Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Im Naturreservat von Daocheng Yading

Es ist nicht anders als in Euro­pa. Das Auto muss man unten ste­hen las­sen, wenn man hoch hin­aus­will. Zum Vesuv geht es nur mit dem Bus, den Rest bis zum Kra­ter erle­digt man zu Fuß; beim Ätna auf Sizi­li­en geht es auf vier Rädern durch Schlacke­fel­der bis zu einem der zahl­rei­chen Feu­er­schlün­de, wo man sich den kal­ten Wind in über drei­tau­send Metern Höhe um die Nase wehen lässt. Dann besteigt man durch­fro­ren das Gefährt und rollt wie­der hin­un­ter. Der Unter­schied zum Natur­schutz­ge­biet Daoch­eng Yading in der Pro­vinz Sechu­an besteht allen­falls dar­in, dass man beim Erwerb des Tickets sei­nen Aus­weis oder Pass am Schal­ter vor­wei­sen muss.

Die gro­ßen grü­nen Bus­se star­ten im Minu­ten­takt, es geht auf über vier­tau­send Meter hoch. Wie ich mer­ke, erweist sich der Wet­ter­be­richt, den ich vorm Abflug in Ber­lin stu­diert hat­te, als falsch. Dort hin­ten weit in Chi­na, in Tibet, wür­den mich Regen und ein­stel­li­ge Tem­pe­ra­tu­ren erwar­ten, hieß es. So gewarnt, hat­te ich mich ent­spre­chend gewan­det. Doch von einem tief­blau­en Him­mel strahlt eine ziem­lich hei­ße Son­ne, wes­halb ich mir – wie die Mit­fah­rer auch – vor­sichts­hal­ber eine breit­krem­pi­ge Müt­ze über­ge­stülpt, jedoch die gefüt­ter­te Kut­te im Kof­fer im Hotel gelas­sen habe. Wir wis­sen, dass in unse­ren Medi­en mit Unwis­sen­heit oder Vor­satz man­che Unwahr­heit über die­ses Land ver­brei­tet wird. Dass aber selbst beim Wet­ter gelo­gen wird, über­rasch­te mich denn doch ein wenig.

Der Bus hat kei­nen frei­en Platz mehr. Ich bekom­me den 61., das ist der Not­sitz neben dem Fah­rer, und genie­ße somit das Pri­vi­leg frei­er Sicht. Die Brem­sen quiet­schen, und unab­läs­sig kommt die auto­ma­ti­sche Ansa­ge aus dem Bord­com­pu­ter, dass der Pilot vor­sich­ti­ger und nicht zu schnell fah­ren sol­le. Das ist kein Witz: Ich habe mir die wie­der­hol­te War­nung über­set­zen las­sen: Sobald die zuläs­si­ge Geschwin­dig­keit über­schrit­ten ist, schlägt die Tech­nik Alarm.

Der jun­ge Fah­rer mit Son­nen­hut schaut zu mir hin­über: Ob er dar­über gequält lächelt oder sich amü­siert, weil ich mich an die Hal­te­grif­fe klam­me­re, sobald er um eine schar­fe Ser­pen­ti­nen­kur­ve rauscht, bleibt mir ver­bor­gen. Ich kann durch das dunk­le Glas sei­ner Son­nen­bril­le und wegen sei­nes Mund­schut­zes kei­ne Gefühls­re­gung erken­nen. Und die stram­men Waden, die aus sei­nen schwar­zen Ber­mu­das ragen, und die nack­ten brau­nen Ober­ar­me ver­ra­ten es mir auch nicht.

Inzwi­schen wird die Luft noch knap­per, als sie bei der Abfahrt unten im Dorf Yading schon war. Ich mer­ke das am Zischen der Fla­schen mit Mund­stück, die sich vie­le Tou­ri­sten auf die Nase pres­sen. Die Luft ent­hält hier oben weni­ger als sech­zig Pro­zent des Anteils an Sau­er­stoff, den wir zu ebe­ner Erde atmen. Die Luft ist dünn, sagt man, was natür­lich ein blö­des Bild ist: allen­falls eine Sup­pe oder Far­be lässt sich ver­dün­nen. Es gibt offen­kun­dig eine gan­ze Indu­strie, die die­sen Umstand als Geschäfts­idee nutzt. Auf dem Weg hier­her konn­te man an jeder Tank­stel­le und in jedem Laden hand­li­che Fla­schen mit dem Auf­druck »Oxy­gen« in unter­schied­li­chen Grö­ßen erwer­ben. Mein Freund hat­te lee­re Luft­säcke aus Bei­jing mit­ge­bracht, die er, wie vie­le ande­re auch, an einer medi­zi­ni­schen Sta­ti­on für zwan­zig Yuan – weni­ger als drei Euro – hat­te fül­len las­sen. Auch er trägt schon Pla­steschläu­che vorm Gesicht. Die bei­den Schlau­chen­den hei­ßen Nasen­bril­le, obgleich man damit nicht sehen, son­dern sie sich nur in die Nasen­lö­cher stop­fen kann. Und seit Tagen schon wirft er sich mehr­mals täg­lich irgend­wel­che roten Pil­len ein, die der Höhen­krank­heit vor­beu­gen sollen.

