Es ist nicht anders als in Europa. Das Auto muss man unten stehen lassen, wenn man hoch hinauswill. Zum Vesuv geht es nur mit dem Bus, den Rest bis zum Krater erledigt man zu Fuß; beim Ätna auf Sizilien geht es auf vier Rädern durch Schlackefelder bis zu einem der zahlreichen Feuerschlünde, wo man sich den kalten Wind in über dreitausend Metern Höhe um die Nase wehen lässt. Dann besteigt man durchfroren das Gefährt und rollt wieder hinunter. Der Unterschied zum Naturschutzgebiet Daocheng Yading in der Provinz Sechuan besteht allenfalls darin, dass man beim Erwerb des Tickets seinen Ausweis oder Pass am Schalter vorweisen muss.
Die großen grünen Busse starten im Minutentakt, es geht auf über viertausend Meter hoch. Wie ich merke, erweist sich der Wetterbericht, den ich vorm Abflug in Berlin studiert hatte, als falsch. Dort hinten weit in China, in Tibet, würden mich Regen und einstellige Temperaturen erwarten, hieß es. So gewarnt, hatte ich mich entsprechend gewandet. Doch von einem tiefblauen Himmel strahlt eine ziemlich heiße Sonne, weshalb ich mir – wie die Mitfahrer auch – vorsichtshalber eine breitkrempige Mütze übergestülpt, jedoch die gefütterte Kutte im Koffer im Hotel gelassen habe. Wir wissen, dass in unseren Medien mit Unwissenheit oder Vorsatz manche Unwahrheit über dieses Land verbreitet wird. Dass aber selbst beim Wetter gelogen wird, überraschte mich denn doch ein wenig.
Der Bus hat keinen freien Platz mehr. Ich bekomme den 61., das ist der Notsitz neben dem Fahrer, und genieße somit das Privileg freier Sicht. Die Bremsen quietschen, und unablässig kommt die automatische Ansage aus dem Bordcomputer, dass der Pilot vorsichtiger und nicht zu schnell fahren solle. Das ist kein Witz: Ich habe mir die wiederholte Warnung übersetzen lassen: Sobald die zulässige Geschwindigkeit überschritten ist, schlägt die Technik Alarm.
Der junge Fahrer mit Sonnenhut schaut zu mir hinüber: Ob er darüber gequält lächelt oder sich amüsiert, weil ich mich an die Haltegriffe klammere, sobald er um eine scharfe Serpentinenkurve rauscht, bleibt mir verborgen. Ich kann durch das dunkle Glas seiner Sonnenbrille und wegen seines Mundschutzes keine Gefühlsregung erkennen. Und die strammen Waden, die aus seinen schwarzen Bermudas ragen, und die nackten braunen Oberarme verraten es mir auch nicht.
Inzwischen wird die Luft noch knapper, als sie bei der Abfahrt unten im Dorf Yading schon war. Ich merke das am Zischen der Flaschen mit Mundstück, die sich viele Touristen auf die Nase pressen. Die Luft enthält hier oben weniger als sechzig Prozent des Anteils an Sauerstoff, den wir zu ebener Erde atmen. Die Luft ist dünn, sagt man, was natürlich ein blödes Bild ist: allenfalls eine Suppe oder Farbe lässt sich verdünnen. Es gibt offenkundig eine ganze Industrie, die diesen Umstand als Geschäftsidee nutzt. Auf dem Weg hierher konnte man an jeder Tankstelle und in jedem Laden handliche Flaschen mit dem Aufdruck »Oxygen« in unterschiedlichen Größen erwerben. Mein Freund hatte leere Luftsäcke aus Beijing mitgebracht, die er, wie viele andere auch, an einer medizinischen Station für zwanzig Yuan – weniger als drei Euro – hatte füllen lassen. Auch er trägt schon Plasteschläuche vorm Gesicht. Die beiden Schlauchenden heißen Nasenbrille, obgleich man damit nicht sehen, sondern sie sich nur in die Nasenlöcher stopfen kann. Und seit Tagen schon wirft er sich mehrmals täglich irgendwelche roten Pillen ein, die der Höhenkrankheit vorbeugen sollen.
Was mich – jetzt greife ich vor – selbst überrascht: Ich bin von allen Beschwerden frei, obgleich ich mich der Unterstützung solcher Hilfsmittel verweigert hatte. Meinem verwunderten Freund erkläre ich es damit, dass ich vierzig Jahre in der DDR gelebt habe, da sei die Luft immer dünn gewesen. Irgendwie. Jedenfalls sei das ein gutes Training für den Himalaya gewesen …
Nach einer Dreiviertelstunde hält der Bus an der Station und spuckt die Touristen aus. Vor uns und nach uns passiert Gleiches; dutzende Busse, aber alle von einem Unternehmen. Es herrschen aufgeregtes Gewimmel und babylonisches Sprachgewirr, wenngleich nur Chinesen unterwegs sind – aber die kommen aus verschiedenen Landesteilen, wo unterschiedlich gesprochen wird. Dann geht es zunächst fünfhundert Meter steil bergauf. Links und rechts des Weges stehen Bänke, die, je höher wir schnaufend steigen, immer voller werden. Der Prozessionszug dünnt sich immer weiter aus. In der Tat: Jeder Schritt bereitet Mühe, und manch Wanderer hat ein paar Kilo zu viel auf den Rippen: Den Chinesen geht es sichtlich gut. Vielleicht liegt es an der Cola und den anderen zuckerhaltigen Brausen, die von der jungen Generation inzwischen für Nationalgetränke gehalten werden.
