Anatol France (1844-1924) war Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich eine literarische Autorität. Für sein viel gerühmtes Gesamtwerk – ich selbst habe »Die Götter dürsten« (1912) und »Aufstand der Engel« (1914) gelesen – erhielt er 1921 den Literaturnobelpreis. Zusammen mit Emile Zola hatte er in den 1890er Jahren aus Anlass des Justizskandals, in dessen Mittelpunkt der aus dem Elsass stammende jüdische Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus stand, seine Stimme erhoben gegen Justizirrtum und Rechtsbeugung in dieser Affäre.
1919 mahnte France Gesellschaft und Politik erneut: »Mitten im zivilisierten Europa, am Anbruch der neuen Ära, für die die Welt ihre Charta von Freiheit und Gerechtigkeit erwartet, ist die Existenz einer ganzen Volksgruppe bedroht. Solche Verbrechen entehren nicht nur jene, die sie begehen, sie beleidigen die Vernunft und das Gewissen aller Menschen.«
Jeffrey Veidlinger, Professor für Geschichte und Judaistik an der University of Michigan, hat in diesem Zitat den Titel seines neuesten Buches gefunden. In »Mitten im zivilisierten Europa« beschreibt er einen bisher wenig bekannten und erforschten Vorgang, auf den Anatol France – ziemlich vergeblich, darf man in der Rückschau sagen – die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen versucht hatte: die Pogrome von 1918 bis 1921 an der jüdischen Bevölkerung in der Ukraine, für Veidlinger »die Vorgeschichte des Holocaust«.
Anhand von »lange vernachlässigtem Archivmaterial«, wie zum Beispiel dem 1924 entstandenen Gedenkbuch Churbn Proskurov über die Zerstörung der Stadt Proskuriv (heute: Chmelnyzkyj) im Westen der Ukraine, zeigt er auf, dass die Juden schon damals »mitten im zivilisierten Europa in akuter Gefahr waren, vernichtet zu werden« und dass »ganz Europa davon wusste«.
Die Zerstörung der Stadt ereignete sich am 15. Februar 1919 und somit gerade drei Monate nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, der den Ersten Weltkrieg beendete. Am Nachmittag jenes Februar-Tages, schreibt Veidlinger, »ermordeten ukrainische Soldaten über 1000 jüdische Zivilisten in der bis dahin vielleicht mörderischsten Episode, die dem jüdischen Volk in seiner langen Geschichte der Unterdrückung zugestoßen war«.
Veidlinger zeigt das Ausmaß der Gewalttaten auf. Zwischen November 1918 und März 1921 seien während des Bürgerkriegs, der auf den Ersten Weltkrieg folgte, »über 1000 antijüdische Unruhen und Militäraktionen – beide wurden meist als Pogrom bezeichnet – an über 500 unterschiedlichen Orten auf dem Gebiet dokumentiert, das heute zur Ukraine gehört«. Die Zahlen der Opfer sind umstritten, Veidlinger schreibt, dass »nach einer vorsichtigen Schätzung« etwa 40 000 Juden direkt bei den Unruhen und weitere 70 000 an den Folgen der Angriffe starben. Millionen Juden flüchteten innerhalb des Landes, 600 000 in andere Länder, wo ihnen zunehmend alles andere als eine Aufnahme mit offenen Armen widerfuhr.
Der Bürgerkrieg im Anschluss an die kurz nach der Oktoberrevolution von 1917 erfolgte Ausrufung einer autonomen Ukrainischen Volksrepublik innerhalb der Russischen Sowjetrepublik mit Kiew als Hauptstadt wurde anfänglich zwischen der Armee der Volksrepublik und russischen sowie ukrainischen Roten Garden geführt. Aus geostrategischen bzw. territorialen Gelüsten und aus ideologischen Gründen beteiligten sich, so lese ich bei Wikipedia, schon ab Frühjahr 1918 französische, österreichische, polnische, königlich griechische und königlich rumänische Truppen und bis zur Novemberrevolution auch Truppen des deutschen Kaiserreichs an der Auseinandersetzung, die sich zum Polnisch-Sowjetischen Krieg auf dem Gebiet der Ukraine ausweitete. Nach dem Friedensvertrag von Riga, der diesen Krieg beendete, wurde die Ukraine erneut aufgeteilt. Teile der Westukraine kamen zu Polen, das restliche Gebiet und die Krim fielen an die UdSSR und wurden zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Die jüdische Bevölkerung war in all den Bürgerkriegswirren, in der unübersichtlichen Gemengelage »zwischen die Mühlsteine« geraten. Zwar hatte es schon früher im Zarenreich Pogrome gegeben, der Schriftsteller Gerd Fuchs erzählt in seinem Roman Die Auswanderer die Geschichte eines Uhrmachers, der mit Frau und Kind in letzter Sekunde einem Pogrom in Russland entkam und nach gelungener Flucht in Hamburg ein Auswandererschiff in die Neue Welt bestieg. Auch war es nicht die erste Pogromwelle in dieser Region, »aber ihr Umfang stellte frühere Gewaltausbrüche in den Schatten in Bezug auf das Täterspektrum, die Zahl der Opfer und den Grad der Grausamkeit« (Veidlinger).
