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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Immanuel Kant und der Ukrainekrieg

Vor 400 Jah­ren wur­de Imma­nu­el Kant gebo­ren, der mit sei­ner »Kri­tik der rei­nen Ver­nunft« einen Wen­de­punkt in der Phi­lo­so­phie ein­ge­läu­tet hat. Die­ser Wen­de­punkt wird gemein­hin mit dem Begriff der »Auf­klä­rung« umschrie­ben und gern mit fol­gen­den Wor­ten Kants umris­sen: »Habe den Mut, dich dei­nes eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen.« Seit dem Beginn des rus­si­schen Angriffs­krie­ges gegen die Ukrai­ne leben wir in einer Zeit, die im histo­ri­schen Rück­blick wohl als eine Epo­che betrach­tet wer­den wird, in der die glo­ba­len geo­po­li­ti­schen Koor­di­na­ten voll­kom­men ero­diert sind. Und als eine Zeit, in der die zen­tra­le Her­aus­for­de­rung der Staa­ten­ge­mein­schaft dar­in bestan­den hat, jene Koor­di­na­ten neu zu justie­ren und dabei einen gerech­ten Aus­gleich zwi­schen sich man­nig­fal­tig wider­spre­chen­der mul­ti­na­tio­na­ler Inter­es­sen zu fin­den. Den Blick auf die Gescheh­nis­se in Deutsch­land len­kend, wird dabei manch ein Histo­ri­ker den Scholz­schen Aus­spruch der »Zei­ten­wen­de« bemü­hen, um den gesell­schafts­po­li­ti­schen Sound die­ser Zeit retro­spek­tiv erah­nen zu lassen.

Infol­ge der aus dem Ukrai­ne­krieg resul­tie­ren­den geo­po­li­ti­schen Ver­wer­fun­gen, deren Lang­zeit­fol­gen noch immer einer Black-Box gleich­kom­men, ist uns Imma­nu­el Kant auf ein­mal wie­der ganz nahe­ge­rückt, sofern wir bereit sind, ihm die Rol­le eines mora­li­schen Kom­pass­ge­bers in unse­ren gegen­wär­ti­gen Kriegs­zei­ten zuzu­ge­ste­hen. »Hät­te Kant Pan­zer an die Ukrai­ne gelie­fert? Wahr­schein­lich, aller­dings nicht ohne Auf­la­gen zu for­mu­lie­ren«, schreibt Mar­kus Tie­de­mann (Pro­fes­sor für Didak­tik der Phi­lo­so­phie an der TU Dres­den) in einem Bei­trag für die Frank­fur­ter Rund­schau und betont, dass, der Frie­dens­ethik Kants fol­gend, die Moti­ve des Geg­ners »nicht unge­prüft auf rei­ne Bös­ar­tig­keit ver­kürzt wer­den« dür­fen. Es bestehe dem­zu­fol­ge eine mora­li­sche Pflicht, »alles für den Erhalt oder die Reani­ma­ti­on natio­na­ler Ver­stän­di­gung zu tun«, so Tie­de­mann, um aus der Sack­gas­se einer ein­di­men­sio­na­len Schuld­zu­wei­sung und einer Tabui­sie­rung der eige­nen kriegs­be­för­dern­den Ver­feh­lun­gen zu kommen.

In sei­nem phi­lo­so­phi­schen Ent­wurf »Zum ewi­gen Frie­den« kon­sta­tiert Kant hier­zu: »Es soll sich kein Staat im Krie­ge mit einem andern sol­che Feind­se­lig­kei­ten erlau­ben, wel­che das wech­sel­sei­ti­ge Zutrau­en im künf­ti­gen Frie­den unmög­lich machen müs­sen.« – »Denn irgend­ein Ver­trau­en auf die Den­kungs­art des Fein­des muss mit­ten im Krie­ge noch übrig­blei­ben, weil sonst auch kein Frie­de abge­schlos­sen wer­den könn­te, und die Feind­se­lig­keit in einen Aus­rot­tungs­krieg (bel­lum inter­ne­cinum) aus­schla­gen wür­de«, so Kant.