Was mich – jetzt grei­fe ich vor – selbst über­rascht: Ich bin von allen Beschwer­den frei, obgleich ich mich der Unter­stüt­zung sol­cher Hilfs­mit­tel ver­wei­gert hat­te. Mei­nem ver­wun­der­ten Freund erklä­re ich es damit, dass ich vier­zig Jah­re in der DDR gelebt habe, da sei die Luft immer dünn gewe­sen. Irgend­wie. Jeden­falls sei das ein gutes Trai­ning für den Hima­la­ya gewesen …

Nach einer Drei­vier­tel­stun­de hält der Bus an der Sta­ti­on und spuckt die Tou­ri­sten aus. Vor uns und nach uns pas­siert Glei­ches; dut­zen­de Bus­se, aber alle von einem Unter­neh­men. Es herr­schen auf­ge­reg­tes Gewim­mel und baby­lo­ni­sches Sprach­ge­wirr, wenn­gleich nur Chi­ne­sen unter­wegs sind – aber die kom­men aus ver­schie­de­nen Lan­des­tei­len, wo unter­schied­lich gespro­chen wird. Dann geht es zunächst fünf­hun­dert Meter steil berg­auf. Links und rechts des Weges ste­hen Bän­ke, die, je höher wir schnau­fend stei­gen, immer vol­ler wer­den. Der Pro­zes­si­ons­zug dünnt sich immer wei­ter aus. In der Tat: Jeder Schritt berei­tet Mühe, und manch Wan­de­rer hat ein paar Kilo zu viel auf den Rip­pen: Den Chi­ne­sen geht es sicht­lich gut. Viel­leicht liegt es an der Cola und den ande­ren zucker­hal­ti­gen Brau­sen, die von der jun­gen Gene­ra­ti­on inzwi­schen für Natio­nal­ge­trän­ke gehal­ten werden.

Oben schließ­lich erwar­tet uns ein Tal­kes­sel, den kah­le stei­le Fel­sen und schnee­be­deck­te Ber­ge säu­men. Alle so um die sechs­tau­send Meter hoch. Ein bud­dhi­sti­sches Klo­ster mit gol­de­nen Zin­nen las­sen wir rechts lie­gen, es grüßt male­risch aus dem sat­ten Grün eines bewal­de­ten Berg­han­ges. Durch die Ebe­ne mäan­dert ein Flüss­chen, die Tou­ris­mus­be­hör­de wirbt mit der Zei­le: »Das letz­te rei­ne Land auf unse­rem blau­en Pla­ne­ten«. Nun, ob es das letz­te ist, wol­len wir nicht hof­fen. Aber umwer­fend schön ist es alle­mal, wes­halb die UNESCO vor über zwan­zig Jah­ren es in ihr Pro­gramm »Mensch und Bio­sphä­re« (MAN) ein­ge­bun­den hat, ein grenz­über­schrei­ten­des Arbeits­pro­gramm von Natur- und Sozi­al­wis­sen­schaft­lern. Damit wer­den die chi­ne­si­schen Anstren­gun­gen unter­stützt, öko­lo­gisch scho­nend und nach­hal­tig die Exi­stenz­be­din­gun­gen der hier leben­den Men­schen zu ver­bes­sern. Von denen sind neun­zig Pro­zent Tibeter.

Die Wege durchs wei­te Tal füh­ren kilo­me­ter­weit über fein gefug­te und mit Gelän­dern ver­se­he­ne Holz­ste­ge. Und stand beim Bau ein Baum im Wege, wur­de er nicht gefällt, son­dern in den Steig inte­griert. Die Tou­ri­sten­we­ge füh­ren zu meh­re­ren Seen, die für die Bud­dhi­sten »hei­lig« sind wie die Ber­ge rings­um, das größ­te Gewäs­ser ist der Milch­see – und auch der »schön­ste«, was ich nicht bestä­ti­gen kann.

