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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Interview: Helmut Ortner

Im Inter­view: Hel­mut Ortner 

 

Es ist unüber­seh­bar, dass vie­le Men­schen – auch in der Poli­tik – das Wesen der Demo­kra­tie grund­le­gend miss­ver­ste­hen. Sie betrach­ten sie als so etwas wie eine Dik­ta­tur auf Zeit. Mit mehr­heit­lich, also in ihrem Sinn damit »demo­kra­tisch«, zustan­de gekom­me­nen Ent­schei­dun­gen wer­den grund­le­gen­de Frei­hei­ten und Rech­te ein­ge­schränkt. Bedenk­lich wird es dann, wenn Regie­run­gen Wei­chen stel­len, die gelie­he­ne Macht auf Dau­er festi­gen sol­len. Aus dei­ner Sicht brin­gen noch ande­re Ent­wick­lun­gen die Demo­kra­tie unter Druck.

  1. O.: Wir leben in tur­bu­len­ten Zei­ten. Die libe­ra­le Demo­kra­tie hat kei­nen leich­ten Stand. Die Hoff­nung auf eine fort­schrei­ten­de glo­ba­le Demo­kra­ti­sie­rung und eine dau­er­haf­te Welt­frie­dens­ord­nung, die noch vor Jah­ren als Mög­lich­keit erschien, hat sich auf­ge­löst. Statt­des­sen welt­weit Krieg, Flucht, Hun­ger. Dazu das men­schen­ge­mach­te Kli­ma-Desa­ster. Die Hoff­nung, die­se Pro­ble­me lösen zu kön­nen, schwin­det. Vor allem der Ver­lust von Zukunfts­glau­ben, die­se Pro­ble­me zu lösen, ist ein Pro­blem, denn Demo­kra­tie lebt auch immer von der Hoff­nung, dass Din­ge bes­ser wer­den. Doch dar­an glau­ben vie­le Men­schen nicht mehr. Dem­ago­gen, Popu­li­sten und Auto­kra­ten aller Cou­leurs erken­nen das und nut­zen die­se Äng­ste, um die Demo­kra­tie zu schwä­chen. Und vie­le Men­schen fol­gen ihnen all­zu bereit­wil­lig. Wo Ver­trau­en fehlt, ent­ste­hen Ent­täu­schung, Teil­nahms­lo­sig­keit und Verachtung.

Die FPÖ geht in Öster­reich eben­so gestärkt aus der Natio­nal­rats­wahl wie in Deutsch­land die AfD aus den Land­tags­wah­len in Bran­den­burg, Sach­sen und Thü­rin­gen. Der poli­tisch rech­te Rand oszil­liert in bei­den Län­dern um die 30 Pro­zent. Gegen­über erreicht das links­po­pu­li­sti­sche Bünd­nis Sahra Wagen­knecht auch durch­wegs über 10 Pro­zent. Ber­gen die­se Ent­wick­lun­gen demo­kra­tisch erlang­ter Macht Gefah­ren für die Demo­kra­tie an sich?

Popu­li­sten – ob von rechts oder links – nut­zen ihre par­la­men­ta­ri­sche Legi­ti­ma­ti­on, um demo­kra­ti­sche Grund­rech­te und Insti­tu­tio­nen zu desta­bi­li­sie­ren und ein­zu­schrän­ken. Das sehen wir in Ungarn, den Nie­der­lan­den oder Ita­li­en. Wenn sie die Regie­rungs­macht bekom­men, schrän­ken sie die Pres­se- und die Mei­nungs­frei­heit ein. Sie grei­fen in die Medi­en ein, ins Fern­se­hen – in Ita­li­en zum Bei­spiel. Der zwei­te Schritt ist die Schwä­chung der Judi­ka­ti­ve und ins­be­son­de­re der Ver­fas­sungs­ge­rich­te. Es ist immer das­sel­be Muster. Ich habe nicht die Hoff­nung, die­se Par­tei­en könn­ten sich demo­kra­tisch dome­sti­zie­ren las­sen. Des­we­gen glau­be ich, dass die so oft zitier­ten »Brand­mau­ern« Vor­aus­set­zung dafür sind, dass wir nicht einen schlei­chen­den Demo­kra­tie­ver­fall erle­ben müssen.

