Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Illusionen ohne Ende

Der Staat sol­le rich­ten, was alles in der Gesell­schaft und spe­zi­ell in der Wirt­schaft schief­läuft, so die immer noch vor­han­de­ne Über­zeu­gung und immer wie­der akti­vier­te For­de­rung von Men­schen aller poli­ti­schen Couleur.

Dabei wird im Ansatz nicht mehr dar­über nach­ge­dacht, über wel­che Steue­rungs­kom­pe­ten­zen der Staat tat­säch­lich ver­fügt, was die wei­ter­ge­hen­de Fra­ge nach einer Staats­theo­rie auf­wirft, um wenig­stens ein beschei­de­nes Raster für des­sen Hand­lungs­fä­hig­keit zu entwerfen.

Wir den­ken Staat immer noch ger­ne als die­je­ni­ge Instanz, die über ein Gewalt­mo­no­pol in einem bestimm­ba­ren Ter­ri­to­ri­um ver­fügt. Über aller­lei Wahl­pro­zes­se sol­len dabei Par­tei­en und Per­so­nen instal­liert wer­den, denen es gelingt, Ent­schei­dun­gen so zu fäl­len, dass damit Gutes bewirkt wird, Gutes im Sin­ne der Vor­stel­lun­gen der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Aber die Rück­sich­ten auf eine Grup­pie­rung wie die EU und auf ver­schie­de­ne inter­na­tio­na­le Ver­trä­ge sind ekla­tant, wodurch die inner­staat­li­che Kom­pe­tenz inzwi­schen stark ein­ge­schränkt wird. In ande­ren Wor­ten: Die Sou­ve­rä­ni­tät eines Lan­des ist eingeschränkt.

Nimmt man den soge­nann­ten staat­li­chen Stand­ort­wett­be­werb um die Ansie­de­lung gro­ßer inter­na­tio­nal täti­ger Kon­zer­ne, wird dies bei­spiel­haft deut­lich. So war jüngst zu lesen, dass sich ein inter­na­tio­na­ler Chip­fer­ti­ger zwar in Mag­de­burg ansie­deln wol­le, dies aber nur, wenn eine sat­te Sub­ven­ti­on zu erwar­ten wäre. Ande­re hie­si­ge Unter­neh­men pro­du­zie­ren zwar hier, haben ihren recht­li­chen Sitz jedoch in den Nie­der­lan­den – was sicher nicht auf eine beson­de­re Soli­da­ri­tät mit den Nie­der­lan­den hin­weist. Nein, der Stand­ort­wett­be­werb stellt sich eben auch als ein Steu­er­wett­be­werb dar.

Es wäre sicher skur­ril, von den Unter­neh­men, die welt­weit tätig sind, gera­de mit Blick auf Deutsch­land eine soli­da­ri­sche Hal­tung zu erwar­ten. Wer als Arbeit­neh­mer in trans­na­tio­nal täti­gen Unter­neh­men arbei­tet, muss als Füh­rungs­kraft im mitt­le­ren Manage­ment zwangs­läu­fig bereit sein, sei­nen Wohn­ort den Fir­men­in­ter­es­sen anzu­pas­sen. Wird man als eine sol­che Per­son auf­ge­for­dert, Nie­der­las­sun­gen in Süd­ame­ri­ka zu lei­ten oder als Fach­kraft dort zu arbei­ten, wer­den sich aller Wahr­schein­lich­keit kei­ne soli­da­ri­schen Gefüh­le für Men­schen in der Hei­mat – was ist das in die­sem Fall? – entwickeln.

Marx beob­ach­te­te zu sei­ner Zeit, wie die Arbei­ter in einer Fabrik sich einem Regime unter­ord­nen muss­ten, wor­aus sich eine gemein­sa­me Welt­sicht bezo­gen auf die­sen Arbeits­ort hät­te ein­stel­len kön­nen, in der Ver­all­ge­mei­ne­rung das Klas­sen­be­wusst­sein. Gibt es heu­te in trans­na­tio­nal täti­gen Unter­neh­men eine ähn­li­che Wir­kung? Gut qua­li­fi­zier­te Arbeit­neh­mer, die sich ihrer Bedeu­tung für ein Unter­neh­men bewusst und zudem nicht kurz­fri­stig aus­wech­sel­bar sind, kön­nen sich nun in der Welt ori­en­tie­ren, spre­chen ohne­hin neben der Mut­ter­spra­che haupt­säch­lich Eng­lisch, ent­wickeln Freund­schaf­ten, die weit über die alten Gren­zen die­ses Staa­tes hin­aus­ge­hen. In moder­ne­rer For­mu­lie­rung gesagt, bewe­gen sie sich in einer Lebens­welt, wo es zwar einen Wohn­ort für den Rest der Fami­li­en gibt, sie sel­ber aber gren­zen­los mobil sind. Hier ent­wickeln sich Welt­bür­ger einer Welt­ge­sell­schaft, was sich eben­so für Unter­neh­men wie die Tele­kom, für gro­ße Bau­kon­zer­ne, die im ara­bi­schen Raum agie­ren, sagen lie­ße. Die Vor­stel­lung, bei die­sen Men­schen wür­de sich eine Soli­da­ri­tät mit dem Hei­mat­land ent­wickeln, weil man daher stammt, aber nicht zwin­gend dort sess­haft bleibt, hat einen sehr nost­al­gi­schen Inhalt.

