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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Impfen auf Italienisch

Vor exakt einem Jahr wur­de Mario Draghi zum Regie­rungs­chef einer Gro­ßen Koali­ti­on natio­na­ler Ein­heit vom Staats­prä­si­den­ten Mat­tar­el­la ernannt, mit dem Auf­trag, Ita­li­en aus der Wirt­schafts- und aus der Coro­na-Kri­se zu füh­ren. All­ge­mei­ner Beifall!

Es sind zwei Kri­sen, die inein­an­der­grei­fen und sich gegen­sei­tig poten­zie­ren: Die Bewäl­ti­gung der ersten ist nur mög­lich, wenn man der zwei­ten Herr wird. Soll aber der ersten ledig­lich inner­halb der Logik des Neo­li­be­ra­lis­mus begeg­net wer­den, wie der natio­na­le Auf­bau­plan PNNR und der zu Jah­res­en­de ver­ab­schie­de­te Staats­haus­halt 2022 zei­gen, gibt es auch gegen Coro­na einen ähn­li­chen Kurs. Anstatt also die grund­le­gen­den Eng­päs­se und Ver­säum­nis­se vor allem im öffent­li­chen Gesund­heits­we­sen, in den Schu­len und im Nah­ver­kehr sowie die gro­ßen sozia­len Ver­wer­fun­gen anzu­ge­hen, die durch Coro­na explo­siv zuta­ge getre­ten sind, geht die Regie­rung auch bei der Gesund­heits­vor­sor­ge den Weg einer markt­ori­en­tier­ten Individualisierung.

Die Draghis unspek­ta­ku­lä­ren Regie­rungs­stil kenn­zeich­nen­den »decre­ti leg­ge«, vom Mini­ster­rat beschlos­se­ne Not­ver­ord­nun­gen, die spä­ter vom Par­la­ment meist nur noch durch­ge­winkt wer­den, konn­ten die mei­sten Maß­nah­men ohne gro­ße Dis­kus­sio­nen durch­set­zen. Grund­la­ge der­sel­ben ist die von einem Logi­stik­ex­per­ten im Gene­rals­rang kon­se­quent durch­ge­führ­te Impf­kam­pa­gne, die das Land auch durch den Som­mer 2021 beglei­te­te, als das Virus schwä­chel­te, und die noch bis Mai ’21 rot, oran­ge und gelb ein­ge­schränk­ten Regio­nen nach und nach farb­lich ver­blas­sen ließ: Die mei­sten Beschrän­kun­gen wur­den auf­ge­ho­ben. Schon im Herbst ver­zeich­ne­te Ita­li­en eine der höch­sten Impf­quo­ten in der EU, ähn­lich wie Por­tu­gal und Spanien.

Ab Okto­ber erhiel­ten alle Arbei­ten­den – zunächst im öffent­li­chen, dann im pri­va­ten Bereich – stren­ge Impf- bzw. Test-Auf­la­gen, mit andern­falls dro­hen­dem Aus­schluss von Arbeits­platz und Gehalt. Ein funk­tio­nie­ren­des Test­sy­stem mit Nach­ver­fol­gun­gen der Infi­zier­ten wur­de dage­gen nicht aus­ge­baut, auch die unzu­rei­chen­de Basis­me­di­zin der Haus­ärz­te wur­de nicht gestärkt, mit vie­len nega­ti­ven Fol­gen für die Allgemeinheit.

Aber mit einem soge­nann­ten Green­pass wur­de der Zugang zum wie­der­erwa­chen­den öffent­li­chen Leben lan­des­weit ermög­licht, und die damit ein­her­ge­hen­de rela­ti­ve Unbe­schwert­heit währ­te bis weit in den Novem­ber. Dann brei­te­te sich die Vari­an­te Omi­kron, aus mit sprung­ar­ti­gem Anstieg der Infek­ti­ons­zah­len im Dezem­ber, von täg­lich Zehn­tau­send auf ca. 230.000 (11. Janu­ar). Erneut kam es zu Eng­päs­sen in den Kran­ken­häu­sern, vor allem auf den Inten­siv­sta­tio­nen, deren Bet­ten­zahl zwar in der Zwi­schen­zeit auf dem Papier fast ver­dop­pelt wor­den war, aber ohne das not­wen­di­ge Per­so­nal bereit­zu­stel­len. Die Covid-Bet­ten sind inzwi­schen zu über zwei Drit­teln mit noch durch Del­ta erkrank­te Nicht­ge­impf­te belegt. Omi­kron erweist sich zwar als anstecken­der, zeigt aber bis­her kaum schwe­re Ver­läu­fe. Die Zahl der der­zeit fest­ge­stell­ten Infi­zier­ten, die min­de­stens 5 bis 10 Tage in Qua­ran­tä­ne oder Iso­la­ti­on blei­ben müs­sen, liegt bei über 2 Mil­lio­nen, mit stei­gen­der Ten­denz – so gibt es erheb­li­che Ein­schrän­kun­gen im Bahn­ver­kehr, wei­te­re Eng­päs­se in wich­ti­gen Berei­chen des öffent­li­chen Lebens wer­den vorausgesehen.