Dein neu­es Buch mit dem Titel »Hei­mat­kun­de« ist eine aktu­el­le Samm­lung von kri­ti­schen gesell­schafts­po­li­ti­schen Essays, deren Pro­blem­fel­der Demo­kra­tie in viel­fäl­ti­ger Wei­se berüh­ren. Ver­fas­sungs­schutz, Pres­se­frei­heit, reli­giö­se Pri­vi­le­gi­en – in vie­len Berei­chen wird Druck auf demo­kra­ti­sche Prin­zi­pi­en und Insti­tu­tio­nen aus­ge­übt. Erle­ben wir eine Ent­wer­tung der Demokratie?

Ja, denn Demo­kra­tie ist eine fra­gi­le Kon­struk­ti­on. Es braucht Trans­pa­renz und Ver­trau­en. Das ist die Wäh­rung der Demo­kra­tie. Man­gelt es dar­an, schafft das ein Kli­ma des Miss­trau­ens, der Angst, der Aggres­si­on. Die Wahl­er­geb­nis­se in Deutsch­land und in Öster­reich zei­gen, dass sich vie­le Men­schen von den tra­di­tio­nel­len Par­tien abwen­den, weil sie ihnen nicht mehr ver­trau­en, deut­li­cher: ihnen miss­trau­en. Nun gibt es Stim­men, die sagen: Solan­ge gewählt wird, haben wir eine intak­te Demo­kra­tie. Und dabei sei es egal, wer letzt­lich am Ende gewählt wird. Ich fin­de, sol­che Äuße­run­gen sind töricht und gefährlich.

Sicher, freie Wah­len reprä­sen­tie­ren den Wil­len der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Sie sind der Sou­ve­rän, aber mir fällt es schwer zu begrei­fen, wie jemand rechts­ra­di­ka­len, zum Teil faschi­sti­schen Par­tei­en wie der AfD oder der FPÖ sei­ne Stim­me gibt, die Geset­ze und Instru­men­te unse­res Rechts­staats aggres­siv dazu nut­zen, ihn zu beschä­di­gen und zu ver­höh­nen. Wer Anti-Demo­kra­ten wie Kickl in Öster­reich oder Höcke in Deutsch­land wählt, ist für mich ein Demokratie-Verächter.

Ist jede Stim­me für radi­ka­le Par­tei­en schon ein Angriff auf unse­re par­la­men­ta­ri­sche Demokratie?

Nein, in einem Rechts­staat klärt das eine unab­hän­gi­ge Justiz – und gegen deren Urtei­le kann man Rechts­mit­tel ein­le­gen. Doch unüber­seh­bar ist, dass die radi­ka­li­sier­te Peri­phe­rie der Gesell­schaft auch zuneh­mend von Men­schen der bür­ger­li­chen Mit­te besie­delt wird. Popu­lis­mus und Demo­kra­tie-Ver­ach­tung grei­fen nicht nur an den Rän­dern, son­dern zuneh­mend auch auf dem Golf­platz. Wir müs­sen da auf­pas­sen, was den demo­kra­ti­schen Him­mel ver­dun­kelt: Gesell­schaf­ten kön­nen Zivi­li­tät ler­nen – und ver­ler­nen. Es gibt einen Pro­zess der Ent-Demo­kra­ti­sie­rung, der nur schwer rever­si­bel ist. Das soll­te uns bewusst sein.

Der fried­li­che Macht­wech­sel als system­im­ma­nen­te Mecha­nik der Demo­kra­tie setzt einen Abtausch von Mei­nun­gen und auch lau­te, radi­ka­le und anti-syste­mi­sche Stim­men voraus.

Unbe­dingt. Eine Demo­kra­tie lebt von Aus­ein­an­der­set­zung, Dis­put und Gegen­re­de. Das ist der Sau­er­stoff für die Demo­kra­tie. Es geht aber auch dar­um, unse­re offe­ne Gesell­schaft gegen ihre fal­schen Freun­de und rich­ti­gen Fein­de zu ver­tei­di­gen. Gleich ob von rechts oder links. Gegen poli­ti­schen Fana­tis­mus und reli­giö­sen Wahn. Mein Buch ver­steht sich als ein Plä­doy­er zur Ver­tei­di­gung der offe­nen Gesell­schaft, aber auch als Ermun­te­rung zum pro­duk­ti­ven Streit.

