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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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In grenzenlosem Hass vereint

Ana­tol France (1844-1924) war Anfang des 20. Jahr­hun­derts in Frank­reich eine lite­ra­ri­sche Auto­ri­tät. Für sein viel gerühm­tes Gesamt­werk – ich selbst habe »Die Göt­ter dür­sten« (1912) und »Auf­stand der Engel« (1914) gele­sen – erhielt er 1921 den Lite­ra­tur­no­bel­preis. Zusam­men mit Emi­le Zola hat­te er in den 1890er Jah­ren aus Anlass des Justiz­skan­dals, in des­sen Mit­tel­punkt der aus dem Elsass stam­men­de jüdi­sche Artil­le­rie-Haupt­mann Alfred Drey­fus stand, sei­ne Stim­me erho­ben gegen Justiz­irr­tum und Rechts­beu­gung in die­ser Affäre.

1919 mahn­te France Gesell­schaft und Poli­tik erneut: »Mit­ten im zivi­li­sier­ten Euro­pa, am Anbruch der neu­en Ära, für die die Welt ihre Char­ta von Frei­heit und Gerech­tig­keit erwar­tet, ist die Exi­stenz einer gan­zen Volks­grup­pe bedroht. Sol­che Ver­bre­chen ent­eh­ren nicht nur jene, die sie bege­hen, sie belei­di­gen die Ver­nunft und das Gewis­sen aller Menschen.«

Jef­frey Veid­lin­ger, Pro­fes­sor für Geschich­te und Juda­istik an der Uni­ver­si­ty of Michi­gan, hat in die­sem Zitat den Titel sei­nes neue­sten Buches gefun­den. In »Mit­ten im zivi­li­sier­ten Euro­pa« beschreibt er einen bis­her wenig bekann­ten und erforsch­ten Vor­gang, auf den Ana­tol France – ziem­lich ver­geb­lich, darf man in der Rück­schau sagen – die Öffent­lich­keit auf­merk­sam zu machen ver­sucht hat­te: die Pogro­me von 1918 bis 1921 an der jüdi­schen Bevöl­ke­rung in der Ukrai­ne, für Veid­lin­ger »die Vor­ge­schich­te des Holocaust«.

Anhand von »lan­ge ver­nach­läs­sig­tem Archiv­ma­te­ri­al«, wie zum Bei­spiel dem 1924 ent­stan­de­nen Gedenk­buch Churbn Pros­kur­ov über die Zer­stö­rung der Stadt Pros­ku­riv (heu­te: Chmel­nyz­kyj) im Westen der Ukrai­ne, zeigt er auf, dass die Juden schon damals »mit­ten im zivi­li­sier­ten Euro­pa in aku­ter Gefahr waren, ver­nich­tet zu wer­den« und dass »ganz Euro­pa davon wusste«.

Die Zer­stö­rung der Stadt ereig­ne­te sich am 15. Febru­ar 1919 und somit gera­de drei Mona­te nach dem Waf­fen­still­stand vom 11. Novem­ber 1918, der den Ersten Welt­krieg been­de­te. Am Nach­mit­tag jenes Febru­ar-Tages, schreibt Veid­lin­ger, »ermor­de­ten ukrai­ni­sche Sol­da­ten über 1000 jüdi­sche Zivi­li­sten in der bis dahin viel­leicht mör­de­risch­sten Epi­so­de, die dem jüdi­schen Volk in sei­ner lan­gen Geschich­te der Unter­drückung zuge­sto­ßen war«.

Veid­lin­ger zeigt das Aus­maß der Gewalt­ta­ten auf. Zwi­schen Novem­ber 1918 und März 1921 sei­en wäh­rend des Bür­ger­kriegs, der auf den Ersten Welt­krieg folg­te, »über 1000 anti­jü­di­sche Unru­hen und Mili­tär­ak­tio­nen – bei­de wur­den meist als Pogrom bezeich­net – an über 500 unter­schied­li­chen Orten auf dem Gebiet doku­men­tiert, das heu­te zur Ukrai­ne gehört«. Die Zah­len der Opfer sind umstrit­ten, Veid­lin­ger schreibt, dass »nach einer vor­sich­ti­gen Schät­zung« etwa 40 000 Juden direkt bei den Unru­hen und wei­te­re 70 000 an den Fol­gen der Angrif­fe star­ben. Mil­lio­nen Juden flüch­te­ten inner­halb des Lan­des, 600 000 in ande­re Län­der, wo ihnen zuneh­mend alles ande­re als eine Auf­nah­me mit offe­nen Armen widerfuhr.

