Der Staat solle richten, was alles in der Gesellschaft und speziell in der Wirtschaft schiefläuft, so die immer noch vorhandene Überzeugung und immer wieder aktivierte Forderung von Menschen aller politischen Couleur.
Dabei wird im Ansatz nicht mehr darüber nachgedacht, über welche Steuerungskompetenzen der Staat tatsächlich verfügt, was die weitergehende Frage nach einer Staatstheorie aufwirft, um wenigstens ein bescheidenes Raster für dessen Handlungsfähigkeit zu entwerfen.
Wir denken Staat immer noch gerne als diejenige Instanz, die über ein Gewaltmonopol in einem bestimmbaren Territorium verfügt. Über allerlei Wahlprozesse sollen dabei Parteien und Personen installiert werden, denen es gelingt, Entscheidungen so zu fällen, dass damit Gutes bewirkt wird, Gutes im Sinne der Vorstellungen der Mehrheit der Bevölkerung. Aber die Rücksichten auf eine Gruppierung wie die EU und auf verschiedene internationale Verträge sind eklatant, wodurch die innerstaatliche Kompetenz inzwischen stark eingeschränkt wird. In anderen Worten: Die Souveränität eines Landes ist eingeschränkt.
Nimmt man den sogenannten staatlichen Standortwettbewerb um die Ansiedelung großer international tätiger Konzerne, wird dies beispielhaft deutlich. So war jüngst zu lesen, dass sich ein internationaler Chipfertiger zwar in Magdeburg ansiedeln wolle, dies aber nur, wenn eine satte Subvention zu erwarten wäre. Andere hiesige Unternehmen produzieren zwar hier, haben ihren rechtlichen Sitz jedoch in den Niederlanden – was sicher nicht auf eine besondere Solidarität mit den Niederlanden hinweist. Nein, der Standortwettbewerb stellt sich eben auch als ein Steuerwettbewerb dar.
Es wäre sicher skurril, von den Unternehmen, die weltweit tätig sind, gerade mit Blick auf Deutschland eine solidarische Haltung zu erwarten. Wer als Arbeitnehmer in transnational tätigen Unternehmen arbeitet, muss als Führungskraft im mittleren Management zwangsläufig bereit sein, seinen Wohnort den Firmeninteressen anzupassen. Wird man als eine solche Person aufgefordert, Niederlassungen in Südamerika zu leiten oder als Fachkraft dort zu arbeiten, werden sich aller Wahrscheinlichkeit keine solidarischen Gefühle für Menschen in der Heimat – was ist das in diesem Fall? – entwickeln.
Marx beobachtete zu seiner Zeit, wie die Arbeiter in einer Fabrik sich einem Regime unterordnen mussten, woraus sich eine gemeinsame Weltsicht bezogen auf diesen Arbeitsort hätte einstellen können, in der Verallgemeinerung das Klassenbewusstsein. Gibt es heute in transnational tätigen Unternehmen eine ähnliche Wirkung? Gut qualifizierte Arbeitnehmer, die sich ihrer Bedeutung für ein Unternehmen bewusst und zudem nicht kurzfristig auswechselbar sind, können sich nun in der Welt orientieren, sprechen ohnehin neben der Muttersprache hauptsächlich Englisch, entwickeln Freundschaften, die weit über die alten Grenzen dieses Staates hinausgehen. In modernerer Formulierung gesagt, bewegen sie sich in einer Lebenswelt, wo es zwar einen Wohnort für den Rest der Familien gibt, sie selber aber grenzenlos mobil sind. Hier entwickeln sich Weltbürger einer Weltgesellschaft, was sich ebenso für Unternehmen wie die Telekom, für große Baukonzerne, die im arabischen Raum agieren, sagen ließe. Die Vorstellung, bei diesen Menschen würde sich eine Solidarität mit dem Heimatland entwickeln, weil man daher stammt, aber nicht zwingend dort sesshaft bleibt, hat einen sehr nostalgischen Inhalt.
