Vor exakt einem Jahr wurde Mario Draghi zum Regierungschef einer Großen Koalition nationaler Einheit vom Staatspräsidenten Mattarella ernannt, mit dem Auftrag, Italien aus der Wirtschafts- und aus der Corona-Krise zu führen. Allgemeiner Beifall!
Es sind zwei Krisen, die ineinandergreifen und sich gegenseitig potenzieren: Die Bewältigung der ersten ist nur möglich, wenn man der zweiten Herr wird. Soll aber der ersten lediglich innerhalb der Logik des Neoliberalismus begegnet werden, wie der nationale Aufbauplan PNNR und der zu Jahresende verabschiedete Staatshaushalt 2022 zeigen, gibt es auch gegen Corona einen ähnlichen Kurs. Anstatt also die grundlegenden Engpässe und Versäumnisse vor allem im öffentlichen Gesundheitswesen, in den Schulen und im Nahverkehr sowie die großen sozialen Verwerfungen anzugehen, die durch Corona explosiv zutage getreten sind, geht die Regierung auch bei der Gesundheitsvorsorge den Weg einer marktorientierten Individualisierung.
Die Draghis unspektakulären Regierungsstil kennzeichnenden »decreti legge«, vom Ministerrat beschlossene Notverordnungen, die später vom Parlament meist nur noch durchgewinkt werden, konnten die meisten Maßnahmen ohne große Diskussionen durchsetzen. Grundlage derselben ist die von einem Logistikexperten im Generalsrang konsequent durchgeführte Impfkampagne, die das Land auch durch den Sommer 2021 begleitete, als das Virus schwächelte, und die noch bis Mai ’21 rot, orange und gelb eingeschränkten Regionen nach und nach farblich verblassen ließ: Die meisten Beschränkungen wurden aufgehoben. Schon im Herbst verzeichnete Italien eine der höchsten Impfquoten in der EU, ähnlich wie Portugal und Spanien.
Ab Oktober erhielten alle Arbeitenden – zunächst im öffentlichen, dann im privaten Bereich – strenge Impf- bzw. Test-Auflagen, mit andernfalls drohendem Ausschluss von Arbeitsplatz und Gehalt. Ein funktionierendes Testsystem mit Nachverfolgungen der Infizierten wurde dagegen nicht ausgebaut, auch die unzureichende Basismedizin der Hausärzte wurde nicht gestärkt, mit vielen negativen Folgen für die Allgemeinheit.
Aber mit einem sogenannten Greenpass wurde der Zugang zum wiedererwachenden öffentlichen Leben landesweit ermöglicht, und die damit einhergehende relative Unbeschwertheit währte bis weit in den November. Dann breitete sich die Variante Omikron, aus mit sprungartigem Anstieg der Infektionszahlen im Dezember, von täglich Zehntausend auf ca. 230.000 (11. Januar). Erneut kam es zu Engpässen in den Krankenhäusern, vor allem auf den Intensivstationen, deren Bettenzahl zwar in der Zwischenzeit auf dem Papier fast verdoppelt worden war, aber ohne das notwendige Personal bereitzustellen. Die Covid-Betten sind inzwischen zu über zwei Dritteln mit noch durch Delta erkrankte Nichtgeimpfte belegt. Omikron erweist sich zwar als ansteckender, zeigt aber bisher kaum schwere Verläufe. Die Zahl der derzeit festgestellten Infizierten, die mindestens 5 bis 10 Tage in Quarantäne oder Isolation bleiben müssen, liegt bei über 2 Millionen, mit steigender Tendenz – so gibt es erhebliche Einschränkungen im Bahnverkehr, weitere Engpässe in wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens werden vorausgesehen.
