Im Interview: Helmut Ortner
Es ist unübersehbar, dass viele Menschen – auch in der Politik – das Wesen der Demokratie grundlegend missverstehen. Sie betrachten sie als so etwas wie eine Diktatur auf Zeit. Mit mehrheitlich, also in ihrem Sinn damit »demokratisch«, zustande gekommenen Entscheidungen werden grundlegende Freiheiten und Rechte eingeschränkt. Bedenklich wird es dann, wenn Regierungen Weichen stellen, die geliehene Macht auf Dauer festigen sollen. Aus deiner Sicht bringen noch andere Entwicklungen die Demokratie unter Druck.
- O.: Wir leben in turbulenten Zeiten. Die liberale Demokratie hat keinen leichten Stand. Die Hoffnung auf eine fortschreitende globale Demokratisierung und eine dauerhafte Weltfriedensordnung, die noch vor Jahren als Möglichkeit erschien, hat sich aufgelöst. Stattdessen weltweit Krieg, Flucht, Hunger. Dazu das menschengemachte Klima-Desaster. Die Hoffnung, diese Probleme lösen zu können, schwindet. Vor allem der Verlust von Zukunftsglauben, diese Probleme zu lösen, ist ein Problem, denn Demokratie lebt auch immer von der Hoffnung, dass Dinge besser werden. Doch daran glauben viele Menschen nicht mehr. Demagogen, Populisten und Autokraten aller Couleurs erkennen das und nutzen diese Ängste, um die Demokratie zu schwächen. Und viele Menschen folgen ihnen allzu bereitwillig. Wo Vertrauen fehlt, entstehen Enttäuschung, Teilnahmslosigkeit und Verachtung.
Die FPÖ geht in Österreich ebenso gestärkt aus der Nationalratswahl wie in Deutschland die AfD aus den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Der politisch rechte Rand oszilliert in beiden Ländern um die 30 Prozent. Gegenüber erreicht das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht auch durchwegs über 10 Prozent. Bergen diese Entwicklungen demokratisch erlangter Macht Gefahren für die Demokratie an sich?
Populisten – ob von rechts oder links – nutzen ihre parlamentarische Legitimation, um demokratische Grundrechte und Institutionen zu destabilisieren und einzuschränken. Das sehen wir in Ungarn, den Niederlanden oder Italien. Wenn sie die Regierungsmacht bekommen, schränken sie die Presse- und die Meinungsfreiheit ein. Sie greifen in die Medien ein, ins Fernsehen – in Italien zum Beispiel. Der zweite Schritt ist die Schwächung der Judikative und insbesondere der Verfassungsgerichte. Es ist immer dasselbe Muster. Ich habe nicht die Hoffnung, diese Parteien könnten sich demokratisch domestizieren lassen. Deswegen glaube ich, dass die so oft zitierten »Brandmauern« Voraussetzung dafür sind, dass wir nicht einen schleichenden Demokratieverfall erleben müssen.
Dein neues Buch mit dem Titel »Heimatkunde« ist eine aktuelle Sammlung von kritischen gesellschaftspolitischen Essays, deren Problemfelder Demokratie in vielfältiger Weise berühren. Verfassungsschutz, Pressefreiheit, religiöse Privilegien – in vielen Bereichen wird Druck auf demokratische Prinzipien und Institutionen ausgeübt. Erleben wir eine Entwertung der Demokratie?
Ja, denn Demokratie ist eine fragile Konstruktion. Es braucht Transparenz und Vertrauen. Das ist die Währung der Demokratie. Mangelt es daran, schafft das ein Klima des Misstrauens, der Angst, der Aggression. Die Wahlergebnisse in Deutschland und in Österreich zeigen, dass sich viele Menschen von den traditionellen Partien abwenden, weil sie ihnen nicht mehr vertrauen, deutlicher: ihnen misstrauen. Nun gibt es Stimmen, die sagen: Solange gewählt wird, haben wir eine intakte Demokratie. Und dabei sei es egal, wer letztlich am Ende gewählt wird. Ich finde, solche Äußerungen sind töricht und gefährlich.
Sicher, freie Wahlen repräsentieren den Willen der Bürgerinnen und Bürger. Sie sind der Souverän, aber mir fällt es schwer zu begreifen, wie jemand rechtsradikalen, zum Teil faschistischen Parteien wie der AfD oder der FPÖ seine Stimme gibt, die Gesetze und Instrumente unseres Rechtsstaats aggressiv dazu nutzen, ihn zu beschädigen und zu verhöhnen. Wer Anti-Demokraten wie Kickl in Österreich oder Höcke in Deutschland wählt, ist für mich ein Demokratie-Verächter.
