Literatur aus Südosteuropa findet im deutschsprachigen Raum selten größere Aufmerksamkeit oder eine in den Buchhandlungen deutlich sichtbare Präsentation, geschweige denn Eingang in Bestsellerlisten. Das gilt für Bücher aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens ebenso wie für Literatur aus Bulgarien oder Albanien. Selbst Autorinnen und Autoren aus Griechenland treten hierzulande selten in Erscheinung.
Umso verdienstvoller war Ende April auf der Leipziger Buchmesse eine Veranstaltungsreihe des europäischen Netzwerks TRADUKI, die den kulturellen Austausch zwischen der deutschsprachigen und der südosteuropäischen Literaturszene sowie den verschiedenen südosteuropäischen Sprachgemeinschaften untereinander fördern sollte.
Einer der Programmpunkte, zu dem gemeinsam mit dem Messe-Gastland Österreich und dem Weidle Verlag, Bonn, eingeladen worden war, beschäftigte sich speziell mit Albanien, das von 1944 bis zu seinem Herztod im Jahre 1985 von Enver Hodscha, dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei der Arbeit, diktatorisch regiert worden war.
Die »Sozialistische Volkrepublik Albanien« ist inzwischen passé, das Land befindet sich »im Wartesaal Europas«, wie die Veranstaltung überschrieben worden war. Die Europäische Union und Albanien führen seit 2003 Gespräche über einen Beitritt, seit 2014 ist das Land offiziell EU-Beitrittskandidat. Folgerichtig fragten sich daher auf dem Podium die in Bonn lebende albanische Autorin und Journalistin Lindita Arapi sowie Vedran Džihić, Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik und Lektor an der Universität Wien, wann endlich Bewegung in die Geschichte komme. Die definitive Antwort musste offenbleiben, denn erst im Juli 2022 wurden die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Immerhin unterstrich die EU im Dezember 2022 auf einer Konferenz in Tirana ihren Willen zur Aufnahme Albaniens und anderer südosteuropäischer Staaten.
Nach der Gesprächsrunde las Arapi aus ihrem in diesem Frühjahr im Weidle Verlag veröffentlichten Roman Albanische Schwestern, dessen Originalausgabe 2019 in Tirana erschienen ist. Eine dieser albanischen Schwestern ist die Sozialarbeiterin Alba, eine Enddreißigerin, der es gelungen ist, das bedrückende Albanien ihrer Kindheit und Jugend sowie das von Rigidität, patriarchaler Strenge und Gewalt geprägte Elternhaus zu verlassen und sich eine Existenz in Wien aufzubauen, wo sie zusammen mit ihrem Mann, einem Informatiker, lebt, allerdings ohne sich hier zu Hause zu fühlen.
Alba wird immer noch von in ihren Erinnerungen eingeschlossenen Ängsten geplagt: »Sie beschloss rauszugehen. Schließlich ging es nur darum, etwas im Supermarkt zu kaufen, machte sie sich Mut. Du musst ja mit niemandem ein Wort wechseln, erledige rasch deine Sachen und komm zurück. (…) Alba ging abseits mit gesenktem Kopf, damit ihre Blicke niemanden trafen, und trat in den Laden.« Unterwegs hatte sie ein Mädchen beobachtet, das mit einem Kreisel spielte. »Sie hätte sich gerne zu dem sorglosen Mädchen gesetzt, um noch einmal das Kind zu sein, das sie nicht war, aber der Kreisel des Schicksals lässt sich nicht zurückdrehen.«
Der Kreisel des Schicksals. Rückblenden in die albanische Kleinstadt der 1980er und 1990er Jahre, in der sie aufgewachsen ist, machen die Ursachen ihrer Lebenskrise und ihrer Ängste nachvollziehbar. Ich zitiere aus der Verlagsankündigung: »In ihren Erinnerungen und in ihrem aktuellen Leben spiegeln sich die Ambivalenz und innere Gebrochenheit einer Seele, die zwischen Aufbegehren, Emanzipationswillen und dem Wunsch, endlich Ruhe zu finden, immer wieder die Fesseln der Vergangenheit zu spüren bekommt.«
In Albanien lebt noch die ältere Schwester Pranvera, mit der Alba abends telefoniert, die als junge Frau von einer Schönheit gewesen war, »die nicht länger tröpfchenweise floss, sondern alle Dämme gebrochen hatte und jedem den Verstand raubte«, so dass das ganze Städtchen sie »eine Pandora« nannte. Doch die Mutter mochte keine hübschen Mädchen: »Die Angst, ihre Töchter könnten zu Flittchen werden, war stärker als der Mutterstolz. Angst war eine Macht, die keine Sinnlichkeit zuließ. Eine junge Frau hatte nur am Tag ihrer Hochzeit schön zu sein, und damit genug. Das Mädchen setzt das Chaos in die Welt, die Frau steckt den Teufel in die Flasche.«
Als der Vater stirbt, »kehrte Alba in ihr Heimatland zurück und fand eine Wüste vor. In jeder Familie gab es mindestens eine Person, die ausgewandert war. Die jungen Leute gingen weg, sobald sie ihre Mittelschule abgeschlossen hatten, und wer es nicht schaffte, ins Ausland zu gehen, verließ Tirana nicht mehr.« Alba »erlebte eine verlassene Stadt im Stillstand, einsame Alte, die den ganzen Tag auf einen Anruf der in den Westen emigrierten Kinder warten«, demütig und mit gebrochenem Herzen. Deren Verlassensein und Verwahrlosung löst in Alba den Impuls aus, vorerst nicht mehr nach Wien zurückzukehren und stattdessen den alten Menschen in ihrer Heimatstadt zu helfen.
Alba war plötzlich »von dem Gefühl überwältigt worden, dass sie etwas tun musste«. Sie nimmt auch keine Tropfen mehr gegen die Angst, wie zuvor, »sie hatte beschlossen, sie zu ertragen, selbst wenn sie vor lauter Panik keine Luft mehr bekäme«, sie fühlt, »dass jetzt ein neuer Lebensabschnitt begann, der ihr Energie gab. Die Wendungen des Lebens kommen ohne großes Tamtam daher. Es kommt vor, dass du einen neuen Weg einschlägst, es selbst nicht bemerkst und erst später begreifst.«
Die Autorin wurde 1972 in Lushnja geboren, einer Stadt in Mittelalbanien, unweit der adriatischen Küste. In kommunistischer Zeit gab es in der Nähe Straflager und Internierungsdörfer für politisch Verfolgte. Im Roman nahm der Vater seine beiden Töchter eines Tages mit, um ihnen ein Internierungslager zu zeigen. »Er ging nicht sehr nah an die Baracken heran, sondern erklärte ihnen in gebührendem Abstand, dass sie dieses Schicksal ereilen würde, wenn sie den Mund aufmachten.« Und noch einmal mahnt er sie eindringlich: »Redet nie schlecht über die Partei, sie steht über allem, verstanden?«
Lindita Arapi hatte verstanden. Sie verließ mit 24 Albanien, zog nach Deutschland. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und ist heute eine der wichtigsten albanischen Autorinnen. Ihre Lesung auf der Leipziger Buchmesse kam so gut an, dass ihre Bücher am Messestand des Verlags rasch ausverkauft waren.
Lindita Arapi: Albanische Schwestern. Aus dem Albanischen übersetzt von Florian Kienzle, Weidle Verlag 2023, 238 S., 25 €. (Die Bücher des Weidle Verlags erscheinen in unreformierter Rechtschreibung. In den ausgewählten Zitaten hat Ossietzky die aktuelle Rechtschreibung verwendet.)