Gegen den »Zwang zum Greenpass«, der inzwischen in zwei Varianten (für 3GE und 2GE) seit dem 10. Januar für praktisch alle öffentlichen Bereiche gilt, ausgenommen nur Lebensmittelgeschäfte und Apotheken, gibt es natürlich Proteste vonseiten vieler Noch-Nichtgeimpfter und von diversen Impfgegnern (No Vax). Aber letztere haben immer noch eine andere Relevanz als entsprechende Proteste in Deutschland, obwohl das zugrundeliegende gesellschaftliche Frustpotential und der Staatsverdruss in Italien weit grösser sind. Aber die Menschen scheinen hier im Großen und Ganzen pragmatischer zu sein, weniger ideologisiert. Auch hat die besonders starke Betroffenheit Italiens als erstem von Covid19 heimgesuchten EU-Land in der Bevölkerung einen bleibenden Eindruck hinterlassen. So schwer erträglich der strenge Lockdown 2020 unter der zweiten Regierung von Giuseppe Conte für die meisten auch war, so drückte sich doch in dieser, in der EU erstmaligen Schließung eines ganzen Landes auch eine Priorisierung der Gesundheits- vor Wirtschaftsinteressen aus, mit durchaus solidarischen gesellschaftlichen Perspektiven.
In allen liberalen Demokratien Europas mit ihren erkennbar unvorbereiteten Gesundheitssystemen auf unbekannte Virus-Epidemien reagierte man mit erheblichen Schwierigkeiten und widersprüchlichen Maßnahmen, auch mit Rücksicht auf diverse gesellschaftliche Interessenlagen. So hatten die Krankheitsverläufe im Jahr 2020 sehr unterschiedliche Ausmaße in den einzelnen Staaten, und selbst heute, zwei Jahre nach Auftauchen des Corona-Virus mit seinen diversen Varianten, kommt man in Europa der inzwischen entstandenen Pandemie nur schrittweise auf die Schliche. Wichtige alternative Erfahrungen aus anderen Breitengraden und Gesellschaften, wie Asien oder dem kleinen Cuba, bleiben ausgeblendet. Dabei haben gerade Cuba und China den Rest der Welt im Zeichen eines solidarischen Internationalismus bisher mit eigenen Impfstoffen versorgt. Da die Rechte an den Impfstoffen der reichen Länder nicht freigegeben werden, wird nicht verhindert, dass die Viren in der noch ungeimpften Hälfte der Welt weiter zirkulieren und variieren.
Die Komplexität dieser Seuche stößt sich immer noch und immer wieder mit dem Bedürfnis der betroffenen Bevölkerungen nach einfachen Erklärungen, verständlicher Kommunikation und nachvollziehbaren Maßnahmen. Diesen Erwartungen ist offenbar schwer nachzukommen in Staaten, die über keine ausgeprägten autoritären Strukturen verfügen, sondern sich in parlamentarischen Demokratien mit föderalen Systemen ausbalancieren müssen. Das Dilemma der Politiker, nach Maßgabe wirtschaftlicher Interessen und wissenschaftlicher Erkenntnisse bei sich rasch verändernden Perspektiven zu entscheiden, ist groß. Ebenso die Schwierigkeit vieler Menschen, mit der heimtückischen Manifestation dieser weitgehend unsichtbaren Krankheit mental klarzukommen. Das liegt offenbar auch darin begründet, dass Covid 19 die Europäer ja nicht direkt auf den Straßen hinrafft, wie noch frühere Pest- und Cholera-Ausbrüche, sondern sich a-symptomatisch ausbreitet und inzwischen nur noch bei relativ wenigen der Infizierten sehr schwere oder gar todbringende Folgen hat.
Die nationale epidemische Notlage ist in Italien zunächst bis Ende März verlängert. Das jüngste Dekret vom 5. Januar, nach einer kontroversen Ministerratssitzung verkündet, wurde erst am 10. Januar von Draghi selbst auf einer seiner seltenen Pressekonferenzen näher erklärt und begründet und scheint eine Wende einzuleiten: Viele Wissenschaftler verkünden inzwischen, man müsse sich darauf einstellen, mit möglichen Virusvarianten auch in Zukunft zu leben, es gilt also, einen neuen modus vivendi zu finden. Zwecks Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens sollen weitere Lockdowns zukünftig verhindert werden und die Schulen grundsätzlich geöffnet bleiben, ungeachtet der Tatsache, dass deren dafür notwendige Ausstattung bisher kaum verbessert wurde. Da eine von den meisten Verantwortlichen favorisierte allgemeine Impfpflicht am Widerstand der Rechten scheitert, verkündet das Dekret vom 5. Januar eine Impfpflicht für alle über 50-Jährigen (noch ca. 2,5 Mio.) ab dem 15. Februar. Damit soll ein größtmöglicher Teil der ca. 5,5 Mio. Ungeimpften dennoch erreicht werden. Die Debatte darüber, wer wogegen wie lange durch welche Impfungen geschützt ist, hat immerhin den meisten Menschen klar gemacht, dass die Impfstoffe zwar Ansteckungen nicht verhindern können, aber die Virenlast abschwächen und schwere Krankheitsverläufe weitestgehend mindern. Mithilfe auch inzwischen freigegebener Medikamente und Beibehaltung bisheriger Vorsichtsmaßnahmen hofft man, in Zukunft die Covid19-Infektion so in den Griff zu bekommen wie Grippe-Erkrankungen.