Gegen den »Zwang zum Green­pass«, der inzwi­schen in zwei Vari­an­ten (für 3GE und 2GE) seit dem 10. Janu­ar für prak­tisch alle öffent­li­chen Berei­che gilt, aus­ge­nom­men nur Lebens­mit­tel­ge­schäf­te und Apo­the­ken, gibt es natür­lich Pro­te­ste von­sei­ten vie­ler Noch-Nicht­ge­impf­ter und von diver­sen Impf­geg­nern (No Vax). Aber letz­te­re haben immer noch eine ande­re Rele­vanz als ent­spre­chen­de Pro­te­ste in Deutsch­land, obwohl das zugrun­de­lie­gen­de gesell­schaft­li­che Frust­po­ten­ti­al und der Staats­ver­druss in Ita­li­en weit grö­sser sind. Aber die Men­schen schei­nen hier im Gro­ßen und Gan­zen prag­ma­ti­scher zu sein, weni­ger ideo­lo­gi­siert. Auch hat die beson­ders star­ke Betrof­fen­heit Ita­li­ens als erstem von Covid19 heim­ge­such­ten EU-Land in der Bevöl­ke­rung einen blei­ben­den Ein­druck hin­ter­las­sen. So schwer erträg­lich der stren­ge Lock­down 2020 unter der zwei­ten Regie­rung von Giu­sep­pe Con­te für die mei­sten auch war, so drück­te sich doch in die­ser, in der EU erst­ma­li­gen Schlie­ßung eines gan­zen Lan­des auch eine Prio­ri­sie­rung der Gesund­heits- vor Wirt­schafts­in­ter­es­sen aus, mit durch­aus soli­da­ri­schen gesell­schaft­li­chen Perspektiven.

In allen libe­ra­len Demo­kra­tien Euro­pas mit ihren erkenn­bar unvor­be­rei­te­ten Gesund­heits­sy­ste­men auf unbe­kann­te Virus-Epi­de­mien reagier­te man mit erheb­li­chen Schwie­rig­kei­ten und wider­sprüch­li­chen Maß­nah­men, auch mit Rück­sicht auf diver­se gesell­schaft­li­che Inter­es­sen­la­gen. So hat­ten die Krank­heits­ver­läu­fe im Jahr 2020 sehr unter­schied­li­che Aus­ma­ße in den ein­zel­nen Staa­ten, und selbst heu­te, zwei Jah­re nach Auf­tau­chen des Coro­na-Virus mit sei­nen diver­sen Vari­an­ten, kommt man in Euro­pa der inzwi­schen ent­stan­de­nen Pan­de­mie nur schritt­wei­se auf die Schli­che. Wich­ti­ge alter­na­ti­ve Erfah­run­gen aus ande­ren Brei­ten­gra­den und Gesell­schaf­ten, wie Asi­en oder dem klei­nen Cuba, blei­ben aus­ge­blen­det. Dabei haben gera­de Cuba und Chi­na den Rest der Welt im Zei­chen eines soli­da­ri­schen Inter­na­tio­na­lis­mus bis­her mit eige­nen Impf­stof­fen ver­sorgt. Da die Rech­te an den Impf­stof­fen der rei­chen Län­der nicht frei­ge­ge­ben wer­den, wird nicht ver­hin­dert, dass die Viren in der noch unge­impf­ten Hälf­te der Welt wei­ter zir­ku­lie­ren und variieren.

