Wenn Honecker und Breschnew sich zum Familienbild stellten, stand er weißhaarig im Hintergrund. Nicht zu übersehen. Er musste seinen Chef alljährlich im Sommer auf die Krim begleiten, wo sich die beiden Parteichefs trafen. Unter vier Augen. Nun ja, die Dolmetscher waren dabei, und einige Berater auch. Bruno Mahlow war beides. Er war als Kind in der Sowjetunion aufgewachsen und hatte als Zwanzigjähriger Außenpolitik in Moskau studiert. In den sechziger Jahren arbeitete er im diplomatischen Dienst der DDR, in Peking eine Zeit lang als 1. Botschaftssekretär. Danach wechselte er in den Parteiapparat, von 1973 bis 1989 war er Stellvertretender Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der SED. In dieser Eigenschaft und mit dieser Qualifikation – Honecker sprach kein Russisch – hatte Mahlow das Ohr des ersten Mannes, aber wusste, was sich geziemte: Als Parteisoldat gehörte man in die zweite Reihe, die Bühne stand allein dem General zu.
Vermutlich schrieb Mahlow deshalb keine Memoiren. Er scheute, wie die meisten seiner Generation und Profession, in schriftlichen Mitteilungen die Verwendung des Personalpronomens »Ich«. In den drei Bänden mit Reden, Zeitungsbeiträgen und Leserbriefen, die ich von ihm edierte, finden sich diese drei Buchstaben nicht. Und unangenehme Dinge, die ein vermeintlich existierendes Narrativ beschädigten, verschwieg er. Seine schwangere Frau wurde von gewalttätigen Roten Garden während der Kulturrevolution angegriffen: kein Wort. Keine Silbe darüber, dass letztlich er diese unsäglichen Interkit-Konferenzen platzen ließ. Moskau lud die Verbündeten seit 1967 zu Konferenzen, um die Bruderparteien auf Linie gegen China zu bringen. Die KPdSU-Abordnung kam stets mit vorbereitetem Protokoll, die Delegationen mussten nur noch unterschreiben. Die Chinesen nannten diese Konferenzen fanhua guoji (»antichinesische Internationale«) und lagen damit nicht falsch. 1982 verweigerte der Leiter der SED-Abordnung die Unterschrift. Nun war das gewiss kein Alleingang Bruno Mahlows, aber er war schließlich auf der Krim und anderswo dabei gewesen, wenn Breschnew Honecker wie einen Schulbuben an den Ohren zog und ihn eindrücklich warnte, auf Peking hereinzufallen. Mahlow handelte nicht gegen seine Überzeugung. Seine Verweigerung führte aber dazu, dass sich die China-Kommission des Politbüros des ZK der KPdSU mit dem »Vorfall« beschäftigte und den SED-Generalsekretär Honecker namentlich kritisierte. In den folgenden Jahren schlossen sich andere Bruderdelegationen an, 1985 war dieses antiquierte konfrontative Gremium tot. Erledigt, noch bevor Gorbatschow kam.
Geschichten dieser Art, kaum dokumentiert und darum auch nicht bekannt, wurden allenfalls durch Zeitzeugen wie Mahlow überliefert. Doch sie erzählten diese nur hinter vorgehaltener Hand und nicht in dicken Erinnerungsbüchern. Und je weiter die Zeit voranschreitet, desto weniger Menschen haben davon überhaupt Kenntnis oder interessieren sich dafür. Es begann doch nicht erst mit Gorbatschow, als der beispielsweise die Idee vom gemeinsamen europäischen Haus kreierte und dafür im Westen bejubelt wurde. Mahlow erinnerte daran,
dass bereits Breschnew bei seinem Bonn-Besuch 1981 diese Illusion in die Welt gesetzt habe – Illusion deshalb, weil ohne Konzept und konkrete Vorschläge für eine ausbalancierte Sicherheitsstruktur. Mahlow nannte das unrealistisch und verantwortungslos. Der Kreml habe »auch unter den aufrichtigen Verbündeten« damit Verwirrung und Verunsicherung gestiftet.
Bruno Brunowitsch war ein wacher, kritischer Geist. Und ein höchst disziplinierter Parteisoldat. Er zwang sich selbst auf Krücken noch zur Teilnahme am öffentlichen Leben. Wir sahen uns regelmäßig am zweiten Januarsonntag in Friedrichsfelde, am 23. Februar an den Panzern in Tiergarten und am 8. Mai am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, wir tranken gemeinsam Wodka in der Russischen Botschaft oder folgten Konzerten, als es die dort noch gab. Trotz aller Verwerfungen und Ärgernisse waren bestimmte Überzeugungen bei ihm unerschütterlich. »Als Kind deutscher Kommunisten und Antifaschisten wurde ich 1937 in Moskau geboren, meine Kindheit verbrachte ich in Astrachan und schließlich im zentralasiatischen Usbekistan.« Er habe die Entbehrungen, die Leiden und die Leistungen der russischen Menschen im Hinterland erlebt. Ihm müsse niemand erklären, was Krieg bedeutet. Er litt an den Meldungen, die uns täglich aus der Ukraine erreichten. Man kann sagen: Er ging daran zugrunde. Ende Februar ist Bruno Mahlow, ein Mann aus der zweiten Reihe, verstorben.
Und hat viele Geschichten mit sich genommen.