Der Bür­ger­krieg im Anschluss an die kurz nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on von 1917 erfolg­te Aus­ru­fung einer auto­no­men Ukrai­ni­schen Volks­re­pu­blik inner­halb der Rus­si­schen Sowjet­re­pu­blik mit Kiew als Haupt­stadt wur­de anfäng­lich zwi­schen der Armee der Volks­re­pu­blik und rus­si­schen sowie ukrai­ni­schen Roten Gar­den geführt. Aus geo­stra­te­gi­schen bzw. ter­ri­to­ria­len Gelü­sten und aus ideo­lo­gi­schen Grün­den betei­lig­ten sich, so lese ich bei Wiki­pe­dia, schon ab Früh­jahr 1918 fran­zö­si­sche, öster­rei­chi­sche, pol­ni­sche, könig­lich grie­chi­sche und könig­lich rumä­ni­sche Trup­pen und bis zur Novem­ber­re­vo­lu­ti­on auch Trup­pen des deut­schen Kai­ser­reichs an der Aus­ein­an­der­set­zung, die sich zum Pol­nisch-Sowje­ti­schen Krieg auf dem Gebiet der Ukrai­ne aus­wei­te­te. Nach dem Frie­dens­ver­trag von Riga, der die­sen Krieg been­de­te, wur­de die Ukrai­ne erneut auf­ge­teilt. Tei­le der West­ukrai­ne kamen zu Polen, das rest­li­che Gebiet und die Krim fie­len an die UdSSR und wur­den zur Ukrai­ni­schen Sozia­li­sti­schen Sowjetrepublik.

Die jüdi­sche Bevöl­ke­rung war in all den Bür­ger­kriegs­wir­ren, in der unüber­sicht­li­chen Gemenge­la­ge »zwi­schen die Mühl­stei­ne« gera­ten. Zwar hat­te es schon frü­her im Zaren­reich Pogro­me gege­ben, der Schrift­stel­ler Gerd Fuchs erzählt in sei­nem Roman Die Aus­wan­de­rer die Geschich­te eines Uhr­ma­chers, der mit Frau und Kind in letz­ter Sekun­de einem Pogrom in Russ­land ent­kam und nach gelun­ge­ner Flucht in Ham­burg ein Aus­wan­de­rer­schiff in die Neue Welt bestieg. Auch war es nicht die erste Pogrom­wel­le in die­ser Regi­on, »aber ihr Umfang stell­te frü­he­re Gewalt­aus­brü­che in den Schat­ten in Bezug auf das Täter­spek­trum, die Zahl der Opfer und den Grad der Grau­sam­keit« (Veid­lin­ger).

»Ukrai­ni­sche Bau­ern, pol­ni­sche Stadt­be­woh­ner und rus­si­sche Sol­da­ten beraub­ten unge­straft ihre jüdi­schen Nach­barn und stah­len ihnen, was sie für ihren recht­mä­ßi­gen Besitz hiel­ten. Mit Zustim­mung und Unter­stüt­zung gro­ßer Tei­le der Bevöl­ke­rung ris­sen Bewaff­ne­te jüdi­schen Män­nern die Bär­te aus, zer­ris­sen Tho­ra­rol­len, ver­ge­wal­tig­ten jüdi­sche Frau­en und Mäd­chen und fol­ter­ten häu­fig jüdi­sche Ein­woh­ner, bevor sie sie auf Markt­plät­zen ver­sam­mel­ten, an den Stadt­rand trie­ben und erschos­sen. Min­de­stens ein­mal schlos­sen auf­stän­di­sche Kämp­fer Juden in einer Syn­ago­ge ein und brann­ten das Gebäu­de nieder.«

Char­kiw, Cher­son, Donezk, Don­bass, Kiew, Mariu­pol, Odes­sa, Pol­ta­wa, Pros­ku­riv, Win­nyz­ja – Namen, die wir heu­te fast täg­lich in den Nach­rich­ten lesen oder hören. Auf der dama­li­gen Land­kar­te der Ukrai­ne ste­hen sie für die Pogro­me und ver­deut­li­chen, dass sich die­se durch das gan­ze Land zogen: je wei­ter nach Westen, umso zahl­rei­cher die Opfer, dies gilt vor allem für den Groß­raum Kiew. Veid­lin­ger zitiert aus einem »umfas­sen­den Bericht des rus­si­schen Roten Kreu­zes« vom Anfang der 1920er Jah­re, wonach «das Ziel der Pogrom­be­we­gung die Ver­trei­bung aller Juden aus der Ukrai­ne« war. Und wei­ter: »Zu sei­ner Errei­chung wur­den in vie­len Fäl­len alle Ange­hö­ri­ge die­ser Ras­se aus­ge­rot­tet.« (Anm. K.N.: Der Begriff »Ras­se« wird hier allein zur kor­rek­ten Wie­der­ga­be des Zitats verwendet.)

