Den Protagonisten des Romans »Monde vor der Landung« von Clemens J. Setz hat es wirklich gegeben. Man könnte das Genre des Buches daher, anstatt Roman, auch als – äußerst fantasievoll angereicherte – »Biografie des Peter Bender (1893 bis 1944)« benennen. Sich den Lebenslauf dieses seltsamen Menschen vor der Romanlektüre anzusehen, kann nur empfohlen werden. Da der Clemens J. Setz in seinem Werk in der Hauptsache den »Hohlwelttheoretiker« Peter Bender behandelt, könnte man sonst andere Leistungen Benders (1918 Vorsitzender eines Arbeiter- und Soldatenrates, Gründung einer Religionsgemeinschaft, Ersteller von Horoskopen, Ökonom, Autor eines Romans) aus den Augen verlieren. Freilich blieb dem Autor nur die Konzentration auf hauptsächlich ein Feld der Betätigung Benders, sonst wäre der Roman wohl noch viel umfänglicher geworden.
Hohlwelttheorie? Man findet auch die Bezeichnung »Innenweltkosmos« oder »Innenweltbild« und weitere. Im Kern geht es um die Vorstellung, dass die Menschheit nicht auf einer Kugel, sondern in einer hohlen Kugel lebt, die Verfechter der Theorie sind überzeugt davon, dass wir Menschen auf der Innenseite einer Hohlkugel mit einem Durchmesser von 12.470 km existieren. Man kann das alles nachlesen, auch die Namen der Begründer und Vertreter der Theorie. Einer der eifrigsten war gewiss Peter Bender, der freilich auch nur wenige Menschen davon überzeugen konnte. In den Wissenschaften jedenfalls griff die Hohlwelttheorie weder Raum noch wurde sie anerkannt; Peter Bender wurde oft genug als Spintisierer abgetan.
Und darüber und über so einen ein voluminöser, flüssig und sinnlich erzählter Roman? Ja – und je mehr man sich hineinziehen lässt in die bunte, durchaus unterhaltende und informative Handlung, desto mehr wird man begreifen, dass dies ein nötiger Roman ist, ein Text zur rechten Zeit. Denn Clemens J. Setz beherrscht die Kunst, uns mit dem Propagandisten einer offensichtlich abwegigen Doktrin und deren scheinbar weit entfernten Geschichte einzufangen in unserer Gegenwart, in unserer Hohlwelt. Also: Wie gehen wir mit Leuten um, denen die Plakette »Querdenker« angeheftet wurde, oder die sie sich selbst anklebten – wir hatten deren genug in den zurückliegenden Pandemie-Jahren.
Peter Bender, Fliegerleutnant im Ersten Weltkrieg, geistiger Anführer einer kleinen Schar, von anderen Hohlwelt-Predigern eher widerwillig akzeptiert – sieht sich bald zu Kerkerhaft verurteilt, wirtschaftlich so gut wie ruiniert. Richtige Treue beweisen ihm eigentlich nur die sein Leben bestimmenden Frauen, seine Ehefrau Charlotte, aber auch seine Geliebten. Die zu haben, entspricht auch seinem Weltbild von der »Quadratgestalt der Geschlechter«: Liebe sei nur möglich, wenn es in jeder Beziehung noch einen zweiten Mann oder eine zweite Frau gebe. Die krausen Überzeugungen und Behauptungen Benders, gespeist auch von Nietzsche, George, der Nibelungensage und Luther (große Teile des Romans spielen in Worms) werden vom Autor immer mit Ernsthaftigkeit, ja, Respekt referiert, die Ironie bleibt sanft, nie erscheint der Protagonist als Lachnummer. Das ist zu bewundern.
Denn üblicherweise wird doch abschätzig mit den Wahngebilden von Querdenkern und Verschwörungsgläubigen umgegangen: für lächerlich erklären, Geistesschwäche unterstellen, Lug und Trug »entlarven«. Mir selbst wurde das in einer Diskussion vorgeführt, die ich mit einem jungen und von mir als Freund geschätzten Informatiker führte, nachdem ich ihm in Kurzfassung von »Monde vor der Landung« berichtet hatte. Man könne messen und rechnen, rief er aus, es gebe unwiderlegbare Beweise, die Naturwissenschaft und die Raumfahrt bewiesen dieses und jenes. Wer Bender glaube, für den käme doch nur eine psychiatrische Anstalt infrage. Und mir fiel ein, wie oft ich Ähnliches gedacht hatte in den letzten Jahren bei Gesprächen in der Verwandtschaft, die plötzlich jeden Krankheitsausbruch mit der Corona-Impfung in Zusammenhang stellte.
Natürlich sind Leute wie der Egozentriker Peter Bender anstrengend, natürlich waren es oft genug Wahnwelten, die er entwarf. Doch wäre es schön, wenn man hin und wieder auch einmal das ganz andere zu denken sich erkühnen würde. Ohne gleich in die Ecke gestellt zu werden.
Peter Benders Werdegang ist die Geschichte eines Scheiterns, ja, eines Untergehens und Versinkens. In seinen Ideen gefangen, gelingt es ihm kaum, seiner Partnerin und seinen Kindern ein »Familienvater« zu sein, seine Frau wird immer mehr zur »Ernährerin«. Andere Hohlwelttheoretiker sind im Marketing geschickter und ziehen Profit aus der Verbreitung ihrer Ideen. So gehört die Schilderung eines Auftritts des Naturalisten Johannes Schlaf, der sich in seinem Spätwerk der Kosmogonie zuwandte, zu den literarischen »Delikatessen« des Buches. Die Einbeziehung von Dokumenten verleiht dem Roman eine hohe Überzeugungskraft.
Eine Biografie wie die Peter Benders war einen opulenten Roman wert, wenngleich, besonders gegen Ende, die geschilderten Ereignisse sich drängen und häufen, sodass man fast gejagt liest. Aber vielleicht war das nötig, um zu zeigen, wie Peter Bender und seine jüdische Frau Charlotte in ihr Ende gehetzt wurden: Er starb 1944 im KZ Mauthausen, Charlotte wurde nach Theresienstadt deportiert, von dort nach Auschwitz.
Dass es 1942 einen Hohlwelt-Versuch auf der Insel Rügen gegeben hat, durchgeführt mit Infrarotstrahlen, um die britische Kriegsflotte ausfindig zu machen, gehört ebenfalls zu den schwierigen Wahrheiten dieses Buches.
Clemens J. Setz, Monde vor der Landung, Roman, Suhrkamp Verlag 2023, 528 S., 26 €.