Plötzlich recken alle ihre Hälse, schauen neugierig aus den Fenstern des Flugzeuges, Fotoapparate klicken. Ich sitze am Gang und kann im Dunkel der Nacht nur gelbe Lichter unter uns erkennen. »Es sieht aus wie ein riesiger gelber Stern, der in der Mitte weiß leuchtet«, meldet meine Frau Carola, die eine Reihe hinter mir am Fenster freie Sicht nach unten hat.
Nach gut drei Stunden Flug befinden wir uns um halb zwei Uhr in der Frühe im Landeanflug auf die Drei-Millionen-Metropole Mashhad im Nordosten des Irans nahe der Grenze zu Turkmenistan. Meine Sitznachbarn, ein iranisches Ehepaar, das in San Francisco lebt und die Familie daheim besuchen will, hat mich gleich nach dem Start in Istanbul dafür beglückwünscht, dass ich mit mehreren Freunden von Mashhad aus zu einer Tour in den Süden des riesigen Landes starten will. Leider, so bedauern sie, sei es ihnen bisher nicht gelungen, ihre Nachbarn in Kalifornien davon zu überzeugen, dass der Iran ein faszinierendes und sicheres Reiseland sei. Diese positive Erfahrung hatten meine Freunde und ich bereits 2014 gemacht, als wir im Kleinbus die touristische Hauptroute von Teheran über Kashan, Isfahan, Yazd bis Persepolis und Shiraz gefahren waren. Land und Leute hatten uns so begeistert, dass wir beschlossen, nun den etwas abgelegeneren Osten des Irans für uns zu entdecken. Sorgen bereiteten uns die Kriegsdrohungen der US-Regierung, die den Iran verteufelt und seit ihrer völkerrechtswidrigen Kündigung des Atomvertrages erneut versucht, das Land mit Sanktionen wirtschaftlich zu erdrosseln.
Als das Flugzeug gelandet ist, beginnen die meisten weiblichen Passagiere sich umzukleiden. Sie binden Kopftücher um ihre bis dahin unbedeckten Haare, ziehen langärmlige Blusen oder Staubmäntel über, um den Kleidungsvorschriften der islamischen Republik zu genügen. »Kann ich das so tragen?« fragt mich Carola unsicher mit Hinweis auf ihr Kopftuch. »That’s okay«, beruhigt sie mein Sitznachbar.
»Welcome to Mashhad!« Nach kurzem Blick in Pass und Visum heißt mich der Beamte der »Immigration Police« in der riesigen Empfangshalle des Flughafens freundlich willkommen, weist mir den Weg zu den Kofferbändern entlang eines Spruchbandes in arabischer Schrift, das von zwei großen Portraits flankiert wird: Das eine zeigt Ayatollah Khomeini, den verstorbenen Führer der Revolution von 1979, auf dem anderen lächelt Ayatollah Khamenei, das aktuelle politisch-religiöse Oberhaupt des Landes.
Am Ausgang zur Straße müssen alle Reisenden durch einen Sicherheitscheck. Unsere Koffer werden durchleuchtet, und auch wir durchschreiten einen Detektor, werden auf Waffen abgetastet. Das alles geht entspannt und zügig über die Bühne, so dass wir bald darauf die Hände von Hartmut Niemann schütteln, unserem Reiseleiter. Der 1,95 Meter große Hüne mit seinen wallenden grauen Zottelhaaren ist nicht zu übersehen. Niemann ist Kopf und Herz der Göttinger Agentur »Orient Express«, mit der er seit 25 Jahren Reisen in den Iran und nach Zentralasien organisiert.
