Vor 400 Jahren wurde Immanuel Kant geboren, der mit seiner »Kritik der reinen Vernunft« einen Wendepunkt in der Philosophie eingeläutet hat. Dieser Wendepunkt wird gemeinhin mit dem Begriff der »Aufklärung« umschrieben und gern mit folgenden Worten Kants umrissen: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine leben wir in einer Zeit, die im historischen Rückblick wohl als eine Epoche betrachtet werden wird, in der die globalen geopolitischen Koordinaten vollkommen erodiert sind. Und als eine Zeit, in der die zentrale Herausforderung der Staatengemeinschaft darin bestanden hat, jene Koordinaten neu zu justieren und dabei einen gerechten Ausgleich zwischen sich mannigfaltig widersprechender multinationaler Interessen zu finden. Den Blick auf die Geschehnisse in Deutschland lenkend, wird dabei manch ein Historiker den Scholzschen Ausspruch der »Zeitenwende« bemühen, um den gesellschaftspolitischen Sound dieser Zeit retrospektiv erahnen zu lassen.
Infolge der aus dem Ukrainekrieg resultierenden geopolitischen Verwerfungen, deren Langzeitfolgen noch immer einer Black-Box gleichkommen, ist uns Immanuel Kant auf einmal wieder ganz nahegerückt, sofern wir bereit sind, ihm die Rolle eines moralischen Kompassgebers in unseren gegenwärtigen Kriegszeiten zuzugestehen. »Hätte Kant Panzer an die Ukraine geliefert? Wahrscheinlich, allerdings nicht ohne Auflagen zu formulieren«, schreibt Markus Tiedemann (Professor für Didaktik der Philosophie an der TU Dresden) in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau und betont, dass, der Friedensethik Kants folgend, die Motive des Gegners »nicht ungeprüft auf reine Bösartigkeit verkürzt werden« dürfen. Es bestehe demzufolge eine moralische Pflicht, »alles für den Erhalt oder die Reanimation nationaler Verständigung zu tun«, so Tiedemann, um aus der Sackgasse einer eindimensionalen Schuldzuweisung und einer Tabuisierung der eigenen kriegsbefördernden Verfehlungen zu kommen.
In seinem philosophischen Entwurf »Zum ewigen Frieden« konstatiert Kant hierzu: »Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen.« – »Denn irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Kriege noch übrigbleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ausschlagen würde«, so Kant.
Die Haltung hochrangiger Mandatsträger innerhalb des westlichen Militärbündnisses zum Krieg in der Ukraine und ihre daraus resultierenden Forderungen an Russland sprechen indes eine vollkommen andere Sprache, vom Geiste Kants ist dabei nur wenig bis nichts zu spüren. Im Gegenteil wird hier verbal eine vollkommen entgrenzte Schlacht geführt, die in totalitärem Duktus gar bis hin zu einer »Desubjektivierung Russlands als staatliches Gebilde« (Olexij Danilow) reicht.
Der langjährige EU-Kommissar und Vizepräsident der Europäischen Kommission Günter Verheugen hat in einem Gastbeitrag für das Magazin Cicero erklärt, dass es einen dauerhaften Frieden in Europa »nur mit Russland geben« könne. Verheugen warnt deshalb ausdrücklich davor, dass »der ukrainischen Regime-Chance-Position« vom Westen nicht entschieden widersprochen werde: »Wir werden immer mehr Mittel aufwenden, für den unproduktivsten aller Zwecke, nämlich für Rüstung. Und wir werden uns trotzdem nicht wirklich sicher fühlen. Weil die Erkenntnis, dass es dauerhafte Sicherheit und damit Frieden nur gemeinsam geben kann, kein historischer Irrtum ist, sondern eine Lehre aus unserer Geschichte, die von keiner ›Zeitenwende‹ ausradiert werden kann«, so Verheugen.
Erst vor wenigen Tagen hat das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI die weltweiten Militärausgaben des vergangenen Jahres auf die unvorstellbare Summe von 2,24 Billionen US-Dollar taxiert, was einem bisherigen Rekordwert entspricht. Dem gegenüber verabschiedeten bereits im September 2015 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die Agenda 2030, mit der 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) formuliert worden sind: * Armut beenden * Ernährung sichern * Gesundes Leben für alle * Bildung für alle * Gleichstellung der Geschlechter * Wasser und Sanitärversorgung für alle * Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle * Widerstandsfähige Infrastruktur und nachhaltige Industrialisierung * Ungleichheit verringern * Nachhaltige Städte und Siedlungen * Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen * Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen * Ozeane erhalten * Landökosysteme schützen * Friedliche und inklusive Gesellschaften * Umsetzungsmittel und Globale Partnerschaft stärken.
2,24 Billionen US-Dollar für Rüstungsausgaben im Jahr 2022? Welche Alternativen könnte es 2023, 2024 … dazu geben? »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«