Dieter S. Lutz hat die Friedensforschung in Deutschland maßgeblich geprägt. Sein interdisziplinäres Verständnis war und ist beispielgebend. Medienpräsente Friedens- und Konfliktforscher/innen heute ignorieren seine Erkenntnisse. Neben solcher Missachtung hat der Generationenwandel den zunehmenden Einfluss von Ideologien auf deutsche Friedensforschungsinstitute erleichtert, »Sicherheit« auf Militarisierung, Abschreckung und Aufrüstung zu stützen. Umso wichtiger ist es, sich an Dieter S. Lutz und seine Überlegungen zu erinnern und sie fortzuschreiben.
Am 5. Oktober 2001 hielt Dieter S. Lutz, Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Hamburger Universität, einen wegweisenden Vortrag über »Die verwundbare Zivilisation – Friedensperspektiven nach den Terrorakten in den USA von 9/11«. Er zeigt auf, wozu der Mensch in der Lage ist, wenn er nicht mit Vernunft auf Gewalteinsatz reagiert, und vor allem, wenn er zuvor nicht mit vorbeugenden Maßnahmen verhindert, Konfliktlösungen kriegerisch, statt in Verhandlungen herbeizuführen, oder gar die Konflikte vorsätzlich in Kauf genommen hat. Darüber haben Kanzler Scholz und die Medien zuletzt ein Rede- und Sendeverbot verordnet. Die Kriege um die Ukraine, Israel und Gaza, Libanon und Jordanien sind nur letzte Beispiele. Und vor allem zeigt er, was nötig ist, um eine Friedensordnung aufzubauen.
Gerade in den schlimmen Zeiten, die unsere Welt aktuell schwer erschüttern, wo Kriegstreiber und Kriegswillige die multiplem Krisenlagen noch verschärfen, zum gewaltigen Zurückschlagen aufrufen, sind Vernunft, Besonnenheit und ein Denken vom Frieden her für das Überleben der Menschheit nötig – und nicht militaristisches Geifern à la Strack-Zimmermann. Es gibt andere Antworten als uns die heute als »Sicherheitsexperten« ausgegebenen Personen geben, die der massiven Aufrüstung, der Rüstungsindustrie und endlosen Kriegsführung das Wort reden.
Während plurale Meinungsbildung durch den Aufmarsch der »Experten« für Sicherheit stark eingeschränkt ist, hat Dieter S. Lutz unterschiedliche Persönlichkeiten zu Wort kommen lassen. Von Lanz, Strack-Zimmermann, von Anton Gerhard »Toni« Hofreiter, oder dem dauerhaft persönlich-betroffen reagierenden Michael Roth würden selbst Personen wie der konservative »Ruckredner« Bundespräsident Roman Herzog abgekanzelt. Herzog äußerte sich am 18. September 1996 zum 25-jährigen Bestehen des Hamburger Friedensforschungsinstituts: »Der Krieg, der in der Geschichte der Menschheit immer ein Unglück war, ist in den vergangenen Jahrzehnten (…) ein immer größeres Unglück geworden.«
Und er meinte nicht nur die Jahre des Kalten Kriegs, des nuklearen Abschreckungssystems, sondern auch die Jahre nach der sogenannten »Zeitenwende« von 1989/90 – ein Jahr nach Dayton, dem Abkommen, das den Krieg in Jugoslawien beenden sollte. Der Vertrag liegt zweieinhalb Jahre vor dem Kosovo-Krieg der Nato, der Völkermord und humanitäre Katastrophe verhindern sollte, fünf Jahre von dem Eingreifen der Nato in Mazedonien und den Terroranschlägen vom 11. September in den USA, hob Lutz hervor.