Niemann hatte Anfang der 1970er Jahre in Göttingen erst seine Liebe zu einer linken Exil-Iranerin entdeckt und danach seine Leidenschaft für die persische Kultur. Der gelernte Buchhändler, der Anfang der 1970er Jahre zum Werkzeugmacher umgeschult hatte, sattelte ein weiteres Mal um und studierte an der Universität Göttingen Iranistik. Vor 40 Jahren, ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Revolution im Jahr 1979, bereiste Niemann den Iran zum ersten Mal, seitdem ist er mehrmals im Jahr im Land, kennt dort inzwischen fast jeden Winkel und viele Menschen, mit denen er freundschaftlich verbunden ist; er spricht fließend Farsi.
In Teheran hat Niemann für unsere Reise einen Kleinbus gemietet, der gleich mit gemietete iranische Fahrer begrüßt uns herzlich: ein jovialer Mittvierziger namens Mansur, der uns zum Hotel fährt. Mit an Bord sind auch zwei Mitarbeiter der Göttinger Reiseagentur, das frisch verheiratete Paar Mojtabah und Fatemeh, zwei junge Azeris aus der iranischen Provinz Aserbaidschan, Niemanns Assistenten, die uns aufmerksam umsorgen und mit denen wir uns auf Deutsch und Englisch verständigen.
Unter gelb leuchtenden Straßenlaternen fahren wir auf einem breiten Boulevard bald direkt auf das weiße Licht zu, das Carola aus der Luft gesehen hat. Hier ist der Mittelpunkt von Mashhad: Flutlicht taucht eine goldene Kuppel in gleißende Helle. Die Kuppel wurde Ende des 16. Jahrhunderts errichtet. Sie krönt das Mausoleum des Imam Reza, des achten Imam der Schiiten, der im Jahr 815 von einem Handlanger des Bagdader Kalifen ermordet wurde. Der Tatort im damaligen Dörfchen Sanabad war schnell zur Wallfahrtsstätte geworden, das Dorf wuchs nicht zuletzt wegen der Pilger zur reichen Großstadt. Heute ist das mehrere hundert Hektar große Heiligtum das Epizentrum schiitischer Geistlichkeit im Iran. Unfassbare 27 Millionen Pilger besuchen Jahr für Jahr die Stadt, erfahren wir am nächsten Morgen im Infozentrum des religiösen Schreins. Für so viel Zuspruch haben Mullahs gesorgt, als sie irgendwann beim Freitagsgebet verkündeten, ein Besuch an Rezas Grab verschaffe 70.000 mal mehr Gnade, als eine Wallfahrt zur Kaaba in Mekka.
Neben der goldenen Kuppel ragen vier gold-glänzende und im unteren Bereich blau gekachelte Minarette in den Himmel. Daneben erhebt sich eine größere türkis-blaue Kuppel von erhabener Schönheit. Sie gehört der Moschee Gowhar-Shad, einem besonders eindrucksvollen architektonischen Schmuckstück im heiligen Bezirk.
Als wir schließlich nach vierzigminütiger Fahrt müde im Hotel Tehran einchecken, einem kleinen, komfortablen Drei-Sterne-Hotel unweit des Schreins, sind vor dem Hotel Männer in roten Overalls aktiv: Die Straßenreinigung leert Abfallkörbe, fegt den Bürgersteig.
Nach kurzer Nacht und kurzem Fußmarsch meldet uns Niemann am Morgen im Büro für internationale Beziehungen des Heiligtums als Gruppe an. Von einer schattigen Ecke aus beobachten wir derweil den Zug der Pilger, die auch uns beäugen. Farblich dominieren die von uns despektierlich »Raben« genannten Frauen in ihren überwiegend schwarzen Tschadors, weiten Umhängen, die über den Kopf bis zu den Knöcheln reichen und nur Gesicht und Hände unbedeckt lassen. Ein Wächter dirigiert den Menschenstrom mit einem langen blauen Staubwedel zu einem der Eingänge. Dank des Wedels muss er dabei niemanden anfassen. Wir geben Taschen und Fotoapparate in einem Wächterhäuschen ab, dürfen aber in dem für Nicht-Muslime erlaubten Teil des Harams (»verbotener Ort«) mit unseren Handys Fotos schießen. Zuvor geht es – Frauen und Männer räumlich getrennt – durch eine Sicherheitskontrolle, wo wir mit einem lächelnden »Welcome« auf Waffen abgetastet werden. Unsere Frauen erhalten einen hellen Tschador, eine Art geblümtes Betttuch, das sie um Kopf und Körper hüllen müssen, ein Anblick, der bei uns Heiterkeit hervorruft.
