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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Frühtau zu Berge

Zwei Kilo­me­ter Luft­li­nie sind am Berg zwan­zig und gefühlt viel­leicht zwei­hun­dert. Die Stra­ßen win­den sich in unzäh­li­gen Schlei­fen hin­auf. Wenn man hofft, nun end­lich den Gip­fel erreicht zu haben, folgt der Bie­gung schon wie­der die näch­ste. So geht es stun­den­lang. Die Brem­sen quiet­schen vor jeder Kur­ve. Aber immer­hin: Die Stra­ße ist tadel­los. Auf der einen Sei­te wächst der Fels hin­auf und auf der ande­ren sind Leit­plan­ken. Sie ver­hin­dern, dass nicht nur der Blick in die Schwin­del erre­gen­de Tie­fe fällt. In der Fer­ne geht das Blau des Oze­ans in das Blau des Him­mels über, einen Hori­zont gibt es nicht. Kei­ne Linie.

Wir star­te­ten bei über zwan­zig Grad und auf Höhe des Mee­res­spie­gels. Inzwi­schen sind wir viel­leicht zwei­tau­send Meter hoch. Das Dis­play im Cock­pit unse­res Miet­wa­gens zeigt die Außen­tem­pe­ra­tur: Sie ist ein­stel­lig. Kannst du mal bit­te die Hei­zung anma­chen, sagt die Tau­be auf dem Bei­fah­rer­sitz, nach­dem sie vor gerau­mer Zeit bereits das Fen­ster geschlos­sen hatte.

Inzwi­schen tau­chen wir in Nebel ein. In jene Wol­ke, die wir von ganz unten gese­hen hat­ten. Ich schal­te den Schei­ben­wi­scher an. Die Kana­ri­schen Kie­fern mit ihren lan­gen Nadeln hän­gen vol­ler Trop­fen. Sie fil­tern gleich­sam die Wol­ke und leben von ihr. Die Sicht reicht nicht ein­mal mehr bis zur näch­sten Kur­ve, ich neh­me den Fuß vom Gas. Wir soll­ten umdre­hen, schlägt die Bei­fah­re­rin vor. Das bedeu­te, so beleh­re ich sie, den Wagen zu wen­den, was unter die­sen Umstän­den – schma­le Stra­ße, kei­ne Sicht – ziem­lich ris­kant sei. Wir wären gewiss nicht die ein­zi­gen, die unter­wegs sind: Es könn­te ein Fahr­zeug von oben kom­men, und dann …

Fahr wei­ter, sagt sie, und starrt durch die Wind­schutz­schei­be, über die die Gum­mi­blät­ter der Schei­ben­wi­scher ratschen.

Sehr ver­nünf­tig, ent­geg­ne ich und wei­che dem auf der Stra­ße lie­gen­den Geröll aus.

Rase nicht so, mahnt die Salz­säu­le neben mir. Und als die näch­ste Bie­gung genom­men, schreit sie auf. Ist das etwa Schnee?

So ist es. Unmög­lich! Doch.

Wir haben inzwi­schen null Grad. Die Räder mah­len nas­sen Schnee. Der ist nicht gefal­len, son­dern gefro­re­nes Wol­ken­was­ser. Die Sicht ist unver­än­dert beschei­den. Am Gestrüpp hän­gen Eis­ge­bil­de wie Fah­nen, geformt vom schar­fen Wind, der hier geht.

Kurz vor uns taucht unver­hofft ein SUV auf. Der Fah­rer lehnt mit einem rie­si­gen Tele­ob­jek­tiv aus dem Fen­ster. Die Eis­kri­stal­le bil­den an den Fels­wän­den wirk­lich bizar­re Figu­ren. Er winkt mich genervt vorbei.

Schließ­lich, kaum zu glau­ben, sind wir wirk­lich ganz oben, auf dem Roque de los Mucha­chos, dem Berg­fried von La Pal­ma. Der Turm der Jüng­lin­ge, die Fels­spit­ze, ist nicht zu sehen. Es ist über­haupt nichts zu sehen. Eine Bar­rie­re quer zur Stra­ße ver­sperrt den Zugang zum Gip­fel, um den sich ein reich­li­ches Dut­zend Obser­va­to­ri­en und Tele­sko­pe schart. Die haben sich seit den neun­zi­ger Jah­ren, als wir schon mal auf dem Dach der Kana­ren­in­sel waren, ziem­lich vermehrt.

Und dafür haben wir uns meh­re­re Stun­den hin­auf­ge­quält?! Sel­ber schuld, gurrt die Tau­be mit unter­drück­tem Unmut, wir hät­ten es wis­sen können.

Nicht wis­sen, kor­ri­gie­re ich sie vor­sich­tig. Wir hät­ten es ahnen kön­nen, als wir die Wol­ke vom son­nen­be­schie­ne­nen Früh­stücks­tisch sahen.