»Ukrainische Bauern, polnische Stadtbewohner und russische Soldaten beraubten ungestraft ihre jüdischen Nachbarn und stahlen ihnen, was sie für ihren rechtmäßigen Besitz hielten. Mit Zustimmung und Unterstützung großer Teile der Bevölkerung rissen Bewaffnete jüdischen Männern die Bärte aus, zerrissen Thorarollen, vergewaltigten jüdische Frauen und Mädchen und folterten häufig jüdische Einwohner, bevor sie sie auf Marktplätzen versammelten, an den Stadtrand trieben und erschossen. Mindestens einmal schlossen aufständische Kämpfer Juden in einer Synagoge ein und brannten das Gebäude nieder.«
Charkiw, Cherson, Donezk, Donbass, Kiew, Mariupol, Odessa, Poltawa, Proskuriv, Winnyzja – Namen, die wir heute fast täglich in den Nachrichten lesen oder hören. Auf der damaligen Landkarte der Ukraine stehen sie für die Pogrome und verdeutlichen, dass sich diese durch das ganze Land zogen: je weiter nach Westen, umso zahlreicher die Opfer, dies gilt vor allem für den Großraum Kiew. Veidlinger zitiert aus einem »umfassenden Bericht des russischen Roten Kreuzes« vom Anfang der 1920er Jahre, wonach «das Ziel der Pogrombewegung die Vertreibung aller Juden aus der Ukraine« war. Und weiter: »Zu seiner Erreichung wurden in vielen Fällen alle Angehörige dieser Rasse ausgerottet.« (Anm. K.N.: Der Begriff »Rasse« wird hier allein zur korrekten Wiedergabe des Zitats verwendet.)
Woher kam dieser innerhalb kurzer Zeit mit solch tödlicher Wucht aufbrechende, wahrlich grenzenlose Hass auf die Juden, so als wäre ihre Vernichtung die akzeptable Antwort auf die Probleme ganz unterschiedlicher Gruppen von Menschen? War es christlicher Antijudaismus, sozialer Neid? Förderten wirtschaftliche Konflikte oder Rassentheorien die Ausschreitungen? Veidlinger sieht die Ursache der Pogrome von 1918-1921 vor allem in zwei Faktoren: in der »Feindschaft gegen den Bolschewismus und der vermeintlichen Prominenz von Juden in dieser Bewegung«. Es sei dieselbe »genozidale Gewalt«, die zwei Jahrzehnte später »das Töten in den deutsch besetzten Regionen der Sowjetunion« angetrieben habe. Auch die Region sei dieselbe.
Die Gegner der Oktoberrevolution hatten in Russland nach der Machtübernahme der Bolschewiki gezielt auf die besonders unter den Anhängern der »Weißen« weit verbreiteten antijüdischen Feindbilder der Zarenzeit gesetzt, als sie für ihre Propaganda das Schlagwort vom »jüdischen Bolschewismus« prägten. Es war eine Anspielung auf führende Revolutionäre wie Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Trotzki, und damit auf einen der maßgeblichen Organisatoren der Oktoberrevolution. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, die Partei der Bolschewiki bestehe vor allem aus Juden, Bolschewiki und Juden seien Synonyme. Das antisemitisch konnotierte Schlagwort fiel bei der ukrainischen Bevölkerung auf guten Nährboden: »Die Juden« waren halt an allem schuld und folgerichtig auch daran, dass es mit dem ersehnten autonomen ukrainischen Staat selbst nach 300 Jahren Zarenherrschaft nichts wurde. Ein Jahrzehnt später gehörte das Böswort zum Standard nationalsozialistischer Propaganda.
Veidlinger: »Was den ukrainischen Juden während des Zweiten Weltkriegs zustieß, wurzelt in dem, was den Juden in derselben Region zwei Jahrzehnte vorher zugestoßen war. Die Pogrome etablierten Gewalt gegen Juden als akzeptable Reaktion auf die Exzesse des Bolschewismus. (…) Als die Deutschen kamen, angestachelt von antibolschewistischem Hass und antisemitischer Ideologie, fanden sie eine jahrzehntealte Todeszone vor, wo sich der Massenmord an unschuldigen Juden in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hatte, wo das Unvorstellbare bereits Realität geworden war.«
Timothy Snyder, ebenfalls ein US-amerikanischer Historiker, hat vor zehn Jahren in einem viel diskutierten Buch für diese und andere osteuropäische »Todeszonen« eine neue Bezeichnung gefunden. Er nannte sie »Bloodlands«.
Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa – Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Richter, C.H.Beck, München 2022, 456 S., 34 €. – Timothy Snyder: Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin erschien 2010 ebenfalls bei C.H.Beck.