Zwei Kilometer Luftlinie sind am Berg zwanzig und gefühlt vielleicht zweihundert. Die Straßen winden sich in unzähligen Schleifen hinauf. Wenn man hofft, nun endlich den Gipfel erreicht zu haben, folgt der Biegung schon wieder die nächste. So geht es stundenlang. Die Bremsen quietschen vor jeder Kurve. Aber immerhin: Die Straße ist tadellos. Auf der einen Seite wächst der Fels hinauf und auf der anderen sind Leitplanken. Sie verhindern, dass nicht nur der Blick in die Schwindel erregende Tiefe fällt. In der Ferne geht das Blau des Ozeans in das Blau des Himmels über, einen Horizont gibt es nicht. Keine Linie.
Wir starteten bei über zwanzig Grad und auf Höhe des Meeresspiegels. Inzwischen sind wir vielleicht zweitausend Meter hoch. Das Display im Cockpit unseres Mietwagens zeigt die Außentemperatur: Sie ist einstellig. Kannst du mal bitte die Heizung anmachen, sagt die Taube auf dem Beifahrersitz, nachdem sie vor geraumer Zeit bereits das Fenster geschlossen hatte.
Inzwischen tauchen wir in Nebel ein. In jene Wolke, die wir von ganz unten gesehen hatten. Ich schalte den Scheibenwischer an. Die Kanarischen Kiefern mit ihren langen Nadeln hängen voller Tropfen. Sie filtern gleichsam die Wolke und leben von ihr. Die Sicht reicht nicht einmal mehr bis zur nächsten Kurve, ich nehme den Fuß vom Gas. Wir sollten umdrehen, schlägt die Beifahrerin vor. Das bedeute, so belehre ich sie, den Wagen zu wenden, was unter diesen Umständen – schmale Straße, keine Sicht – ziemlich riskant sei. Wir wären gewiss nicht die einzigen, die unterwegs sind: Es könnte ein Fahrzeug von oben kommen, und dann …
Fahr weiter, sagt sie, und starrt durch die Windschutzscheibe, über die die Gummiblätter der Scheibenwischer ratschen.
Sehr vernünftig, entgegne ich und weiche dem auf der Straße liegenden Geröll aus.
Rase nicht so, mahnt die Salzsäule neben mir. Und als die nächste Biegung genommen, schreit sie auf. Ist das etwa Schnee?
So ist es. Unmöglich! Doch.
Wir haben inzwischen null Grad. Die Räder mahlen nassen Schnee. Der ist nicht gefallen, sondern gefrorenes Wolkenwasser. Die Sicht ist unverändert bescheiden. Am Gestrüpp hängen Eisgebilde wie Fahnen, geformt vom scharfen Wind, der hier geht.
Kurz vor uns taucht unverhofft ein SUV auf. Der Fahrer lehnt mit einem riesigen Teleobjektiv aus dem Fenster. Die Eiskristalle bilden an den Felswänden wirklich bizarre Figuren. Er winkt mich genervt vorbei.
Schließlich, kaum zu glauben, sind wir wirklich ganz oben, auf dem Roque de los Muchachos, dem Bergfried von La Palma. Der Turm der Jünglinge, die Felsspitze, ist nicht zu sehen. Es ist überhaupt nichts zu sehen. Eine Barriere quer zur Straße versperrt den Zugang zum Gipfel, um den sich ein reichliches Dutzend Observatorien und Teleskope schart. Die haben sich seit den neunziger Jahren, als wir schon mal auf dem Dach der Kanareninsel waren, ziemlich vermehrt.
Und dafür haben wir uns mehrere Stunden hinaufgequält?! Selber schuld, gurrt die Taube mit unterdrücktem Unmut, wir hätten es wissen können.
Nicht wissen, korrigiere ich sie vorsichtig. Wir hätten es ahnen können, als wir die Wolke vom sonnenbeschienenen Frühstückstisch sahen.