Wir fah­ren auf der ande­ren, der West­sei­te des Gip­fels hin­un­ter. Da schwin­gen die Kur­ven weit, wei­ter als auf der Stra­ße, auf der wir uns hin­auf­ge­quält haben. Und außer­dem hängt dort die Wol­ke, die über das Pla­teau wabert, nicht so tief. Schon nach kur­zer Zeit bricht Son­nen­licht durch den Pinienwald.

Tage spä­ter neh­men wir neu­er­lich Anlauf. Ohne Besuch auf dem Roque de los Mucha­chos wäre man nicht auf der west­lich­sten der Kana­ren­in­sel gewe­sen. Von hier flö­ge man nur noch übers Was­ser und lan­de­te nach zwölf Stun­den in New York. Oder nach vier­zehn in Havan­na. Nichts dazwi­schen, nur Atlantik.

Als man uns einen Tag vor Rei­se­an­tritt in ein Quar­tier ver­leg­te, das – nach Stu­di­um der Kar­te – in der Flug­schnei­se lag, erwo­gen wir den Ver­zicht. Was, wie sich erwies, ein Feh­ler gewe­sen wäre. Am spä­ten Vor­mit­tag hob an jedem Tag allen­falls ein hal­bes Dut­zend Flug­zeu­ge ab, und jene, die anka­men, hör­te man nicht. Viel­leicht war der Tou­ris­mus nach drei­jäh­ri­ger Coro­na-Zwangs­pau­se noch nicht wie­der in Fahrt gekom­men. Even­tu­ell liegt La Pal­ma auch zu weit drau­ßen im Atlan­tik, wei­ter als alle ande­ren Kana­ren­in­seln, die dar­um schnel­ler erreich­bar sind. Die Wer­bung mit der Zei­le »Schön­ste und grün­ste Insel der Kana­ren« zieht augen­schein­lich kein Mas­sen­pu­bli­kum. Die weni­gen Bade­strän­de sind schwarz, und viel Kul­tur gibt es auch nicht. Nur Natur. Die Haupt­stadt San­ta Cruz besteht aus einer hüb­schen, von far­bi­gen Häu­sern mit herr­li­chen Holz­bal­ko­nen gesäum­ten Geschäfts­stra­ße. Und dem Hafen. Da legen bis­wei­len gewal­ti­ge Kreuz­fahrt­schif­fe an, die höher sind als die höch­sten Gebäu­de und mehr Men­schen beher­ber­gen als die Haupt­stadt Ein­woh­ner zählt. Die Schif­fe spucken nach dem Bord­früh­stück für ein paar Stun­den die Wel­ten­bumm­ler an Land. Sie schlen­dern durch die denk­mal­ge­schütz­te Alt­stadt, kau­fen Kar­ten, trin­ken einen Espres­so oder ein Bier, machen Sel­fies vor dem Museo Naval. Die – maß­stab­ge­recht aus Stein und Holz gebau­te – Kara­vel­le von Kolum­bus mach­te hier nie fest, gilt aber inzwi­schen als ein Wahr­zei­chen der Insel. Und das Bron­ze-Denk­mal von dem Zwerg mit dem Drei­spitz davor eben­falls. Das war mal eine Kari­ka­tur von Napo­le­on: gro­ßer Hut und kur­ze Bei­ne. Die Spa­ni­er ver­höhn­ten den Fran­zo­sen, und heu­te ist die Figur in der Stadt so omni­prä­sent wie die Bud­dy Bären in Ber­lin. So ent­steht Folk­lo­re: La Dan­za de Los Ena­nos, der Tanz der Zwer­ge, nach einem uralten Ritu­al zele­briert. Immer wenn die Jah­res­zahl als letz­te Zif­fer eine Null oder eine Fünf auf­weist und die »Jung­frau vom Schnee« aus ihrer Kapel­le in Las Nie­ves her­un­ter­ge­bracht wird. Also nicht die Jung­frau, son­dern ihr jahr­hun­der­te­al­tes höl­zer­nes Abbild. Sie mach­te Blin­de sehen und Stum­me reden und tat Gutes bei Vul­kan­aus­brü­chen, Feu­ers­brün­sten und Trocken­heit. Seit 1680 trägt man die Ver­ehr­te hin­un­ter nach San­ta Cruz, alle fünf Jah­re. Und seit Napo­le­ons Tagen tan­zen dazu die Zwerge.

Die neu­er­li­che Auf­fahrt zum Gip­fel ober­halb der Cal­de­ra, die­sem rie­si­gen Vul­kan­kra­ter im Her­zen des Natio­nal­parks, erfolgt bei strah­len­dem Son­nen­schein. Wir schrau­ben uns dies­mal vom Westen in die Höhe. Doch oben hängt noch immer die Wol­ke. Noch immer ver­sperrt die Bar­rie­re den Zugang zum Berggipfel.

