Die 1871 geborene Sozialistin Rosa Luxemburg schildert in ihrer Reportage »Im Asyl« das Leben und Sterben in einem Berliner Obdachlosenasyl. Kurz vor dem Jahreswechsel 1911, am 27. Dezember, kam es im Städtischen Obdach an der Fröbelstraße (im Volksmund wegen einer Topfpflanze im Vorraum spöttisch »Palme« genannt) zu einer massenhaften Lebensmittelvergiftung mit über 70 Toten. Seit seiner Eröffnung 1895 nahm das Obdachlosenasyl täglich bis zu 5000 Menschen auf, von 16 Uhr am Nachmittag bis 2 Uhr in der Nacht. Die Entlassung erfolgte um 6 Uhr am Morgen. Jene »Schiffbrüchigen des Schicksals« aber, so der Berliner Lokal-Anzeiger, die das Backsteinhaus im Nordosten Berlins öfter als fünfmal hintereinander aufsuchten, mussten damit rechnen, der im Haus stationierten Polizei vorgeführt zu werden, um dann ins berüchtigte Rummelsburger Arbeitshaus verbracht zu werden. Daran jedoch war an jenem Morgen nicht zu denken. Wie der kaisertreue Lokal-Anzeiger schreibt, habe sich von Stunde zu Stunde eine immer größere Unruhe der »Asylisten« bemächtigt, »als sie sahen, dass fortgesetzt bald in diesem, bald in jenem Saal Neuerkrankte zusammenbrachen und fortgeschafft wurden«. Viele hätten das Gebäude noch in der Nacht verlassen wollen. »Eine Bitte, die ja schon aus sanitären Gründen nicht erfüllt werden konnte.«
Wegen der vermuteten Seuchengefahr wurden wahrscheinlich einige Tausend Obdachlose den folgenden Tag über in dem Gebäude festgehalten, derweil sich draußen das bürgerliche Publikum einfand. Doch: »Eine Anzahl Schutzleute patrouillierte die Straße auf und ab und sorgte dafür, dass keine Ansammlungen stattfanden. Die Menge besprach im Flüsterton die geheimnisvollen Erkrankungen.« Ein Krankenwagen sei vor das Portal gerollt, »rasch öffnete sich die schwere Tür, heraus traten in weiße Kittel gekleidete Männer, die einen schweren in Tücher gehüllten Gegenstand trugen, ihn in den Wagen betteten, der dann rasch davon fuhr«. Dies habe sich mehrere Male wiederholt und die Menge habe gewusst: Wieder sei ein Kranker oder Toter davongefahren worden.
Hier der Text von Rosa Luxemburg, erschienen in der Gleichheit, der von Clara Zetkin redigierten Frauenzeitschrift:
Unsere Reichshauptstadt ist in ihrer Feiertagsstimmung grausam gestört worden. Gerade hatten fromme Gemüter das schöne alte Lied angestimmt: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! als sich die Nachricht verbreitete, daß im städtischen Asyl für Obdachlose eine Massenvergiftung vorgekommen war. Alte und Junge fielen ihr zum Opfer: Handlungsgehilfe Joseph Geihe, 21 Jahre alt, Arbeiter Karl Melchior, 47 Jahre alt, Lucian Szczyptierowski, 65 Jahre alt – jeden Tag kamen neue Listen der vergifteten Obdachlosen. Der Tod fand sie überall: im Asyl, im Gefängnis, in der Wärmehalle oder einfach auf der Straße, in einer Scheune verkrochen. Bevor das neue Jahr mit Glockengeläute eingezogen war, wanden sich anderthalbhundert Obdachlose in Todesschmerzen, hatten siebzig das Zeitliche gesegnet.