Die Lebenswelt, in der sich solche Menschen bewegen, wird nicht mehr von unseren Institutionen des Staates bestimmt. Sie werden sich wohl auch für unsere ökologischen Krisen und Katastrophen immer weniger interessieren. Was einmal als Landflucht vor vielen Jahrzehnten begann, wächst nun in völlig neue Dimensionen hinein und kann in einer Staatenflucht enden. Hochqualifizierte Arbeitnehmer sind mithin in der Lage, den staatlichen Kommunikationswünschen in Form etwa der erhofften Solidarität ein schlichtes Nein entgegenzustellen. Der Staat ist dadurch mit einer latenten Form des Anarchismus konfrontiert. Mit dem NEIN setzen die potentiellen Weltbürger dem einzelnen Staat Grenzen für seine Herrschaft und Grenzen für das Mitleid mit den dort gebliebenen.
Der Staat hier ist auf dem besten Wege, sich in eine Versammlung von immobilen Personen zu verwandeln. Nehmen wir als Beispiel einen Bauern mit einem eigenen Landbesitz. Dieser wird sich lange an seine Scholle klammern und zahllose Einschränkungen seines Tuns hinnehmen müssen. Verwandelt er sich in einen Agrarunternehmer, der in anderen, etwa östlichen EU-Ländern die industrielle Erzeugung von Geflügel beherrscht und für sich nutzen kann – was hält ihn dann gedanklich in diesem Lande fest? Nichts, außer den nach wie vor bestehenden Absatzbeziehungen, von denen er sich aber lösen wird, wenn er neue potente Abnehmer auf der Welt findet. Nicht einmal Rentner sind darauf angewiesen, in dieser kalten Heimat zu bleiben, wenn sie denn in einem anderen Land mit niedrigeren Lebenshaltungskosten ebenso leben können. Man muss ja nicht sofort auswandern. Auch das Handwerk hat einen goldenen Boden, und ob man sich hier mit seinem Können selbständig macht oder in Australien oder in Kanada, wen stört das.
Schon seit Jahren ist der Einzelhandel durch seine weltweit organisierte Konzernstruktur nicht mehr auf diesen heimatlichen Raum angewiesen. Was würde es für einen Könner im Aldi-Management mit sich bringen, statt bisher in irgendeiner Stadt in Deutschland tätig zu sein, sondern stattdessen in Großbritannien oder in Portugal oder wer weiß sonst noch wo?
Ich werde das Gefühl nicht los, wir hätten noch nicht so recht realisiert, was es mit der Globalisierung auf sich hat und wie sich Weltsichten von Menschen dadurch verändert haben, dass sich ihr Leben nicht mehr auf die kleinen Städte Deutschlands reduzieren lässt. Die Musik, die gigantischen Entwicklungen finden ganz woanders in der Welt statt. Es ist Zeit, die Nabelschau selbst einer kritischen Revision zu unterziehen.
Gewiss könnte man hier Einzelfälle beschreiben, die sich einem empirisch-analytischen Ansatz zur Entwicklung von Hypothesen noch entziehen. Wir wissen aber seit Hegel, dass die Eule der Minerva ihren Flug in der Dämmerung beginnt. Wenn man auf Wissenschaften wartet, statt das Neue in den Blick zu nehmen, welches noch mit keinem Begriff umschrieben werden kann, verliert man den Zugang zur Welt und vermeidet es lediglich, lernend auf Irritationen zu antworten. Niklas Luhmann versuchte, die Evolution von Gesellschaft zu begreifen und wollte dabei keine Semantik zur Beschreibung älterer Weltansichten konservieren. Es könnte mithin sein, dass die Semantik von und über Staaten inzwischen obsolet geworden ist. Mit der Aktivierung von Erinnerungsposten lässt sich keine Gestaltungsmacht gewinnen.