Ist jede Stimme für radikale Parteien schon ein Angriff auf unsere parlamentarische Demokratie?
Nein, in einem Rechtsstaat klärt das eine unabhängige Justiz – und gegen deren Urteile kann man Rechtsmittel einlegen. Doch unübersehbar ist, dass die radikalisierte Peripherie der Gesellschaft auch zunehmend von Menschen der bürgerlichen Mitte besiedelt wird. Populismus und Demokratie-Verachtung greifen nicht nur an den Rändern, sondern zunehmend auch auf dem Golfplatz. Wir müssen da aufpassen, was den demokratischen Himmel verdunkelt: Gesellschaften können Zivilität lernen – und verlernen. Es gibt einen Prozess der Ent-Demokratisierung, der nur schwer reversibel ist. Das sollte uns bewusst sein.
Der friedliche Machtwechsel als systemimmanente Mechanik der Demokratie setzt einen Abtausch von Meinungen und auch laute, radikale und anti-systemische Stimmen voraus.
Unbedingt. Eine Demokratie lebt von Auseinandersetzung, Disput und Gegenrede. Das ist der Sauerstoff für die Demokratie. Es geht aber auch darum, unsere offene Gesellschaft gegen ihre falschen Freunde und richtigen Feinde zu verteidigen. Gleich ob von rechts oder links. Gegen politischen Fanatismus und religiösen Wahn. Mein Buch versteht sich als ein Plädoyer zur Verteidigung der offenen Gesellschaft, aber auch als Ermunterung zum produktiven Streit.
Worüber auch – seit Jahren andauernd und derzeit wieder aktuell – gestritten wird, ist der Begriff »Leitkultur«, den einst Bassam Tibi geprägt hat. Du wendest dich in deinem Buch gegen den Begriff »Leitkultur« als politische Wertevermittlung. Das Konzept seines Leitkultur-Begriffs bedeutet, dass es einen Wertekern gibt, als Bündel an Prinzipien, die wir unserer Gesellschaft unteilbar zugrunde legen. Wenn eine Leitkultur nicht über diesen Wertekern hinaus Menschen über traditionelle Werte und Traditionen an sich binden will, welche Prinzipien rückst du an die Basis der Demokratie?
Wir haben durchaus Gründe, danach zu fragen, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Deutschland hat hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen, die meisten aus sehr fernen Kulturkreisen, das stellt uns – und die Angekommenen – vor immense Herausforderungen. Gleichzeitig fremdelt der rechte Rand der Gesellschaft mit der sogenannten liberalen Mehrheitsgesellschaft, droht sich abzuwenden. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir darüber nachdenken, was uns als Nation ausmacht und welche Werte uns wichtig sind?
Jenseits unserer Verfassung gehören unsere Sprache oder tradierte Gepflogenheiten zu unserer gesellschaftlichen DNA. Dass es einen gewachsenen Werte-Grundkanon braucht, das wird niemand bestreiten. Es dient unserer eigenen Selbstvergewisserung ebenso wie beispielsweise der Integration von Zuwanderern, wenn wir uns als Gesellschaft auf diese Werte immer wieder verständigen. Das Grundgesetz ist für mich – um ein Bild zu zeichnen – dabei so etwas wie die »Allgemeine Badeordnung«, aber um Schwimmen zu lernen, reicht sie nicht aus. Als Gesellschaft müssen wir uns die Frage stellen, wer wir sind und was wir sein wollen, als Land und als Gesellschaft. In der gegenwärtigen »Leitkultur«-Diskussion ist mir zu viel von »nationaler Identität« und zu wenig von »gesellschaftlichem Konsens« die Rede. Aber klar, wir müssen diese Debatte führen, schon allein, um sie nicht den Rechten zu überlassen.
Du schreibst »Vom ICH zum WIR – das ist die Formel, die sich eine demokratische Gesellschaft im besten Falle selbst auferlegt«. Dass es dir dabei nicht um kollektivistische Zurückdrängung individueller Selbstbestimmung geht, machst du deutlich. Wie kann deine Formel kurz zusammengefasst werden?
Nur gemeinsam ist unsere Welt lebenswert.
Das Interview führte der österreichische Journalist Niko Alm.
Buchhinweis: Helmut Ortner: HEIMATKUNDE – Falsche Wahrheiten. Richtige Lügen. Politische Essays, Edition Faust 2024, 220 S., 22 €.