Mehrere Tage lang stand das schlichte Gebäude in der Fröbelstraße, das sonst jeder gerne meidet, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Woher kamen die Massenerkrankungen? War es eine Epidemie, war es eine Vergiftung durch den Genuß fauler Speise? Die Polizeibehörden beeilten sich, die gute Bürgerschaft zu beruhigen: Es war keine ansteckende Krankheit, das heißt, es lag keine Gefahr vor für die anständige Einwohnerschaft, für die besseren Leute in der Stadt. Der Massentod blieb nur auf die ›Asylistenkreise‹ beschränkt, auf die Leute, die sich den Genuß ›sehr billiger‹, stinkender Bücklinge oder giftigen Fusels zu Weihnachten geleistet hatten. Woher hatten die Leute aber jene stinkenden Bücklinge genommen? Hatten sie sie von einem ›fliegenden Fischhändler‹ gekauft oder aus dem Kehricht in der Markthalle aufgelesen? Letztere Mutmaßung wurde abgelehnt aus einem gewichtigen Grunde: Der Abfall in den städtischen Markthallen ist nicht wie sich oberflächliche und nationalökonomisch ungebildete Leute vorstellen, herrenloses Gut, das sich der erste beste Obdachlose aneignen dürfte. Dieser Abfall wird gesammelt und an große Schweinemästereien verkauft, wo er, erst sorgfältig desinfiziert und vermahlen, als Futter für die Schweine dient. Wachsame Organe der Markthallenpolizei sorgen dafür, daß menschliches Gesindel hier nicht den Schweinen ihr Futter unbefugterweise wegschnappt, um es undesinfiziert und unvermahlen zu verschlingen. Die Obdachlosen konnten also unmöglich, wie sich mancher das so leicht denkt, ihren Weihnachtsschmaus aus dem Kehricht der Markthalle aufgelesen haben. Die Polizei fahndet demnach nach dem ›fliegenden Fischhändler‹ oder dem Budiker, der den Obdachlosen den Giftfusel verkauft hat. ( … )
Wer sind die Bewohner des Asyls, die dem faulen Bückling oder dem giftigen Fusel zum Opfer fielen? Ein Handlungsgehilfe, ein Bautechniker, ein Dreher, ein Schlosser – Arbeiter, Arbeiter, lauter Arbeiter. Und wer sind die Namenlosen, die von der Polizei nicht rekognosziert werden konnten? Arbeiter, lauter Arbeiter oder solche, die es noch gestern waren.
Und kein Arbeiter ist vor dem Asyl, vor dem vergifteten Bückling und Fusel gesichert. Heute noch rüstig, ehrbar, fleißig – was wird aus ihm, wenn er morgen entlassen ist, weil er die fatale Grenze der vierzig Jahre erreicht hat, bei der ihn der Unternehmer für ›unbrauchbar‹ erklärt? Was, wenn er morgen einen Unfall erleidet, der ihn zum Krüppel, zum Rentenbettler macht?
Man sagt: Zum großen Teil verfallen dem Armenhaus und dem Gefängnis nur schwache und schlechte Elemente: schwachsinnige Greise, jugendliche Verbrecher, abnorm veranlagte Menschen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit. Mag stimmen. Aber schwache und schlechte Naturen aus höheren Klassen kommen nicht ins Asyl, sondern in Sanatorien. (…)
Lucian Szczyptierowski, der auf der Straße endet, vergiftet vom faulen Bückling, gehört ebenso zum Dasein des Proletariats wie jeder qualifizierte, bestbezahlte Arbeiter, der sich gedruckte Neujahrskarten und eine vergoldete Uhrkette leistet. Das Asyl für Obdachlose und der Polizeigewahrsam sind ebenso Säulen der heutigen Gesellschaft wie das Reichskanzlerpalais und die Deutsche Bank. Und der vergiftete Bücklingsschmaus mit Fusel im städtischen Obdach ist die unsichtbare Unterlage für den Kaviar und den Champagner auf dem Tische der Millionäre. Die Herren Geheimen Medizinalräte können lange den Todeskeim in den Gedärmen der Vergifteten durch das Mikroskop suchen und ›Reinkulturen‹ züchten: Der wirkliche Giftbazillus, an dem die Berliner Asylisten gestorben sind, heißt – kapitalistische Gesellschaftsordnung in Reinkultur.
Jeden Tag sterben einzelne Obdachlose, brechen vor Hunger und Kälte zusammen – kein Mensch nimmt von ihnen Notiz, bloß der Polizeibericht. Nur die Massenhaftigkeit der Erscheinung erregte diesmal in Berlin das große Aufsehen. Nur als Masse, das Elend zuhauf getragen, vermag der Proletarier die Gesellschaft zur Aufmerksamkeit für sich zu zwingen. Selbst der Letzte, der Obdachlose wird als Masse, und sei es bloß als Haufe von Leichen, zu einer öffentlichen Größe!
Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes, unansehnliches Ding. Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln. Nach dem Barrikadenkampf am 18. März 1848 hoben die Berliner Arbeiter die Leichen der Gefallenen in die Höhe, trugen sie vor das Königsschloß und zwangen den Despotismus, vor den Opfern das Haupt zu entblößen. Jetzt gilt es, die Leichen der vergifteten Obdachlosen in Berlin, die Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut sind, auf Millionen Proletarierhänden emporzuheben und ins neue Jahr des Kampfes zu tragen mit dem Rufe: Nieder mit der infamen Gesellschaftsordnung, die solche Greuel gebiert!
Der Text von Rosa Luxemburg findet sich in dem Katalog zur Ausstellung »Wohnsitz:Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße«, 1982, herausgegeben vom Künstlerhaus Bethanien. Danke!