Die Lebens­welt, in der sich sol­che Men­schen bewe­gen, wird nicht mehr von unse­ren Insti­tu­tio­nen des Staa­tes bestimmt. Sie wer­den sich wohl auch für unse­re öko­lo­gi­schen Kri­sen und Kata­stro­phen immer weni­ger inter­es­sie­ren. Was ein­mal als Land­flucht vor vie­len Jahr­zehn­ten begann, wächst nun in völ­lig neue Dimen­sio­nen hin­ein und kann in einer Staa­ten­flucht enden. Hoch­qua­li­fi­zier­te Arbeit­neh­mer sind mit­hin in der Lage, den staat­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wün­schen in Form etwa der erhoff­ten Soli­da­ri­tät ein schlich­tes Nein ent­ge­gen­zu­stel­len. Der Staat ist dadurch mit einer laten­ten Form des Anar­chis­mus kon­fron­tiert. Mit dem NEIN set­zen die poten­ti­el­len Welt­bür­ger dem ein­zel­nen Staat Gren­zen für sei­ne Herr­schaft und Gren­zen für das Mit­leid mit den dort gebliebenen.

Der Staat hier ist auf dem besten Wege, sich in eine Ver­samm­lung von immo­bi­len Per­so­nen zu ver­wan­deln. Neh­men wir als Bei­spiel einen Bau­ern mit einem eige­nen Land­be­sitz. Die­ser wird sich lan­ge an sei­ne Schol­le klam­mern und zahl­lo­se Ein­schrän­kun­gen sei­nes Tuns hin­neh­men müs­sen. Ver­wan­delt er sich in einen Agrar­un­ter­neh­mer, der in ande­ren, etwa öst­li­chen EU-Län­dern die indu­stri­el­le Erzeu­gung von Geflü­gel beherrscht und für sich nut­zen kann – was hält ihn dann gedank­lich in die­sem Lan­de fest? Nichts, außer den nach wie vor bestehen­den Absatz­be­zie­hun­gen, von denen er sich aber lösen wird, wenn er neue poten­te Abneh­mer auf der Welt fin­det. Nicht ein­mal Rent­ner sind dar­auf ange­wie­sen, in die­ser kal­ten Hei­mat zu blei­ben, wenn sie denn in einem ande­ren Land mit nied­ri­ge­ren Lebens­hal­tungs­ko­sten eben­so leben kön­nen. Man muss ja nicht sofort aus­wan­dern. Auch das Hand­werk hat einen gol­de­nen Boden, und ob man sich hier mit sei­nem Kön­nen selb­stän­dig macht oder in Austra­li­en oder in Kana­da, wen stört das.

Schon seit Jah­ren ist der Ein­zel­han­del durch sei­ne welt­weit orga­ni­sier­te Kon­zern­struk­tur nicht mehr auf die­sen hei­mat­li­chen Raum ange­wie­sen. Was wür­de es für einen Kön­ner im Aldi-Manage­ment mit sich brin­gen, statt bis­her in irgend­ei­ner Stadt in Deutsch­land tätig zu sein, son­dern statt­des­sen in Groß­bri­tan­ni­en oder in Por­tu­gal oder wer weiß sonst noch wo?

Ich wer­de das Gefühl nicht los, wir hät­ten noch nicht so recht rea­li­siert, was es mit der Glo­ba­li­sie­rung auf sich hat und wie sich Welt­sich­ten von Men­schen dadurch ver­än­dert haben, dass sich ihr Leben nicht mehr auf die klei­nen Städ­te Deutsch­lands redu­zie­ren lässt. Die Musik, die gigan­ti­schen Ent­wick­lun­gen fin­den ganz woan­ders in der Welt statt. Es ist Zeit, die Nabel­schau selbst einer kri­ti­schen Revi­si­on zu unterziehen.

Gewiss könn­te man hier Ein­zel­fäl­le beschrei­ben, die sich einem empi­risch-ana­ly­ti­schen Ansatz zur Ent­wick­lung von Hypo­the­sen noch ent­zie­hen. Wir wis­sen aber seit Hegel, dass die Eule der Miner­va ihren Flug in der Däm­me­rung beginnt. Wenn man auf Wis­sen­schaf­ten war­tet, statt das Neue in den Blick zu neh­men, wel­ches noch mit kei­nem Begriff umschrie­ben wer­den kann, ver­liert man den Zugang zur Welt und ver­mei­det es ledig­lich, ler­nend auf Irri­ta­tio­nen zu ant­wor­ten. Niklas Luh­mann ver­such­te, die Evo­lu­ti­on von Gesell­schaft zu begrei­fen und woll­te dabei kei­ne Seman­tik zur Beschrei­bung älte­rer Welt­an­sich­ten kon­ser­vie­ren. Es könn­te mit­hin sein, dass die Seman­tik von und über Staa­ten inzwi­schen obso­let gewor­den ist. Mit der Akti­vie­rung von Erin­ne­rungs­po­sten lässt sich kei­ne Gestal­tungs­macht gewinnen.