Woher kam die­ser inner­halb kur­zer Zeit mit solch töd­li­cher Wucht auf­bre­chen­de, wahr­lich gren­zen­lo­se Hass auf die Juden, so als wäre ihre Ver­nich­tung die akzep­ta­ble Ant­wort auf die Pro­ble­me ganz unter­schied­li­cher Grup­pen von Men­schen? War es christ­li­cher Anti­ju­da­is­mus, sozia­ler Neid? För­der­ten wirt­schaft­li­che Kon­flik­te oder Ras­sen­theo­rien die Aus­schrei­tun­gen? Veid­lin­ger sieht die Ursa­che der Pogro­me von 1918-1921 vor allem in zwei Fak­to­ren: in der »Feind­schaft gegen den Bol­sche­wis­mus und der ver­meint­li­chen Pro­mi­nenz von Juden in die­ser Bewe­gung«. Es sei die­sel­be »geno­zi­da­le Gewalt«, die zwei Jahr­zehn­te spä­ter »das Töten in den deutsch besetz­ten Regio­nen der Sowjet­uni­on« ange­trie­ben habe. Auch die Regi­on sei dieselbe.

Die Geg­ner der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on hat­ten in Russ­land nach der Macht­über­nah­me der Bol­sche­wi­ki gezielt auf die beson­ders unter den Anhän­gern der »Wei­ßen« weit ver­brei­te­ten anti­jü­di­schen Feind­bil­der der Zaren­zeit gesetzt, als sie für ihre Pro­pa­gan­da das Schlag­wort vom »jüdi­schen Bol­sche­wis­mus« präg­ten. Es war eine Anspie­lung auf füh­ren­de Revo­lu­tio­nä­re wie Lew Dawi­do­witsch Bron­stein, genannt Trotz­ki, und damit auf einen der maß­geb­li­chen Orga­ni­sa­to­ren der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on. Damit soll­te der Ein­druck erweckt wer­den, die Par­tei der Bol­sche­wi­ki bestehe vor allem aus Juden, Bol­sche­wi­ki und Juden sei­en Syn­ony­me. Das anti­se­mi­tisch kon­no­tier­te Schlag­wort fiel bei der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung auf guten Nähr­bo­den: »Die Juden« waren halt an allem schuld und fol­ge­rich­tig auch dar­an, dass es mit dem ersehn­ten auto­no­men ukrai­ni­schen Staat selbst nach 300 Jah­ren Zaren­herr­schaft nichts wur­de. Ein Jahr­zehnt spä­ter gehör­te das Bös­wort zum Stan­dard natio­nal­so­zia­li­sti­scher Propaganda.

Veid­lin­ger: »Was den ukrai­ni­schen Juden wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs zustieß, wur­zelt in dem, was den Juden in der­sel­ben Regi­on zwei Jahr­zehn­te vor­her zuge­sto­ßen war. Die Pogro­me eta­blier­ten Gewalt gegen Juden als akzep­ta­ble Reak­ti­on auf die Exzes­se des Bol­sche­wis­mus. (…) Als die Deut­schen kamen, ange­sta­chelt von anti­bol­sche­wi­sti­schem Hass und anti­se­mi­ti­scher Ideo­lo­gie, fan­den sie eine jahr­zehn­te­al­te Todes­zo­ne vor, wo sich der Mas­sen­mord an unschul­di­gen Juden in das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis ein­ge­brannt hat­te, wo das Unvor­stell­ba­re bereits Rea­li­tät gewor­den war.«

Timo­thy Sny­der, eben­falls ein US-ame­ri­ka­ni­scher Histo­ri­ker, hat vor zehn Jah­ren in einem viel dis­ku­tier­ten Buch für die­se und ande­re ost­eu­ro­päi­sche »Todes­zo­nen« eine neue Bezeich­nung gefun­den. Er nann­te sie »Blood­lands«.

Jef­frey Veid­lin­ger: Mit­ten im zivi­li­sier­ten Euro­pa – Die Pogro­me von 1918 bis 1921 und die Vor­ge­schich­te des Holo­caust. Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Mar­tin Rich­ter, C.H.Beck, Mün­chen 2022, 456 S., 34 €. – Timo­thy Sny­der: Blood­lands – Euro­pa zwi­schen Hit­ler und Sta­lin erschien 2010 eben­falls bei C.H.Beck.