Manchmal ist es wohltuend, einen Roman zu lesen, der ganz nach »alter Art und Weise« geschrieben ist. Wer Bernd Sikoras »Siebenhöfen« zur Hand nimmt, wird sich erinnert fühlen an umfängliche Romane, welche die Entwicklung und Bildung eines Menschen vorführen. Das ist hier die fiktive Gestalt Carl Steiner, Steinmetzlehrling. Es ist reizvoll, diese erfundene Figur mit Menschen konfrontiert zu sehen, die es wirklich gegeben hat. Steiner wird hineingestellt in den Beginn des Industriezeitalters im Erzgebirge, im Jahre 1813, erlebt den Bau eines palastartig en Spinnereibetriebes in Siebenhöfen, errichtet von Baumeister Lohse für den aus England stammenden Maschinenbauer Evan Evans. Der künstlerisch begabte Carl Steiner verlässt das ihm eng werdende Erzgebirge, geht nach Leipzig an die Kunstakademie, gerät später in die Kunstszene in Rom. Der Autor weitet so die Geschichte seines Helden und der Anfänge des Industriezeitalters zum Panorama von Kunst und Politik jener Jahre. Das ist gewiss faszinierend, markiert aber auch eine Schwäche des Romans. Denn die fesselnde und ungemein viel Neues bietende Erzählung von der Industrialisierung Sachsens verliert sich im zweiten Teil in Schilderungen, wie man sie bereits zu kennen meint, bis hin zur Räuberpistole. Da wird mitunter überzogen, der spannende Ansatz »Siebenhöfen« gerät etwas aus dem Blick.
Es ist zu bewundern, wie viel historischen Hintergrund der Autor aufzubieten vermag. Auch Wissen über Architektur, Malerei, Musik und Regionalgeschichte. Zuweilen jedoch hätte etwas mehr Mut zur Kürze dem Roman gutgetan, manche Schilderungen ufern aus, die Darstellungen sexueller Erfahrungen des Protagonisten wirken mitunter wenig souverän, beim Gebrauch und bei der Schreibung von Anredepronomina geht es drunter und drüber.
Leseempfehlung? Ja, unbedingt für den, der wissen will, wie Anfang des 19. Jahrhunderts die Industriewelt entstand, in der wir heute leben. Und leider verschwinden deren Anfangszeugnisse immer mehr, weil der mit ihr in die Welt gekommene Gedanke ausschließlicher Nützlichkeit deren Erhaltung verhindert. Ein Schreibanlass für Sikora war der Abriss des letzten im Erzgebirge komplett erhaltenen Fabrikgebäudes, das einst in »Palastarchitektur« gebaut worden war. So wird wenigstens mit Worten etwas erhalten, das aus unseren Augen verschwindet.
Bernd Sikora: »Siebenhöfen«, Mitteldeutscher Verlag, 303 Seiten, 20 €