2017 veröffentlichte der renommierte Wissenschaftsverlag Vandenhoek & Ruprecht ein über 400 Seiten starkes Buch über die Geschichte des Impfens in Deutschland. 2021 erschien es nun als Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung zu einem hoch subventionierten Preis von 4,50 € (statt vormals 70 €) – mit dem heute offenbar nötigen Hinweis: »Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.«
Brisanz erhält dieses Buch vor dem Hintergrund der laufenden Impfpflicht-Debatte und einer »Corona-Schutzimpfung«, die nicht vor Ansteckung und Krankheit schützt, sondern nach heutiger Lesart nur vor »schweren Krankheitsverläufen« bewahrt und vielfach wiederholt werden muss (»Booster-Impfung«).
Waren die Impfproduktion und das »Impfgeschäft« bis in die 1930er Jahre staatsnahen Strukturen vorbehalten, kamen jetzt die Pharmaunternehmen ins Geschäft. Diesem »Prozess der Vermarktlichung« (S. 18) spürt der Autor Malte Thießen nach und stellt fest, dass die Pharmaunternehmen von nun an »subtiler« vorgingen. »Sie schürten Ängste, prägten Bilder und Bedrohungsszenarien und weckten bzw. erhöhten Bedürfnisse nach Impfungen.« Die Nazi-Zeit bringt die Pharmaunternehmen schließlich in eine dominante Rolle: »Der Vermarktlichung von Immunität entsprach ein Rückzug staatlicher Akteure bei der Produktion neuer Impfstoffe. (…) Die Vermarktlichung von Immunität seit den 1930er Jahren betont also einmal mehr das Amalgam aus ›ökonomischen Erwägungen‹ und ›politischen Überzeugungen‹« (S. 135).
- Thießen nennt hier die »Behringwerke« aus Marburg (Lahn), die 1929 von den »IG-Farben« übernommen wurden. Marburg wurde so zum für Deutschland wichtigsten Impfstoff-Produktionsstandort. Die Behringwerke behielten auch in den 1950er-Jahren ihre Vormachtstellung, und auch die Zerschlagung der IG-Farben »änderte nichts an ihrer Einbindung in das Vertriebssystem der Hoechst AG, die wiederum Forschungsinvestitionen in Marburg und eine professionelle Pressearbeit garantierte« (S. 266).
In dieser Zeit kommen erstmals die »Massenmedien« ins Spiel, wo vorher Aufklärung, Überzeugung und auch ein gewisser Zwang vorherrschend waren. »Wo sozialer Druck nicht ausreichte, sollten Ängste die Impfbeteiligung erhöhen. Bei Einführung der Diphtherieschutzimpfung las man in Fachzeitschriften ebenso wie in Tageszeitungen von bedrohlichen Entwicklungen« (S. 162). Als »höchst funktional« galten »Bedrohungs-Szenarien«, »Schreckensmeldungen«, »Gefühlspolitik« und »Angst«.
Interessant ist folgender Aspekt: »Angesichts der naturheilkundlichen Strömungen in der NSDAP witterten Impfgegner Morgenluft. (…) Der Höhenflug der Impfgegner endete jäh. Im Dezember 1933 erklärte Innenminister Wilhelm Frick sämtliche »Impfgegner- und Impfzwanggegner-Vereinigungen für aufgelöst und verbot jede impfgegnerische Bestätigung« (S. 145).
Unaufgeregt, als »sozialistisches Selbstverständnis« kommt die Immunität in der DDR« daher. Auf einem Plakat vor einer Poliklinik in Zwickau Anfang der 1980er Jahre ist zu lesen: »Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe« (Bild auf S. 305). Das Impfgeschehen in der DDR beurteilt M. Thießen als »Pragmatismus im Alltag«; er benennt »Aushandlungsprozesse« und eine frühe Entschädigung bei Impfschäden. Als in Westdeutschland 1960 noch Polio-Epidemien wüteten, war die DDR-Gesellschaft seit 1958 zu großen Teilen immunisiert gegen die Kinderlähmung – auch hier gab es einen Systemwettbewerb.
Wer sich sachlich-inhaltlich auf die kommenden Auseinandersetzungen um die Coronaschutz-Pflicht-Impfung vorbereiten möchte, dem sei dieses Buch sehr zur Lektüre empfohlen.
Ein Aufarbeitungskapitel über die Rolle der Massenmedien, der Qualitätszeitungen, des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens und der BigPharma-Unternehmen im Zusammenspiel mit der Politik während und bei der Bewältigung der Corona-Pandemie steht allerdings noch aus.
Malte Thießen: »Immunisierte Gesellschaft: Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft), Gebundene Ausgabe 2017, Sonderausgabe 2021.