Wor­über auch – seit Jah­ren andau­ernd und der­zeit wie­der aktu­ell – gestrit­ten wird, ist der Begriff »Leit­kul­tur«, den einst Bassam Tibi geprägt hat. Du wen­dest dich in dei­nem Buch gegen den Begriff »Leit­kul­tur« als poli­ti­sche Wer­te­ver­mitt­lung. Das Kon­zept sei­nes Leit­kul­tur-Begriffs bedeu­tet, dass es einen Wer­te­kern gibt, als Bün­del an Prin­zi­pi­en, die wir unse­rer Gesell­schaft unteil­bar zugrun­de legen. Wenn eine Leit­kul­tur nicht über die­sen Wer­te­kern hin­aus Men­schen über tra­di­tio­nel­le Wer­te und Tra­di­tio­nen an sich bin­den will, wel­che Prin­zi­pi­en rückst du an die Basis der Demokratie?

Wir haben durch­aus Grün­de, danach zu fra­gen, was uns als Gesell­schaft zusam­men­hält. Deutsch­land hat hun­dert­tau­sen­de Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men, die mei­sten aus sehr fer­nen Kul­tur­krei­sen, das stellt uns – und die Ange­kom­me­nen – vor immense Her­aus­for­de­run­gen. Gleich­zei­tig frem­delt der rech­te Rand der Gesell­schaft mit der soge­nann­ten libe­ra­len Mehr­heits­ge­sell­schaft, droht sich abzu­wen­den. Wann, wenn nicht jetzt, soll­ten wir dar­über nach­den­ken, was uns als Nati­on aus­macht und wel­che Wer­te uns wich­tig sind?

Jen­seits unse­rer Ver­fas­sung gehö­ren unse­re Spra­che oder tra­dier­te Gepflo­gen­hei­ten zu unse­rer gesell­schaft­li­chen DNA. Dass es einen gewach­se­nen Wer­te-Grund­ka­non braucht, das wird nie­mand bestrei­ten. Es dient unse­rer eige­nen Selbst­ver­ge­wis­se­rung eben­so wie bei­spiels­wei­se der Inte­gra­ti­on von Zuwan­de­rern, wenn wir uns als Gesell­schaft auf die­se Wer­te immer wie­der ver­stän­di­gen. Das Grund­ge­setz ist für mich – um ein Bild zu zeich­nen – dabei so etwas wie die »All­ge­mei­ne Bade­ord­nung«, aber um Schwim­men zu ler­nen, reicht sie nicht aus. Als Gesell­schaft müs­sen wir uns die Fra­ge stel­len, wer wir sind und was wir sein wol­len, als Land und als Gesell­schaft. In der gegen­wär­ti­gen »Leitkultur«-Diskussion ist mir zu viel von »natio­na­ler Iden­ti­tät« und zu wenig von »gesell­schaft­li­chem Kon­sens« die Rede. Aber klar, wir müs­sen die­se Debat­te füh­ren, schon allein, um sie nicht den Rech­ten zu überlassen.

Du schreibst »Vom ICH zum WIR – das ist die For­mel, die sich eine demo­kra­ti­sche Gesell­schaft im besten Fal­le selbst auf­er­legt«. Dass es dir dabei nicht um kol­lek­ti­vi­sti­sche Zurück­drän­gung indi­vi­du­el­ler Selbst­be­stim­mung geht, machst du deut­lich. Wie kann dei­ne For­mel kurz zusam­men­ge­fasst werden?

Nur gemein­sam ist unse­re Welt lebenswert.

Das Inter­view führ­te der öster­rei­chi­sche Jour­na­list Niko Alm.
Buch­hin­weis: Hel­mut Ort­ner: HEIMATKUNDE – Fal­sche Wahr­hei­ten. Rich­ti­ge Lügen. Poli­ti­sche Essays, Edi­ti­on Faust 2024, 220 S., 22 €.