Am Perl­see dre­hen wir um, nach­dem ich minu­ten­lang den vie­len zumeist jun­gen Men­schen zuge­schaut habe, wie sie vor der wahr­lich gigan­ti­schen Kulis­se des Mount Cha­na­dor­je (in der chi­ne­si­schen Tran­skrip­ti­on: Xia­nuo­duo­ji) sich selbst foto­gra­fier­ten für Fol­lower und für die Fami­lie. Wäh­rend man­che stock­steif vor der Kame­ra ste­hen, beherr­schen die mei­sten die Kunst des Posens. Erstaun­lich die Band­brei­te bei Gesten und Gri­mas­sen, eini­ge strecken alle vie­re von sich vor dem Stein, auf dem die Zahl 4.200 steht. So hoch und so tot, soll wohl das Bild berichten.

Zurück wäh­len wir einen ande­ren Weg, der Luft­sack mei­nes Freun­des hat sich merk­lich geleert. Er schaut mich ungläu­big an, weil ich weder Kopf­schmer­zen ver­spü­re noch Druck auf der Lun­ge. Treibst du viel Sport, fragt er, und ich ent­geg­ne, dass ich es mit Chur­chill hal­te. Aller­dings wür­de ich nicht wie die­ser täg­lich zwei Fla­schen Whis­ky lee­ren und auch kei­ne Zigar­ren rau­chen, eben nur: no sports.

Viel­leicht soll­te er es eben­so hal­ten, ent­geg­net mein chi­ne­si­scher Gefähr­te, und nicht mehr täg­lich tau­send Meter schwim­men, wie er es tue, wenn er in Bei­jing sei.

Dann stei­gen wir wie­der in den klei­nen Bus, danach in den gro­ßen, der uns nach Yading Vil­la­ge bringt, wo unser Auto im Park­haus steht. Das ist rie­sig. Wir sind nicht die ein­zi­gen, die durch Eta­gen und Auto­rei­hen irren auf der Suche nach ihrem Gefährt. Auch ande­re haben die Num­mer des Stell­plat­zes ver­ges­sen. End­lich sind wir fün­dig. Jetzt soll­ten wir was essen, sagt mein Freund erleich­tert. Wir keh­ren in einem klei­nen Restau­rant im Ort ein, vorm Haus flie­ßen ein Bäch­lein und der Ver­kehrs­strom. Die Geschäf­te schei­nen nicht gut zu lau­fen, wir sind die ein­zi­gen Gäste. Der Tou­ris­mus käme erst jetzt wie­der auf Tou­ren, sagt der Wirt, der neben­her auch noch Sau­er­stoff­fla­schen, Geträn­ke und Sou­ve­nirs anbie­tet. Als der Kre­dit abge­zahlt war und er Geld ver­die­nen konn­te, sei die Pan­de­mie gekom­men. Sei­ne Kol­le­gen links und rechts sind in die­ser schreck­li­chen Zeit plei­te gegan­gen, er habe von den Reser­ven gelebt. Die ande­ren hat­ten offen­bar kei­ne, nun ste­hen ihre Räu­me leer und zum Verkauf.

An der Wand hän­gen Maos und Dengs Kon­ter­fei. Und wo ist das dritte?

Xi sei für ihn ein Mann des Über­gangs, sagt er trocken.

Wenn man zwi­schen Jahr­mil­lio­nen alten Berg­rie­sen lebt, ist alles rela­tiv. Zeit wie Bedeu­tung. Der Mann nimmt kein Blatt vor den Mund. Wenn ich es recht beden­ke: Das tat eigent­lich nie­mand, mit denen wir bis­lang spra­chen. Die mäch­ti­gen Ber­ge erzeu­gen Demut und zei­gen, wie win­zig und unbe­deu­tend der ein­zel­ne Mensch eigent­lich doch ist.

Wir ver­las­sen den klei­nen Ort, in wel­chem angeb­lich nur drei­ßig Fami­li­en auf 4.060 Metern zu Hau­se sind, nicht gerech­net die vie­len Hotels und Pen­sio­nen. Der Name heißt auf Tibe­tisch Ort, der der Son­ne zuge­wandt ist. Im Auto­ra­dio kommt die Mel­dung, dass im gan­zen Land 359 Mil­lio­nen Men­schen an die­sem lan­gen Wochen­en­de zwi­schen Mond­fest und Natio­nal­fei­er­tag unter­wegs sei­en, in den Groß­städ­ten wäre der Ver­kehr zum Erlie­gen gekommen.

Das kann ich nicht bestä­ti­gen: Hier oben sind die Stra­ßen ziem­lich leer. Noch.