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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Wartesaal

Lite­ra­tur aus Süd­ost­eu­ro­pa fin­det im deutsch­spra­chi­gen Raum sel­ten grö­ße­re Auf­merk­sam­keit oder eine in den Buch­hand­lun­gen deut­lich sicht­ba­re Prä­sen­ta­ti­on, geschwei­ge denn Ein­gang in Best­sel­ler­li­sten. Das gilt für Bücher aus den Nach­fol­ge­staa­ten des ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­ens eben­so wie für Lite­ra­tur aus Bul­ga­ri­en oder Alba­ni­en. Selbst Autorin­nen und Autoren aus Grie­chen­land tre­ten hier­zu­lan­de sel­ten in Erscheinung.

Umso ver­dienst­vol­ler war Ende April auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se eine Ver­an­stal­tungs­rei­he des euro­päi­schen Netz­werks TRADUKI, die den kul­tu­rel­len Aus­tausch zwi­schen der deutsch­spra­chi­gen und der süd­ost­eu­ro­päi­schen Lite­ra­tur­sze­ne sowie den ver­schie­de­nen süd­ost­eu­ro­päi­schen Sprach­ge­mein­schaf­ten unter­ein­an­der för­dern sollte.

Einer der Pro­gramm­punk­te, zu dem gemein­sam mit dem Mes­se-Gast­land Öster­reich und dem Weid­le Ver­lag, Bonn, ein­ge­la­den wor­den war, beschäf­tig­te sich spe­zi­ell mit Alba­ni­en, das von 1944 bis zu sei­nem Herz­tod im Jah­re 1985 von Enver Hod­scha, dem Gene­ral­se­kre­tär des Zen­tral­ko­mi­tees der Par­tei der Arbeit, dik­ta­to­risch regiert wor­den war.

Die »Sozia­li­sti­sche Volk­re­pu­blik Alba­ni­en« ist inzwi­schen pas­sé, das Land befin­det sich »im War­te­saal Euro­pas«, wie die Ver­an­stal­tung über­schrie­ben wor­den war. Die Euro­päi­sche Uni­on und Alba­ni­en füh­ren seit 2003 Gesprä­che über einen Bei­tritt, seit 2014 ist das Land offi­zi­ell EU-Bei­tritts­kan­di­dat. Fol­ge­rich­tig frag­ten sich daher auf dem Podi­um die in Bonn leben­de alba­ni­sche Autorin und Jour­na­li­stin Lin­di­ta Ara­pi sowie Vedran Dži­hić, Seni­or Rese­ar­cher am Öster­rei­chi­schen Insti­tut für Inter­na­tio­na­le Poli­tik und Lek­tor an der Uni­ver­si­tät Wien, wann end­lich Bewe­gung in die Geschich­te kom­me. Die defi­ni­ti­ve Ant­wort muss­te offen­blei­ben, denn erst im Juli 2022 wur­den die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen eröff­net. Immer­hin unter­strich die EU im Dezem­ber 2022 auf einer Kon­fe­renz in Tira­na ihren Wil­len zur Auf­nah­me Alba­ni­ens und ande­rer süd­ost­eu­ro­päi­scher Staaten.

Nach der Gesprächs­run­de las Ara­pi aus ihrem in die­sem Früh­jahr im Weid­le Ver­lag ver­öf­fent­lich­ten Roman Alba­ni­sche Schwe­stern, des­sen Ori­gi­nal­aus­ga­be 2019 in Tira­na erschie­nen ist. Eine die­ser alba­ni­schen Schwe­stern ist die Sozi­al­ar­bei­te­rin Alba, eine End­drei­ßi­ge­rin, der es gelun­gen ist, das bedrücken­de Alba­ni­en ihrer Kind­heit und Jugend sowie das von Rigi­di­tät, patri­ar­cha­ler Stren­ge und Gewalt gepräg­te Eltern­haus zu ver­las­sen und sich eine Exi­stenz in Wien auf­zu­bau­en, wo sie zusam­men mit ihrem Mann, einem Infor­ma­ti­ker, lebt, aller­dings ohne sich hier zu Hau­se zu fühlen.

Alba wird immer noch von in ihren Erin­ne­run­gen ein­ge­schlos­se­nen Äng­sten geplagt: »Sie beschloss raus­zu­ge­hen. Schließ­lich ging es nur dar­um, etwas im Super­markt zu kau­fen, mach­te sie sich Mut. Du musst ja mit nie­man­dem ein Wort wech­seln, erle­di­ge rasch dei­ne Sachen und komm zurück. (…) Alba ging abseits mit gesenk­tem Kopf, damit ihre Blicke nie­man­den tra­fen, und trat in den Laden.« Unter­wegs hat­te sie ein Mäd­chen beob­ach­tet, das mit einem Krei­sel spiel­te. »Sie hät­te sich ger­ne zu dem sorg­lo­sen Mäd­chen gesetzt, um noch ein­mal das Kind zu sein, das sie nicht war, aber der Krei­sel des Schick­sals lässt sich nicht zurückdrehen.«