Wir fahren auf der anderen, der Westseite des Gipfels hinunter. Da schwingen die Kurven weit, weiter als auf der Straße, auf der wir uns hinaufgequält haben. Und außerdem hängt dort die Wolke, die über das Plateau wabert, nicht so tief. Schon nach kurzer Zeit bricht Sonnenlicht durch den Pinienwald.
Tage später nehmen wir neuerlich Anlauf. Ohne Besuch auf dem Roque de los Muchachos wäre man nicht auf der westlichsten der Kanareninsel gewesen. Von hier flöge man nur noch übers Wasser und landete nach zwölf Stunden in New York. Oder nach vierzehn in Havanna. Nichts dazwischen, nur Atlantik.
Als man uns einen Tag vor Reiseantritt in ein Quartier verlegte, das – nach Studium der Karte – in der Flugschneise lag, erwogen wir den Verzicht. Was, wie sich erwies, ein Fehler gewesen wäre. Am späten Vormittag hob an jedem Tag allenfalls ein halbes Dutzend Flugzeuge ab, und jene, die ankamen, hörte man nicht. Vielleicht war der Tourismus nach dreijähriger Corona-Zwangspause noch nicht wieder in Fahrt gekommen. Eventuell liegt La Palma auch zu weit draußen im Atlantik, weiter als alle anderen Kanareninseln, die darum schneller erreichbar sind. Die Werbung mit der Zeile »Schönste und grünste Insel der Kanaren« zieht augenscheinlich kein Massenpublikum. Die wenigen Badestrände sind schwarz, und viel Kultur gibt es auch nicht. Nur Natur. Die Hauptstadt Santa Cruz besteht aus einer hübschen, von farbigen Häusern mit herrlichen Holzbalkonen gesäumten Geschäftsstraße. Und dem Hafen. Da legen bisweilen gewaltige Kreuzfahrtschiffe an, die höher sind als die höchsten Gebäude und mehr Menschen beherbergen als die Hauptstadt Einwohner zählt. Die Schiffe spucken nach dem Bordfrühstück für ein paar Stunden die Weltenbummler an Land. Sie schlendern durch die denkmalgeschützte Altstadt, kaufen Karten, trinken einen Espresso oder ein Bier, machen Selfies vor dem Museo Naval. Die – maßstabgerecht aus Stein und Holz gebaute – Karavelle von Kolumbus machte hier nie fest, gilt aber inzwischen als ein Wahrzeichen der Insel. Und das Bronze-Denkmal von dem Zwerg mit dem Dreispitz davor ebenfalls. Das war mal eine Karikatur von Napoleon: großer Hut und kurze Beine. Die Spanier verhöhnten den Franzosen, und heute ist die Figur in der Stadt so omnipräsent wie die Buddy Bären in Berlin. So entsteht Folklore: La Danza de Los Enanos, der Tanz der Zwerge, nach einem uralten Ritual zelebriert. Immer wenn die Jahreszahl als letzte Ziffer eine Null oder eine Fünf aufweist und die »Jungfrau vom Schnee« aus ihrer Kapelle in Las Nieves heruntergebracht wird. Also nicht die Jungfrau, sondern ihr jahrhundertealtes hölzernes Abbild. Sie machte Blinde sehen und Stumme reden und tat Gutes bei Vulkanausbrüchen, Feuersbrünsten und Trockenheit. Seit 1680 trägt man die Verehrte hinunter nach Santa Cruz, alle fünf Jahre. Und seit Napoleons Tagen tanzen dazu die Zwerge.
Die neuerliche Auffahrt zum Gipfel oberhalb der Caldera, diesem riesigen Vulkankrater im Herzen des Nationalparks, erfolgt bei strahlendem Sonnenschein. Wir schrauben uns diesmal vom Westen in die Höhe. Doch oben hängt noch immer die Wolke. Noch immer versperrt die Barriere den Zugang zum Berggipfel.
