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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ihr Gedächtnis bleibt

Nach dem Ein­marsch der deut­schen Trup­pen in Czer­no­witz im Juli 1941 wur­den die Juden, die einen gro­ßen Bevöl­ke­rungs­an­teil aus­mach­ten, im Ghet­to zusam­men­ge­pfercht. Von dort gin­gen dann Trans­por­te in das von der SS bewach­te rumä­ni­sche Arbeits­la­ger Michai­low­ka in Trans­ni­stri­en (Ukrai­ne). Zu den Depor­tier­ten gehör­ten auch das 18-jäh­ri­ge deutsch­spra­chi­ge Mäd­chen Sel­ma Mer­baum und ihre Fami­lie. Unter­wegs gelang es ihr noch, ihr »Blü­ten­le­se« beti­tel­tes Gedicht-Album jeman­dem zuzu­stecken, bevor sie kurz dar­auf – am 16. Dezem­ber 1942 – ent­kräf­tet vom Fleck­fie­ber im Zwangs­ar­beits­la­ger starb. »Ich will nicht ster­ben. Nein /​ Nein«, hat­te sie noch in ihr Poe­sie­al­bum geschrie­ben, bevor sie den Todes­marsch in die Depor­ta­ti­on antre­ten musste.

Ihre 57 Gedich­te gin­gen mit zwei jüdi­schen Schul­freun­din­nen Sel­mas bis nach Isra­el. Hier ent­deck­te Sel­mas ein­sti­ger Leh­rer von der jid­di­schen Schu­le in Czer­no­witz, Hersch Segal, 1968 in einer in der DDR von Heinz Sey­del her­aus­ge­ge­be­nen Antho­lo­gie »Welch Wort in die Käl­te geru­fen« (1968) ein Gedicht Sel­mas – »Poem«; zwei ihrer Gedich­te hat­te Sey­del in Buka­rest von ehe­ma­li­gen Czer­no­wit­zern erhal­ten. Segal konn­te Sel­mas ein­sti­ge Freun­din­nen in Isra­el ermit­teln und brach­te alle erhal­ten geblie­be­nen Gedich­te Sel­mas in einem Pri­vat­druck 1976 her­aus. Aber als Lyri­ke­rin wur­de Sel­ma eigent­lich erst durch die Stern-Repor­ta­ge des Jour­na­li­sten und Exil-For­schers Jür­gen Ser­ke im Mai 1980 bekannt. Die­ser ver­öf­fent­lich­te auch 1985 ihre 57 Gedich­te unter dem Titel »Ich bin in Sehn­sucht ein­ge­hüllt«. Und nun setz­te eine bei­spiel­lo­se Wir­kungs­ge­schich­te ein. Sel­ma Mer­baums Gedich­te wur­den gedruckt (Auf­la­ge auf Auf­la­ge erschie­nen), auf Lite­ra­tur­ver­an­stal­tun­gen rezi­tiert, sie wur­den ver­tont und von Inter­pre­ten gesun­gen, ein Hör­buch kam her­aus, dem Iris Ber­ben ihre Stim­me lieh.

Von der Lyri­ke­rin Hil­de Domin auf Sel­ma Mer­baum auf­merk­sam gemacht, hat die Schrift­stel­le­rin und Bio­gra­fin Mari­on Tausch­witz – sie hat selbst eine erfolg­rei­che Hil­de-Domin-Bio­gra­fie geschrie­ben – in jah­re­lan­ger Arbeit das Leben der jun­gen Dich­te­rin rekon­stru­iert, Archiv­ma­te­ria­li­en aus­ge­wer­tet und Zeit­zeu­gen befragt. Ihrer 2014 erschie­ne­ne, erschüt­ternd zu lesen­de lite­ra­ri­sche Bio­gra­fie »Sel­ma Mer­baum – ›Ich habe kei­ne Zeit gehabt, zuen­de zu schrei­ben‹« (das waren Sel­mas letz­te Wor­te in ihrem Gedich­t­al­bum) hat sie alle Lyrik-Tex­te Sel­mas, nach den Ori­gi­nal­hand­schrif­ten neu über­tra­gen, bei­gefügt. Der Zuspruch war enorm, die Autorin erhielt auch wich­ti­ge Hin­wei­se, neue Spu­ren zu ver­fol­gen, so dass nun zum 100. Geburts­tag Sel­mas eine aktua­li­sier­te und erwei­ter­te Neu­aus­ga­be her­aus­kom­men konn­te. Die Schau­spie­le­rin Iris Ber­ben, mit der auch ein Hör­buch der Gedich­te Sel­ma Mer­baums pro­du­ziert wur­de, schreibt im Vor­wort: »Die Bio­gra­fie gibt Sel­ma ihre Iden­ti­tät zurück, die die Nazi-Scher­gen ihr zu neh­men ver­sucht hat­ten. Sel­mas Füh­len und Den­ken, Leben und Ster­ben wer­den uns nicht nur durch ihr Werk, son­dern nun auch durch den Blick auf ihr Leben für immer in Erin­ne­rung bleiben.«