Der Krei­sel des Schick­sals. Rück­blen­den in die alba­ni­sche Klein­stadt der 1980er und 1990er Jah­re, in der sie auf­ge­wach­sen ist, machen die Ursa­chen ihrer Lebens­kri­se und ihrer Äng­ste nach­voll­zieh­bar. Ich zitie­re aus der Ver­lags­an­kün­di­gung: »In ihren Erin­ne­run­gen und in ihrem aktu­el­len Leben spie­geln sich die Ambi­va­lenz und inne­re Gebro­chen­heit einer See­le, die zwi­schen Auf­be­geh­ren, Eman­zi­pa­ti­ons­wil­len und dem Wunsch, end­lich Ruhe zu fin­den, immer wie­der die Fes­seln der Ver­gan­gen­heit zu spü­ren bekommt.«

In Alba­ni­en lebt noch die älte­re Schwe­ster Pran­ve­ra, mit der Alba abends tele­fo­niert, die als jun­ge Frau von einer Schön­heit gewe­sen war, »die nicht län­ger tröpf­chen­wei­se floss, son­dern alle Däm­me gebro­chen hat­te und jedem den Ver­stand raub­te«, so dass das gan­ze Städt­chen sie »eine Pan­do­ra« nann­te. Doch die Mut­ter moch­te kei­ne hüb­schen Mäd­chen: »Die Angst, ihre Töch­ter könn­ten zu Flitt­chen wer­den, war stär­ker als der Mut­ter­stolz. Angst war eine Macht, die kei­ne Sinn­lich­keit zuließ. Eine jun­ge Frau hat­te nur am Tag ihrer Hoch­zeit schön zu sein, und damit genug. Das Mäd­chen setzt das Cha­os in die Welt, die Frau steckt den Teu­fel in die Flasche.«

Als der Vater stirbt, »kehr­te Alba in ihr Hei­mat­land zurück und fand eine Wüste vor. In jeder Fami­lie gab es min­de­stens eine Per­son, die aus­ge­wan­dert war. Die jun­gen Leu­te gin­gen weg, sobald sie ihre Mit­tel­schu­le abge­schlos­sen hat­ten, und wer es nicht schaff­te, ins Aus­land zu gehen, ver­ließ Tira­na nicht mehr.« Alba »erleb­te eine ver­las­se­ne Stadt im Still­stand, ein­sa­me Alte, die den gan­zen Tag auf einen Anruf der in den Westen emi­grier­ten Kin­der war­ten«, demü­tig und mit gebro­che­nem Her­zen. Deren Ver­las­sen­sein und Ver­wahr­lo­sung löst in Alba den Impuls aus, vor­erst nicht mehr nach Wien zurück­zu­keh­ren und statt­des­sen den alten Men­schen in ihrer Hei­mat­stadt zu helfen.

Alba war plötz­lich »von dem Gefühl über­wäl­tigt wor­den, dass sie etwas tun muss­te«. Sie nimmt auch kei­ne Trop­fen mehr gegen die Angst, wie zuvor, »sie hat­te beschlos­sen, sie zu ertra­gen, selbst wenn sie vor lau­ter Panik kei­ne Luft mehr bekä­me«, sie fühlt, »dass jetzt ein neu­er Lebens­ab­schnitt begann, der ihr Ener­gie gab. Die Wen­dun­gen des Lebens kom­men ohne gro­ßes Tam­tam daher. Es kommt vor, dass du einen neu­en Weg ein­schlägst, es selbst nicht bemerkst und erst spä­ter begreifst.«

Die Autorin wur­de 1972 in Lushn­ja gebo­ren, einer Stadt in Mit­tel­al­ba­ni­en, unweit der adria­ti­schen Küste. In kom­mu­ni­sti­scher Zeit gab es in der Nähe Straf­la­ger und Inter­nie­rungs­dör­fer für poli­tisch Ver­folg­te. Im Roman nahm der Vater sei­ne bei­den Töch­ter eines Tages mit, um ihnen ein Inter­nie­rungs­la­ger zu zei­gen. »Er ging nicht sehr nah an die Baracken her­an, son­dern erklär­te ihnen in gebüh­ren­dem Abstand, dass sie die­ses Schick­sal erei­len wür­de, wenn sie den Mund auf­mach­ten.« Und noch ein­mal mahnt er sie ein­dring­lich: »Redet nie schlecht über die Par­tei, sie steht über allem, verstanden?«

Lin­di­ta Ara­pi hat­te ver­stan­den. Sie ver­ließ mit 24 Alba­ni­en, zog nach Deutsch­land. Sie ist ver­hei­ra­tet, hat zwei Töch­ter und ist heu­te eine der wich­tig­sten alba­ni­schen Autorin­nen. Ihre Lesung auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se kam so gut an, dass ihre Bücher am Mes­se­stand des Ver­lags rasch aus­ver­kauft waren.

Lin­di­ta Ara­pi: Alba­ni­sche Schwe­stern. Aus dem Alba­ni­schen über­setzt von Flo­ri­an Kienz­le, Weid­le Ver­lag 2023, 238 S., 25 €. (Die Bücher des Weid­le Ver­lags erschei­nen in unre­for­mier­ter Recht­schrei­bung. In den aus­ge­wähl­ten Zita­ten hat Ossietzky die aktu­el­le Recht­schrei­bung verwendet.)