ist untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden. Einer der bis heute bedeutendsten Wirtschaftshistoriker deutscher Sprache, Hans Mottek, fasste das in seiner »Wirtschaftsgeschichte Deutschlands« so zusammen: »Die im Kriege aufgestaute Kaufkraft musste sich, obwohl dieser Prozess bis zum Sommer 1919 sich nur in den ersten Anfängen zeigte, unter diesen Bedingungen elementar Bahn brechen. Der Gegenwert für diese Kaufkraft war bereits im Kriege durch die Rüstungswirtschaft aufgebraucht. Der Geld- und Kapitalmarkt verflüssigte sich, das Riesengeschäft mit der imperialistischen Form der ›ursprünglichen‹ Akkumulation begann.«
Dieses »Riesengeschäft« war kein Resultat blinder Marktkräfte. Es war – wie Mottek und andere ausführlich gezeigt haben – eine politisch begleitete kühle Ausnutzung dieser Marktmechanismen für das Projekt, über eine »Inflationskonjunktur« die Krise des deutschen Imperialismus nach seiner Niederlage vom November 1918 sowohl ökonomisch als auch politisch zu überwinden. Dazu sollten die Kosten des imperialistischen Krieges von 1914 bis 1918 auf die deutsche Bevölkerung abgewälzt und gleichzeitig die Schuld am Darben den Siegermächten in die Schuhe geschoben werden: »In wirtschaftlicher Hinsicht wurde der Vertrag von Versailles von der Monopolbourgeoisie benutzt, um die entstehenden Lasten vor allem mittels des Inflationsmechanismus ebenso wie im Kriege auf die werktätigen Massen abzuwälzen.« Es zeichnete sich nach Kriegsende schnell ab, dass steigende Preise jenen, die darauf spekulierten, Geld in die Taschen spielen würden: »Die spekulativen Käufe von Dollars und die spekulativen Käufe von Waren auf dem Inlandsmarkt (…) beruhten letztendlich darauf, dass man mit einer Zuspitzung der Inflation (…) rechnete.« Bis zur Jahreswende 22/23 verlief dieser Prozess aus der Sicht der Herrschenden gut. Das Ergebnis der Inflationskonjunktur »war eine beschäftigte, aber halbverhungerte Arbeiterklasse, deren Reallöhne niedrig gehalten wurden«, und aufgrund der fallenden Wechselkurse der Mark zu fast allen anderen Währungen eine regelrechte Exportoffensive deutscher Waren.
Im Jahre 1923 geriet dieser Prozess zunehmend außer Kontrolle und mündete schließlich am 15. November dieses Jahres in der Einführung der »Rentenmark«, durch die die alte Reichsmark im Verhältnis von 1 zu 1 Billion entwertet wurde – und mit ihr alle Vermögenswerte, die noch auf Reichsmark lauteten. Dieser Währungsschnitt, der, wie kurz skizziert, im Gegensatz zu den wirklichen Ursachen den Siegermächten des I. Weltkrieges in die Schuhe geschoben wurde, bildete eine der Grundlagen für den folgenden Aufschwung faschistischer Massenparteien.
Der inflationäre Schub, der sich ziemlich genau ein halbes Jahrhundert später in Westdeutschland entfaltete, hat bei allen historischen Unterschieden und vor allem den, verglichen mit den 20er Jahren, geringeren Inflationsraten eine Reihe von Parallelen. Er hängt in seinen Ursachen nicht nur auch mit einem Krieg zusammen, dem Vietnam-Krieg. Er zeigt auch die Kombination zwischen der Schwäche revolutionärer Kräfte und der Hilflosigkeit der über die Regierung eingebundenen Gewerkschaftsführung, die letztlich dazu führt, dass es zur Einkommensstagnation oder zu einem Reallohnverlust der von Löhnen und Lohnersatzleistungen abhängigen Bevölkerung kommt.
Damals wie heute zeigt sich die Notwendigkeit, die Regierung als Teil des Gegners und nicht etwa als Partner zu sehen, um in Inflationszeiten wenigstens Reallohnsicherung zu erreichen. Werner Cieslak aus Wanne-Eickel, damals Sekretär beim Parteivorstand der DKP, konstatierte am Ende des Jahres 1973, dass letztlich dieser »große Druck, der von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung ausgeht« (Marxistische Blätter, 6/1973, S. 1), Abschlüsse zur Reallohnsicherung verhindert hätte. Er verweist aber darauf, dass es häufig gleich nach den Tarifabschlüssen wieder zu neuen Streik- und anderen Kampfmaßnahmen kam, als sich abzeichnete, dass die Versprechungen auf ein Abflauen der Inflation nicht hielten.
Bei allen Unterschieden in den Dimensionen zwischen 1923 und 2023 bleibt es dabei: In seiner imperialistischen Phase verknüpft sich die Inflation eng mit der Frage des Krieges. Große Kriege – vor allem, wenn sie verloren gehen – führen zu großer Inflation, kleinere zu kleinerer. Inflation ist ökonomisch ein ideales Instrument, um Kriegsfolgen auf die Massen der abhängig Beschäftigten abzuwälzen, und ideologisch ein ideales Instrument, um die Schuld auf andere Staaten zu übertragen.
Der Kampf gegen Teuerung und Inflation kann nur geführt werden als Einheit des ökonomischen mit dem ideologischen Klassenkampf, um die Erzählung der Lohn-Preis-Spirale als Lüge zu entlarven, und des politischen Klassenkampfes, um zu verhindern, dass sich Sätze wie »Schuld daran ist der Versailler Vertrag« oder »Schuld daran ist Putin« in Millionen von Hirnen festsetzen.
Zentral für erfolgreiche Kämpfe ist die Verbreitung des Bewusstseins, dass die Regierung dieses Staates niemals auf der Seite der abhängig Beschäftigten, sondern – hinter wieviel Nebelwänden auch immer verborgen – immer auf der Seite des Kapitals steht, das bestrebt ist, mittels der Inflation Lasten auf den Schultern der abhängig Beschäftigten und Rentenbezieher abzuladen.
Der Kampf gegen die Inflation kann, wenn er den ökonomischen, ideologischen und politischen Klassenkampf gut miteinander verbindet, Zugänge für die Stärkung revolutionärer Kräfte aus Teilen der Bevölkerung öffnen, die sonst keinen Zugang zu den entsprechenden Parteien finden.
Die Marx-Engels-Stiftung führt am Samstag, den 18. November 2023 ab 10 Uhr im Freizeitheim Linden in Hannover ein Tagesseminar mit dem Titel »100 Jahre nach der großen Inflation: Droht eine Neuauflage?« mit Prof. Dr. Klaus Müller als Hauptreferenten durch – nähere Informationen unter www.marx-engels-stiftung.de.