Es ist sicherlich ein großer Fortschritt, dass in der Moderne Wert und Praxis der Individualität, d. h. der Einzigartigkeit menschlicher Persönlichkeiten und ihre diversen Lebensweisen, erheblich zugenommen haben. Dafür sind die heutigen, oft multiethnischen und multinationalen Sozialisationsgeschichten vieler Menschen verantwortlich sowie die vielfältigen Bildungswege und Arbeitsbiografien im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, mindestens in den entwickelten Industriestaaten. Das ist ein Schatz an Subjektivität, der das Potenzial hat, eigenständiges Denken und Handeln zu stärken und der Untertänigkeit, dem Kadavergehorsam voriger Jahrhunderte, in vielfältiger Beziehung entgegenzuwirken.
Die Kehrseite dieser Entwicklungen ist allerdings eine zunehmende Abkapslung vieler Menschen, die sich privat und gesellschaftlich häufig in atomisierten »Blasen« bewegen. Eine erschreckende Entfremdung zwischen den Menschen hat sich vor allem in den anonymen Megastädten breit gemacht. Das beruht hauptsächlich auf der Funktionsweise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wo ein jeder zusehen muss, wie er im Konkurrenzkampf seine eigene Existenz sichert, oft in erbitterten Konflikten, jeder gegen jeden »Mitbewerber«, was durch die sogenannten »Arbeitgeber« auch noch ständig befördert wird. Der Mensch als Ware auf dem Arbeitsmarkt lässt grüßen! Was in der frühen Arbeiterbewegung durch die kollektiv arbeitenden Handwerksbetriebe und in den großen Fabriken, in der die meisten Lohnabhängigen tätig waren, noch zu einem stärkeren Miteinander geführt haben mag, ist durch die heutige, oft digitale Dienstleitungs- und Konsumgesellschaft, schon gar mit »Homeoffice«, vielfach verloren gegangen. Das fördert Ichbezogenheit, Egoismus, sogar Autismus und vor allem eine gefährliche Entpolitisierung. Denn diese hier nur angedeuteten Entfremdungen haben verheerende Konsequenzen für den Zustand und die Weiterentwicklung der politischen Kultur.
Wer sich dem entgegenstellt und entschließt, in zivilgesellschaftlichen Organisationen, gar in politischen Parteien mitzuarbeiten, mit dem Anliegen, sich stärker für das Gemeinwohl einzusetzen, läuft oft weitgehend ins Leere, ist häufig ohnmächtig auf die eigene individuelle »Blase« zurückgeworfen. Er oder sie ist blockiert, um sich als Zoon politikon zu betätigen, als »soziales und politisches Lebewesen«, wie es schon Aristoteles für die griechische Polis genial definierte. Aber auch damals galt das alles bekanntlich nicht für Sklaven und Frauen.
Was tun, um etwa in der sogenannten repräsentativen Demokratie, die bereits im 19. Jahrhundert zurecht als »Herrschaft der Wenigen« und nicht als »Herrschaft der Besten« definiert wurde, dennoch eine Rolle als Zoon politikon zu spielen und Teilhaber einer wirklichen Volksherrschaft zu werden? Es herrscht hier ein substanzieller Mangel, eine existenzielle Leerstelle: Eine Lebenspraxis der Ohnmacht macht uns Tag und Nacht klein und lässt uns inhuman, oft mit Selbst- und Fremdhass kombiniert, »privatisieren« und verspießern. Jeder lebt und stirbt letztlich für sich allein, die gepriesene Individualität wird zur existenziellen Falle.
Was mir in dieser Gesellschaft, dem angeblichen »Wertewesten«, schmerzhaft fehlt, ist der soziale Zusammenhalt: die Konsens bildende, überzeugende gesellschaftliche Vision einer post-kapitalistischen Gesellschaft, mit folgenden zukunftsweisenden Essentials: dass Aufrüstung und Kriege keine Wege zum Frieden eröffnen, sondern das genaue Gegenteil davon bewirken; dass soziale Spaltung die Hauptursache dafür ist, wenn universelle Menschenrechte nicht verwirklicht werden können; das Wirtschaftswachstum, um seiner selbst willen, zwar Profit für wohlhabende Minderheiten und eventuell noch für Mittelschichten abwirft, aber unsere natürlichen Lebensgrundlagen dadurch vernichtet werden; dass bessere Bildungschancen für Kinder und Jugendliche aus betuchten Familien soziale Spaltung und Entfremdung lebenslang zementieren; dass Medien, in denen sich die herrschende Klasse streitet oder unterhält, für die Mehrheit der Menschen verschlossen bleiben; dass politische Parteien, die nur alle vier Jahre um Wählerstimmen werben, nicht wirklich in der Bevölkerungsmehrheit demokratisch verankert sind
Das alles führt auch dazu, dass in den Parteien nicht die Kompetentesten, sondern die Karrieristen das Sagen haben. Zudem erzeugt der fragile Sozialstaat eine weitere soziale Unsicherheit. Wer mit der Finanzierung der Wohnung, der eigenen Kindern, der Gesundheitsfürsorge, der Rente usw. nicht hinkommt, der kann sich schon gar nicht als soziales und politisches Wesen einbringen, sondern erstickt in privaten Existenzsorgen. Diese Ohnmacht führt dazu, dass Menschen sich von der Politik abwenden, oder sich gar den rechten Rattenfängern zuwenden, die ihnen verlogene und demagogische Heilsversprechungen machen.
Der jetzige Gesellschaftszustand erzeugt so nur eine mehr oder weniger feindselige Egomanen-Gesellschaft. Da helfen auch nicht ein paar Demonstrationen auf den Straßen gegen rechts, wenn der Kampf gegen die außen- und innenpolitischen Ursachen der grassierenden Entfremdungen zwischen Regierenden und Regierten nicht im Mittelpunkt der politischen Forderungen steht und zu grundlegenden Gesellschaftsveränderungen führt. Wir benötigen dringend ein neues kollektives Gesellschaftsbewusstsein, entsprechend der UN-Charta, das auf der Durchsetzung 1. der Gebote des Menschenrechts auf Abrüstung und Frieden, 2. aller sozialen Menschenrechte, 3. der Umweltmenschenrechte und 4. der politischen Menschenrechte basiert, in der wir wirklich, als soziale und politische Wesen, humanisierend am Gemeinwohl mitwirken können.
Vom Autor ist in diesen Tagen erschienen: Barbarei oder Sozialismus? Eine politische Navigation, Vergangenheitsverlag, Berlin 2024, 90 S., 10 €.