Das zweisprachige Verbotsschild »Observatory staff only« ignorieren wir wacker. Es ist Wochenende und kein Personal zu sehen, das uns hindern könnte. Wir stapfen an den Wohnbauten vorbei, die sich an den Hang ducken. Und in denen Forscher aus über dreißig Staaten untergebracht sind. Eine solche Auf- und Abfahrt an jedem Tag zur Arbeitsstelle ist niemandem zuzumuten. Damals, also in den neunziger Jahren, war alles noch überschaubar gewesen, kleiner, erinnere ich mich. Man hatte schließlich erst Mitte der achtziger Jahre damit begonnen, astrophysikalische Einrichtungen in die von Lichtverschmutzung freie Insellandschaft zu pflanzen. Von diesem ruhigen Ort geht der Blick durch partikelfreie Luft in die kosmische Ferne. 1992 entdeckte man hier das erste Schwarze Loch in unserer Milchstraße und drei Jahre später den ersten sogenannten Braunen Zwerg in den Plejaden. Und seit vor zehn Jahren Glasfaserkabel am Berg verlegt wurden, hängen weltweit 170 Forschungsinstitute am ORM, am Observatorio del Roque de los Muchachos.
Wir laufen zwischen den weißen Gebäuden mit den verschlossenen Kuppeln umher, in denen sich riesige Spiegelteleskope verstecken, und stehen staunend im Schnee vor einem Teleskop, dessen Parabolspiegel aus quadratischen Platten zusammengesetzt ist. Vierhundert Quadratmeter Spiegelfläche, kreisrund und 23 Meter im Durchmesser, ragt das futuristische Monstrum 45 Meter hoch in den inzwischen blitzblauen Himmel. Hundert Tonnen schwer. Vor fünf Jahren ging LST-1 in Betrieb, wie auf einer Tafel zu erfahren ist, das Large-Sized Telescope. Weitere sollen folgen, weltweit über hundert, mit denen die Gamma- und andere Strahlen und Wellen eingefangen werden, die irgendwo da draußen in den Tiefen des Alls produziert werden.
Die von dem sowjetischen Astrophysiker Pawel A. Tscherenkow entdeckte elektronische Strahlung trug ihm den Nobelpreis für Physik und ein fortgesetztes Dasein als Namensgeber ein. 1984 wurde er übrigens als Held der sozialistischen Arbeit geehrt, im Jahr darauf in die National Academy of Sciences der USA gewählt. 1990 starb Tscherenkow hochbetagt in Moskau.
Nebenan stehen zwei kleinere Tscherenkow-Teleskope, vorm Absperrzaun liegt ein Stein. Eine Platte darauf erinnert an Florian Goebel vom Max-Planck-Institut. Der 35-jährige Astrophysiker stürzte wenige Tage vor der Übergabe, als er an der Kamera des einen Teleskops arbeitete, aus zehn Metern in die Tiefe. Die Einweihungsfeier im September 2008 wurde abgesagt. Er sei ein warmherziger, höchst neugieriger Wissenschaftler gewesen, der andere motiviert habe, heißt es auf der Tafel. Und auf einem großen Sonnensegel, das von Stahlseilen gehalten wird, damit es der Wind nicht aus dem Betonsockel reißt, steht weithin lesbar »MAGIC Florian Goebel Telescopes«. MAGIC steht für Major Atmospheric Gamma-Ray Imaging Cherenkov Telescopes, wie ich inzwischen weiß.
Meine Schuhe sind nass vom Schnee. Auch meine Taube hat kalte Füße. Lass uns gehen, sagt sie. Es ist alles so traurig hier. Und dabei lacht die Sonne. Hier oben in zweieinhalbtausend Metern Höhe. Und das tut sie schon seit mehreren Milliarden Jahren, seit einigen davon intensiv von hier oben beäugt. Wir kleinen Erdenwichte steigen demütig in unser Automobil und blasen Partikel in die reine Luft. Hoffentlich stören sie nicht den Empfang der Signale aus dem All.