Die Kom­ple­xi­tät die­ser Seu­che stößt sich immer noch und immer wie­der mit dem Bedürf­nis der betrof­fe­nen Bevöl­ke­run­gen nach ein­fa­chen Erklä­run­gen, ver­ständ­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on und nach­voll­zieh­ba­ren Maß­nah­men. Die­sen Erwar­tun­gen ist offen­bar schwer nach­zu­kom­men in Staa­ten, die über kei­ne aus­ge­präg­ten auto­ri­tä­ren Struk­tu­ren ver­fü­gen, son­dern sich in par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien mit föde­ra­len Syste­men aus­ba­lan­cie­ren müs­sen. Das Dilem­ma der Poli­ti­ker, nach Maß­ga­be wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen und wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se bei sich rasch ver­än­dern­den Per­spek­ti­ven zu ent­schei­den, ist groß. Eben­so die Schwie­rig­keit vie­ler Men­schen, mit der heim­tücki­schen Mani­fe­sta­ti­on die­ser weit­ge­hend unsicht­ba­ren Krank­heit men­tal klar­zu­kom­men. Das liegt offen­bar auch dar­in begrün­det, dass Covid 19 die Euro­pä­er ja nicht direkt auf den Stra­ßen hin­rafft, wie noch frü­he­re Pest- und Cho­le­ra-Aus­brü­che, son­dern sich a-sym­pto­ma­tisch aus­brei­tet und inzwi­schen nur noch bei rela­tiv weni­gen der Infi­zier­ten sehr schwe­re oder gar tod­brin­gen­de Fol­gen hat.

Die natio­na­le epi­de­mi­sche Not­la­ge ist in Ita­li­en zunächst bis Ende März ver­län­gert. Das jüng­ste Dekret vom 5. Janu­ar, nach einer kon­tro­ver­sen Mini­ster­rats­sit­zung ver­kün­det, wur­de erst am 10. Janu­ar von Draghi selbst auf einer sei­ner sel­te­nen Pres­se­kon­fe­ren­zen näher erklärt und begrün­det und scheint eine Wen­de ein­zu­lei­ten: Vie­le Wis­sen­schaft­ler ver­kün­den inzwi­schen, man müs­se sich dar­auf ein­stel­len, mit mög­li­chen Virus­va­ri­an­ten auch in Zukunft zu leben, es gilt also, einen neu­en modus viven­di zu fin­den. Zwecks Auf­recht­erhal­tung des Wirt­schafts­le­bens sol­len wei­te­re Lock­downs zukünf­tig ver­hin­dert wer­den und die Schu­len grund­sätz­lich geöff­net blei­ben, unge­ach­tet der Tat­sa­che, dass deren dafür not­wen­di­ge Aus­stat­tung bis­her kaum ver­bes­sert wur­de. Da eine von den mei­sten Ver­ant­wort­li­chen favo­ri­sier­te all­ge­mei­ne Impf­pflicht am Wider­stand der Rech­ten schei­tert, ver­kün­det das Dekret vom 5. Janu­ar eine Impf­pflicht für alle über 50-Jäh­ri­gen (noch ca. 2,5 Mio.) ab dem 15. Febru­ar. Damit soll ein größt­mög­li­cher Teil der ca. 5,5 Mio. Unge­impf­ten den­noch erreicht wer­den. Die Debat­te dar­über, wer woge­gen wie lan­ge durch wel­che Imp­fun­gen geschützt ist, hat immer­hin den mei­sten Men­schen klar gemacht, dass die Impf­stof­fe zwar Ansteckun­gen nicht ver­hin­dern kön­nen, aber die Viren­last abschwä­chen und schwe­re Krank­heits­ver­läu­fe wei­test­ge­hend min­dern. Mit­hil­fe auch inzwi­schen frei­ge­ge­be­ner Medi­ka­men­te und Bei­be­hal­tung bis­he­ri­ger Vor­sichts­maß­nah­men hofft man, in Zukunft die Covi­d19-Infek­ti­on so in den Griff zu bekom­men wie Grippe-Erkrankungen.