Krieg und Gewalt lagen schon damals im »Trend« – in Europa und jenseits seiner Grenzen. Mitten in Europa herrschte Krieg, er kommt in verschiedensten Formen wieder zurück, und er wird blutig und barbarisch geführt, wie es »für Europa nicht mehr vorstellbar schien«. Lutz verweist auf David Rieffs bereits 1995 erschienenes Buch mit dem Titel »Schlachthaus. Bosnien und das Versagen des Westens«. Rieff schildert darin seine Erlebnisse in den bosnischen Kriegszentren. Bosnien war ein Schlachthaus geworden. »Wenn Europa, die USA und die Vereinten Nationen es wirklich gewollt hätten, wäre der Vernichtungskrieg zu verhindern gewesen«, stellt der Hamburger Friedensforscher fest. Für seine Aussagen würde er heute niedergemacht. Der Kalte Krieg, der mehrere Male in einer Tragödie zu enden drohte, wird heute von Anhängern der neuen Abschreckungsdoktrin, wie damals, täuschend mit dem Wort »Sicherheit« versehen, erneut heraufbeschworen und der Öffentlichkeit eingeredet.
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien wäre zu verhindern gewesen, glaubte der Friedensforscher, wenn nur, ja, wenn die Erklärung der Charta von Paris vom November 1990 umgesetzt worden wäre, die feierlich verkündete: »Nun ist die Zeit gekommen, (…) Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen: Wohlstand und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.« Heute, elf Jahre später, so Lutz, seien sie verflogen, weil die Politiker sich scheuen, sich den langfristig drohenden Trends entgegenzustellen. Man habe substanziell von den Beschlüssen der Weltumweltkonferenz in Rio 1992 nichts gelernt. Diese Trends waren schon zur Zeit seines Vortrags, 2001, seit Jahren bekannt, wurden aber nicht oder nicht ausreichend bekämpft.
Die Folgen und Krisen würden seit Jahrzehnten nicht mehr linear verlaufen, sondern exponentiell, und zur exponentiellen Entwicklung komme die multidimensionale Komplexität. Die Erde aber zerbreche allein unter dem Gewicht der Überbevölkerung, verhungert, verdurstet, Menschen ersticken im Müll, an Abfall- und Schadstoffen, ertrinken in Sintfluten. »Der mögliche Weltuntergang schließlich ist nicht nur das immer schon in Kauf genommene nukleare Inferno.« Ergo, aus all dem hier nur Angedeuteten schlussfolgerte Dieter S. Lutz, dass Amerika und Deutschland grundsätzlich verwundbar seien, weshalb die Priorität bei rechtlichen und politischen Mitteln liegen müsse und nicht bei Terror und Krieg, Destruktion und Vernichtung. Um den militärischen Konfrontationen mit katastrophalen Ausgängen zu entgehen, habe man sich einigen können, Entspannungspolitik, Abrüstungsverträge und Konfliktbeilegung durch rechtliche Regelungen zunehmend als Konzeption Gemeinsamer Sicherheit zu verstehen. Die Kultur des Dialogs und der Partnerschaft zu etablieren, mit dem glücklichen Ausgang des Ost-West-Konfliktes 1989/90. Doch der »siegreiche ›Westen‹ ließ diese Chance ungenutzt verstreichen. (…) Die ›mächtigste Militärallianz aller Zeiten‹ fing an, nach und nach ihre zivile Konkurrenz, die OSZE, ›wegzubeißen‹ und (…) auch die Vereinten Nationen zurückzudrängen. Kriegsverhütung als Doktrin wurde aufgegeben, und die Verteidigungskräfte, einschließlich Bundeswehr, wurden bzw. werden zu Einsatzarmeen umgebaut.«
Weil die Politik ihre Verantwortung nicht wahrgenommen hat, soll heute wieder verteidigt und aufgerüstet werden? Ob es für den Zukunftsrat, einem von Lutz geplanten Expertenparlament, noch eine Chance gibt, scheint angesichts autoritärer Verhärtung der Bundesrepublik und starkem rechten und völkischem Gegenwind leider mehr als fraglich.