Das zwei­spra­chi­ge Ver­bots­schild »Obser­va­to­ry staff only« igno­rie­ren wir wacker. Es ist Wochen­en­de und kein Per­so­nal zu sehen, das uns hin­dern könn­te. Wir stap­fen an den Wohn­bau­ten vor­bei, die sich an den Hang ducken. Und in denen For­scher aus über drei­ßig Staa­ten unter­ge­bracht sind. Eine sol­che Auf- und Abfahrt an jedem Tag zur Arbeits­stel­le ist nie­man­dem zuzu­mu­ten. Damals, also in den neun­zi­ger Jah­ren, war alles noch über­schau­bar gewe­sen, klei­ner, erin­ne­re ich mich. Man hat­te schließ­lich erst Mit­te der acht­zi­ger Jah­re damit begon­nen, astro­phy­si­ka­li­sche Ein­rich­tun­gen in die von Licht­ver­schmut­zung freie Insel­land­schaft zu pflan­zen. Von die­sem ruhi­gen Ort geht der Blick durch par­ti­kel­freie Luft in die kos­mi­sche Fer­ne. 1992 ent­deck­te man hier das erste Schwar­ze Loch in unse­rer Milch­stra­ße und drei Jah­re spä­ter den ersten soge­nann­ten Brau­nen Zwerg in den Ple­ja­den. Und seit vor zehn Jah­ren Glas­fa­ser­ka­bel am Berg ver­legt wur­den, hän­gen welt­weit 170 For­schungs­in­sti­tu­te am ORM, am Obser­va­to­rio del Roque de los Muchachos.

Wir lau­fen zwi­schen den wei­ßen Gebäu­den mit den ver­schlos­se­nen Kup­peln umher, in denen sich rie­si­ge Spie­gel­te­le­sko­pe ver­stecken, und ste­hen stau­nend im Schnee vor einem Tele­skop, des­sen Para­bol­spie­gel aus qua­dra­ti­schen Plat­ten zusam­men­ge­setzt ist. Vier­hun­dert Qua­drat­me­ter Spie­gel­flä­che, kreis­rund und 23 Meter im Durch­mes­ser, ragt das futu­ri­sti­sche Mon­strum 45 Meter hoch in den inzwi­schen blitz­blau­en Him­mel. Hun­dert Ton­nen schwer. Vor fünf Jah­ren ging LST-1 in Betrieb, wie auf einer Tafel zu erfah­ren ist, das Lar­ge-Sized Telescope. Wei­te­re sol­len fol­gen, welt­weit über hun­dert, mit denen die Gam­ma- und ande­re Strah­len und Wel­len ein­ge­fan­gen wer­den, die irgend­wo da drau­ßen in den Tie­fen des Alls pro­du­ziert werden.

Die von dem sowje­ti­schen Astro­phy­si­ker Pawel A. Tsche­ren­kow ent­deck­te elek­tro­ni­sche Strah­lung trug ihm den Nobel­preis für Phy­sik und ein fort­ge­setz­tes Dasein als Namens­ge­ber ein. 1984 wur­de er übri­gens als Held der sozia­li­sti­schen Arbeit geehrt, im Jahr dar­auf in die Natio­nal Aca­de­my of Sci­en­ces der USA gewählt. 1990 starb Tsche­ren­kow hoch­be­tagt in Moskau.

Neben­an ste­hen zwei klei­ne­re Tsche­ren­kow-Tele­sko­pe, vorm Absperr­zaun liegt ein Stein. Eine Plat­te dar­auf erin­nert an Flo­ri­an Goe­bel vom Max-Planck-Insti­tut. Der 35-jäh­ri­ge Astro­phy­si­ker stürz­te weni­ge Tage vor der Über­ga­be, als er an der Kame­ra des einen Tele­skops arbei­te­te, aus zehn Metern in die Tie­fe. Die Ein­wei­hungs­fei­er im Sep­tem­ber 2008 wur­de abge­sagt. Er sei ein warm­her­zi­ger, höchst neu­gie­ri­ger Wis­sen­schaft­ler gewe­sen, der ande­re moti­viert habe, heißt es auf der Tafel. Und auf einem gro­ßen Son­nen­se­gel, das von Stahl­sei­len gehal­ten wird, damit es der Wind nicht aus dem Beton­sockel reißt, steht weit­hin les­bar »MAGIC Flo­ri­an Goe­bel Telesco­pes«. MAGIC steht für Major Atmo­sphe­ric Gamma-Ray Imaging Cheren­kov Telesco­pes, wie ich inzwi­schen weiß.

Mei­ne Schu­he sind nass vom Schnee. Auch mei­ne Tau­be hat kal­te Füße. Lass uns gehen, sagt sie. Es ist alles so trau­rig hier. Und dabei lacht die Son­ne. Hier oben in zwei­ein­halb­tau­send Metern Höhe. Und das tut sie schon seit meh­re­ren Mil­li­ar­den Jah­ren, seit eini­gen davon inten­siv von hier oben beäugt. Wir klei­nen Erden­wich­te stei­gen demü­tig in unser Auto­mo­bil und bla­sen Par­ti­kel in die rei­ne Luft. Hof­fent­lich stö­ren sie nicht den Emp­fang der Signa­le aus dem All.