Oben schließlich erwartet uns ein Talkessel, den kahle steile Felsen und schneebedeckte Berge säumen. Alle so um die sechstausend Meter hoch. Ein buddhistisches Kloster mit goldenen Zinnen lassen wir rechts liegen, es grüßt malerisch aus dem satten Grün eines bewaldeten Berghanges. Durch die Ebene mäandert ein Flüsschen, die Tourismusbehörde wirbt mit der Zeile: »Das letzte reine Land auf unserem blauen Planeten«. Nun, ob es das letzte ist, wollen wir nicht hoffen. Aber umwerfend schön ist es allemal, weshalb die UNESCO vor über zwanzig Jahren es in ihr Programm »Mensch und Biosphäre« (MAN) eingebunden hat, ein grenzüberschreitendes Arbeitsprogramm von Natur- und Sozialwissenschaftlern. Damit werden die chinesischen Anstrengungen unterstützt, ökologisch schonend und nachhaltig die Existenzbedingungen der hier lebenden Menschen zu verbessern. Von denen sind neunzig Prozent Tibeter.
Die Wege durchs weite Tal führen kilometerweit über fein gefugte und mit Geländern versehene Holzstege. Und stand beim Bau ein Baum im Wege, wurde er nicht gefällt, sondern in den Steig integriert. Die Touristenwege führen zu mehreren Seen, die für die Buddhisten »heilig« sind wie die Berge ringsum, das größte Gewässer ist der Milchsee – und auch der »schönste«, was ich nicht bestätigen kann.
Am Perlsee drehen wir um, nachdem ich minutenlang den vielen zumeist jungen Menschen zugeschaut habe, wie sie vor der wahrlich gigantischen Kulisse des Mount Chanadorje (in der chinesischen Transkription: Xianuoduoji) sich selbst fotografierten für Follower und für die Familie. Während manche stocksteif vor der Kamera stehen, beherrschen die meisten die Kunst des Posens. Erstaunlich die Bandbreite bei Gesten und Grimassen, einige strecken alle viere von sich vor dem Stein, auf dem die Zahl 4.200 steht. So hoch und so tot, soll wohl das Bild berichten.
Zurück wählen wir einen anderen Weg, der Luftsack meines Freundes hat sich merklich geleert. Er schaut mich ungläubig an, weil ich weder Kopfschmerzen verspüre noch Druck auf der Lunge. Treibst du viel Sport, fragt er, und ich entgegne, dass ich es mit Churchill halte. Allerdings würde ich nicht wie dieser täglich zwei Flaschen Whisky leeren und auch keine Zigarren rauchen, eben nur: no sports.
Vielleicht sollte er es ebenso halten, entgegnet mein chinesischer Gefährte, und nicht mehr täglich tausend Meter schwimmen, wie er es tue, wenn er in Beijing sei.
Dann steigen wir wieder in den kleinen Bus, danach in den großen, der uns nach Yading Village bringt, wo unser Auto im Parkhaus steht. Das ist riesig. Wir sind nicht die einzigen, die durch Etagen und Autoreihen irren auf der Suche nach ihrem Gefährt. Auch andere haben die Nummer des Stellplatzes vergessen. Endlich sind wir fündig. Jetzt sollten wir was essen, sagt mein Freund erleichtert. Wir kehren in einem kleinen Restaurant im Ort ein, vorm Haus fließen ein Bächlein und der Verkehrsstrom. Die Geschäfte scheinen nicht gut zu laufen, wir sind die einzigen Gäste. Der Tourismus käme erst jetzt wieder auf Touren, sagt der Wirt, der nebenher auch noch Sauerstoffflaschen, Getränke und Souvenirs anbietet. Als der Kredit abgezahlt war und er Geld verdienen konnte, sei die Pandemie gekommen. Seine Kollegen links und rechts sind in dieser schrecklichen Zeit pleite gegangen, er habe von den Reserven gelebt. Die anderen hatten offenbar keine, nun stehen ihre Räume leer und zum Verkauf.
An der Wand hängen Maos und Dengs Konterfei. Und wo ist das dritte?
Xi sei für ihn ein Mann des Übergangs, sagt er trocken.
Wenn man zwischen Jahrmillionen alten Bergriesen lebt, ist alles relativ. Zeit wie Bedeutung. Der Mann nimmt kein Blatt vor den Mund. Wenn ich es recht bedenke: Das tat eigentlich niemand, mit denen wir bislang sprachen. Die mächtigen Berge erzeugen Demut und zeigen, wie winzig und unbedeutend der einzelne Mensch eigentlich doch ist.
Wir verlassen den kleinen Ort, in welchem angeblich nur dreißig Familien auf 4.060 Metern zu Hause sind, nicht gerechnet die vielen Hotels und Pensionen. Der Name heißt auf Tibetisch Ort, der der Sonne zugewandt ist. Im Autoradio kommt die Meldung, dass im ganzen Land 359 Millionen Menschen an diesem langen Wochenende zwischen Mondfest und Nationalfeiertag unterwegs seien, in den Großstädten wäre der Verkehr zum Erliegen gekommen.
Das kann ich nicht bestätigen: Hier oben sind die Straßen ziemlich leer. Noch.