Ein älterer Herr mit gestutztem Vollbart tritt auf uns zu. Eine Messingplakette an seinem anthrazitfarbenen Anzug weist ihn als Guide aus – als einen von 30.000 freiwilligen Helfern, die jeweils an einem Tag in der Woche die Pilger und Besucher unentgeltlich betreuen und verköstigen. Im Schein der sehr warmen Oktobersonne queren wir einen weiten Vorhof, der ist mehrere Fußballfelder groß, rund ein Drittel seiner Fläche ist mit Teppichen für Betende ausgelegt. Daneben stapeln sich weitere Teppiche. Von dem Vorhof gehen verwirrend viele weitere Höfe und Eingänge zu dutzenden Bauwerken ab.
Im Laufe der Jahrhunderte sind um die Grabstätte des Imam unzählige Gebäude errichtet worden – Moscheen, Medresen, Gästehäuser, Armenküchen, ein Krankenhaus, eine Bibliothek, Bäckereien und mehrere Museen. Hohe Kräne zeigen an, dass auch heute noch Neues gebaut wird. Alle Gebäude ziert reicher Fayencenschmuck. Geschmackvoll kombinieren die Kacheln Ornamente und Schriftzeichen, farblich harmonieren Blau, Weiß, Gold, Ocker und Schwarz. Eine unglaubliche Pracht!
Kreuz und quer leitet uns der Führer über das Gelände. Treppabwärts geht es in große mit Teppichen ausgelegte Gebetshallen und Räume für religiöse Unterweisungen, die jeweils von Männern oder Frauen getrennt geräuschvoll bevölkert werden. Wir müssen unsere Schuhe ausziehen und in Plastiktüten mit uns tragen.
Wände und Decken der hell erleuchteten Hallen sind mit glitzernden Spiegelelementen ausgekleidet, gerade so als habe die für solche Arbeiten bekannte französische Künstlerin Niki de Saint Phalle hier auf den Einsatz von Buntglas verzichtet. Wir erfahren, dass sich unter diesen Hallen noch ein Tiefgeschoss erstreckt: eine kilometerlange Ringstraße, in die die sternförmig auf das Heiligtum zulaufenden Boulevards seit den 1990er Jahren münden. Tausende Parkplätze säumen diese Magistrale unter der Erde.
Nach zweistündiger Führung durch immer dichter werdende Pulks von Gläubigen stehen wir am Rand eines langen Beckens, einer Wasseranlage mit vielen Hähnen, aus denen das Nass für rituelle Waschungen strömt.
Durch das offene Fenster eines Gebäudes können wir einen Teil eines goldenen Gitters erkennen, hinter dem sich das Grab des Imam befindet. Wir haben dort keinen Zutritt. Ziel der Pilger sei es, erläutert Niemann, das Gitter zu berühren und dabei drei fromme Wünsche zu äußern. Er könne das gerne für uns übernehmen, bietet unser Führer an. Als wir keinen Bedarf anmelden, guckt er etwas enttäuscht. Auf dem Weg zum Ausgang kreuzen uns eilig schreitende Männer, dahinter folgen Frauen: eine Trauergemeinde, die einen Leichnam zur Beerdigung in eine Halle trägt. Eine Beerdigung in der Nähe des Grabes von Imam Reza können sich nur wohlhabende Iraner leisten, erfahren wir, als wir wieder in unseren Bus steigen.
Fortsetzung in der nächsten Ausgabe: Am Grab des persischen Homer und bei mutigen jungen Leuten