Der in Ita­li­en jetzt erwar­te­te Höhe­punkt der Omi­kron-Infek­tio­nen Ende Januar/​Februar ist aller­dings von gro­ßer Sor­ge ums Gan­ze beglei­tet. Er fällt näm­lich zeit­lich zusam­men mit der Wahl eines neu­en Staats­prä­si­den­ten, denn Ser­gio Mat­tar­el­la kann und will kei­ne zwei­te Amts­zeit antre­ten. Das ist ein Ereig­nis von viel grö­ße­rer poli­ti­scher Rele­vanz als die anste­hen­de Wahl zum deut­schen Staats­ober­haupt. Der Prä­si­dent hat in Ita­li­en nicht nur die ent­schei­den­de poli­ti­sche Rol­le bei der For­mie­rung von Regie­run­gen – ins­be­son­de­re bei Regie­rungs­kri­sen, denn es gibt hier kein kon­struk­ti­ves Miss­trau­ens­vo­tum –, son­dern auch, weil die­ses Mal mög­li­cher­wei­se die Wahl direkt in eine Regie­rungs­kri­se füh­ren kann, falls näm­lich Mario Draghi ins höch­ste Amt gewählt wer­den soll­te. Ob das und was dann pas­sie­ren wür­de, bil­det seit Wochen das Haupt­the­ma des poli­ti­schen Rät­sel­ra­tens in Ita­li­en. Das Tan­dem Mattarella/​Draghi garan­tier­te bis­her die Balan­ce zwi­schen der pre­kä­ren Wirt­schafts­la­ge und eben­sol­chem Zustand der ein­zel­nen Par­tei­en, die bis­her kei­ne kla­ren Alter­na­ti­ven erken­nen las­sen. Wer soll­te auch in der Lage sein, eine Regie­rung der natio­na­len Ein­heit an Draghis Stel­le wei­ter­zu­füh­ren? Ber­lus­co­ni kün­dig­te den Aus­tritt sei­ner For­za Ita­lia aus einer sol­chen Regie­rung (ohne Draghi) und damit bereits die näch­ste Kri­se an.

Doch vor­ge­zo­ge­ne Neu­wah­len will eigent­lich nie­mand – das neue Par­la­ment wür­de danach um ein Drit­tel ver­klei­nert und die Wahl­re­form ist noch unvoll­endet. Den­noch rech­net die ver­ein­te Rech­te damit, dann eine Regie­rung anfüh­ren zu kön­nen. Dass ein viel­fach wegen schwe­rer Delik­te ver­ur­teil­ter 85-jäh­ri­ger Sil­vio Ber­lus­co­ni, der sich sei­nen jüng­sten Gerichts­vor­la­dun­gen per Arzt­at­test ent­zog, noch immer als Kan­di­dat der Rech­ten eine ent­schei­den­de poli­ti­sche Rol­le spie­len kann, wirft ein erschrecken­des Licht auf die ita­lie­ni­schen Macht­ver­hält­nis­se. De fac­to blockiert Ber­lus­co­ni die nor­ma­le Dia­lek­tik einer Prä­si­den­ten­wahl, selbst wenn sein Name nur als King­ma­ker der Rech­ten figu­riert. Das Staats­ober­haupt soll – ver­fas­sungs­ge­mäß – über allem und für alle ste­hen, sei­ne Wahl soll­te die Gesell­schaft nicht spal­ten, was in der Ver­gan­gen­heit der Volks­par­tei­en leich­ter zu errei­chen war als in der jet­zi­gen zer­split­ter­ten Interessen-Landschaft.

Man kan­di­diert in Ita­li­en offi­zi­ell nicht für das höch­ste Amt, son­dern der Prä­si­dent wird nach gehei­men Abspra­chen er- und gewählt. Das auf­wän­di­ge Abstim­mungs­ri­tu­al in Rom mit 1009 Abge­ord­ne­ten, Sena­to­ren und Dele­gier­ten aus den Regio­nen soll am 24. Janu­ar begin­nen und wird meh­re­re Tage dau­ern, beschwert auch mit den Covid-Auf­la­gen. Der­zeit ist frag­lich, ob die Dele­gier­ten, von denen min­de­stens 50 unge­impft sind, den Par­la­ments­saal im Palaz­zo Chi­gi über­haupt errei­chen kön­nen. Obwohl die Ita­lie­ner von vie­len ande­ren exi­sten­zi­el­len Pro­ble­men geplagt sind, die sie von solch volks­fer­ner Pra­xis des Palaz­zo tren­nen, sind Span­nung und Sor­ge vor dem Wahl­aus­gang groß.