Die Hal­tung hoch­ran­gi­ger Man­dats­trä­ger inner­halb des west­li­chen Mili­tär­bünd­nis­ses zum Krieg in der Ukrai­ne und ihre dar­aus resul­tie­ren­den For­de­run­gen an Russ­land spre­chen indes eine voll­kom­men ande­re Spra­che, vom Gei­ste Kants ist dabei nur wenig bis nichts zu spü­ren. Im Gegen­teil wird hier ver­bal eine voll­kom­men ent­grenz­te Schlacht geführt, die in tota­li­tä­rem Duk­tus gar bis hin zu einer »Desub­jek­ti­vie­rung Russ­lands als staat­li­ches Gebil­de« (Ole­xij Dani­low) reicht.

Der lang­jäh­ri­ge EU-Kom­mis­sar und Vize­prä­si­dent der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on Gün­ter Ver­heu­gen hat in einem Gast­bei­trag für das Maga­zin Cice­ro erklärt, dass es einen dau­er­haf­ten Frie­den in Euro­pa »nur mit Russ­land geben« kön­ne. Ver­heu­gen warnt des­halb aus­drück­lich davor, dass »der ukrai­ni­schen Regime-Chan­ce-Posi­ti­on« vom Westen nicht ent­schie­den wider­spro­chen wer­de: »Wir wer­den immer mehr Mit­tel auf­wen­den, für den unpro­duk­tiv­sten aller Zwecke, näm­lich für Rüstung. Und wir wer­den uns trotz­dem nicht wirk­lich sicher füh­len. Weil die Erkennt­nis, dass es dau­er­haf­te Sicher­heit und damit Frie­den nur gemein­sam geben kann, kein histo­ri­scher Irr­tum ist, son­dern eine Leh­re aus unse­rer Geschich­te, die von kei­ner ›Zei­ten­wen­de‹ aus­ra­diert wer­den kann«, so Verheugen.

Erst vor weni­gen Tagen hat das Stock­hol­mer Frie­dens­for­schungs­in­sti­tut SIPRI die welt­wei­ten Mili­tär­aus­ga­ben des ver­gan­ge­nen Jah­res auf die unvor­stell­ba­re Sum­me von 2,24 Bil­lio­nen US-Dol­lar taxiert, was einem bis­he­ri­gen Rekord­wert ent­spricht. Dem gegen­über ver­ab­schie­de­ten bereits im Sep­tem­ber 2015 193 Mit­glieds­staa­ten der Ver­ein­ten Natio­nen die Agen­da 2030, mit der 17 glo­ba­le Zie­le für nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung (Sus­tainable Deve­lo­p­ment Goals) for­mu­liert wor­den sind: * Armut been­den * Ernäh­rung sichern * Gesun­des Leben für alle * Bil­dung für alle * Gleich­stel­lung der Geschlech­ter * Was­ser und Sani­tär­ver­sor­gung für alle * Nach­hal­ti­ges Wirt­schafts­wachs­tum und men­schen­wür­di­ge Arbeit für alle * Wider­stands­fä­hi­ge Infra­struk­tur und nach­hal­ti­ge Indu­stria­li­sie­rung * Ungleich­heit ver­rin­gern * Nach­hal­ti­ge Städ­te und Sied­lun­gen * Nach­hal­ti­ge Kon­sum- und Pro­duk­ti­ons­wei­sen * Bekämp­fung des Kli­ma­wan­dels und sei­ner Aus­wir­kun­gen * Ozea­ne erhal­ten * Land­öko­sy­ste­me schüt­zen * Fried­li­che und inklu­si­ve Gesell­schaf­ten * Umset­zungs­mit­tel und Glo­ba­le Part­ner­schaft stärken.

2,24 Bil­lio­nen US-Dol­lar für Rüstungs­aus­ga­ben im Jahr 2022? Wel­che Alter­na­ti­ven könn­te es 2023, 2024 … dazu geben? »Habe den Mut, dich dei­nes eige­nen Ver­stan­des zu bedienen.«