Der in Italien jetzt erwartete Höhepunkt der Omikron-Infektionen Ende Januar/Februar ist allerdings von großer Sorge ums Ganze begleitet. Er fällt nämlich zeitlich zusammen mit der Wahl eines neuen Staatspräsidenten, denn Sergio Mattarella kann und will keine zweite Amtszeit antreten. Das ist ein Ereignis von viel größerer politischer Relevanz als die anstehende Wahl zum deutschen Staatsoberhaupt. Der Präsident hat in Italien nicht nur die entscheidende politische Rolle bei der Formierung von Regierungen – insbesondere bei Regierungskrisen, denn es gibt hier kein konstruktives Misstrauensvotum –, sondern auch, weil dieses Mal möglicherweise die Wahl direkt in eine Regierungskrise führen kann, falls nämlich Mario Draghi ins höchste Amt gewählt werden sollte. Ob das und was dann passieren würde, bildet seit Wochen das Hauptthema des politischen Rätselratens in Italien. Das Tandem Mattarella/Draghi garantierte bisher die Balance zwischen der prekären Wirtschaftslage und ebensolchem Zustand der einzelnen Parteien, die bisher keine klaren Alternativen erkennen lassen. Wer sollte auch in der Lage sein, eine Regierung der nationalen Einheit an Draghis Stelle weiterzuführen? Berlusconi kündigte den Austritt seiner Forza Italia aus einer solchen Regierung (ohne Draghi) und damit bereits die nächste Krise an.
Doch vorgezogene Neuwahlen will eigentlich niemand – das neue Parlament würde danach um ein Drittel verkleinert und die Wahlreform ist noch unvollendet. Dennoch rechnet die vereinte Rechte damit, dann eine Regierung anführen zu können. Dass ein vielfach wegen schwerer Delikte verurteilter 85-jähriger Silvio Berlusconi, der sich seinen jüngsten Gerichtsvorladungen per Arztattest entzog, noch immer als Kandidat der Rechten eine entscheidende politische Rolle spielen kann, wirft ein erschreckendes Licht auf die italienischen Machtverhältnisse. De facto blockiert Berlusconi die normale Dialektik einer Präsidentenwahl, selbst wenn sein Name nur als Kingmaker der Rechten figuriert. Das Staatsoberhaupt soll – verfassungsgemäß – über allem und für alle stehen, seine Wahl sollte die Gesellschaft nicht spalten, was in der Vergangenheit der Volksparteien leichter zu erreichen war als in der jetzigen zersplitterten Interessen-Landschaft.
Man kandidiert in Italien offiziell nicht für das höchste Amt, sondern der Präsident wird nach geheimen Absprachen er- und gewählt. Das aufwändige Abstimmungsritual in Rom mit 1009 Abgeordneten, Senatoren und Delegierten aus den Regionen soll am 24. Januar beginnen und wird mehrere Tage dauern, beschwert auch mit den Covid-Auflagen. Derzeit ist fraglich, ob die Delegierten, von denen mindestens 50 ungeimpft sind, den Parlamentssaal im Palazzo Chigi überhaupt erreichen können. Obwohl die Italiener von vielen anderen existenziellen Problemen geplagt sind, die sie von solch volksferner Praxis des Palazzo trennen, sind Spannung und Sorge vor dem Wahlausgang groß.