In ihrer Bio­gra­fie ver­eint Mari­on Tausch­witz schrift­stel­le­ri­sches Kön­nen mit wis­sen­schaft­li­cher Akri­bie. Auch wenn sie Bege­ben­hei­ten aus dem Leben der jun­gen Dich­te­rin erzählt, über­schrei­tet sie die authen­tisch-bio­gra­fi­sche Ebe­ne nicht, lässt nie ihre Fan­ta­sie spie­len, son­dern hält sich an den einer Bio­gra­fie gesetz­ten Rah­men. Doch sie ver­steht so ein­fühl­sam, so bewe­gend zu schrei­ben, dass man trotz der Fül­le zeit­ge­schicht­li­cher, bio­gra­fi­scher, die Umwelt der jun­gen Dich­te­rin erläu­tern­den Umstän­de nicht mehr von der Lek­tü­re loskommt.

Mit 16 Jah­ren – 1939 – hat Sel­ma Gedich­te zu schrei­ben begon­nen, und es blie­ben ihr nur knapp drei Jah­re, bevor sie ins Zwangs­ar­beits­la­ger depor­tiert wur­de. Hat die jun­ge Sel­ma ähn­lich auf­be­gehrt wie Anne Frank, als ihr Lebens­raum im Ghet­to von Czer­no­witz immer mehr ein­ge­schränkt wur­de? Sie fühl­te sich »gefan­gen im Käfig der Gefüh­le«, so M. Tauch­witz, und es schien, als ob sie mit dem Schrei­ben noch ein zwei­tes Leben bekom­men hät­te, ein gehei­mes, in der das wirk­li­che Leben statt­fand, die Flucht in eine Frei­heit, die ihr im Leben ver­sagt war. Es ging ihr dar­um, sich selbst zu fin­den über den Pro­zess des Schrei­bens. Den Zwän­gen des Eltern­hau­ses, ihres ein­ge­schränk­ten Lebens ent­floh sie in die Natur, wie ihr vier Jah­re älte­rer Cou­sin Paul Celan ver­trau­te sie sich ihren Gedich­ten an, fand Anschluss an die zio­ni­sti­sche Jugend­grup­pe Hash­o­mer Hazair. »Und hast du auch noch tau­send Ster­ne in der Hand – sie kann noch tau­send tra­gen«, heißt es in einem ihrer Gedich­te. Sie spre­chen von der Ahnung, dass sich nichts erfül­len wird. Da ist die erste Lie­be zu dem ein Jahr älte­ren Lei­ser Fich­man, der dann tra­gisch auf sei­ner Flucht nach Isra­el ums Leben kam. Sie hat­te eine Visi­on von einem erfüll­ten Leben, ihren Über­le­bens­wil­len schöpf­te sie aus der Bestän­dig­keit der Natur.

Dann ging alles sehr schnell. Bereits die im Juni 1941 in Czer­no­witz ein­rücken­de Rote Armee hat­te mit der Depor­tie­rung jüdi­scher Bevöl­ke­rung nach Sibi­ri­en begon­nen. Als dann die sich mit Hit­ler-Deutsch­land ver­bün­de­ten Rumä­nen Anfang Juli nach Czer­no­witz zurück­kehr­ten, begann der blan­ke Ter­ror gegen die Juden, Ver­haf­tun­gen, Erschie­ßun­gen, die Ghet­toi­sie­rung von 60 000 Men­schen. Die ersten Trans­por­te gin­gen ins Arbeits­la­ger Michai­lows­ka ab, ins rumä­ni­sche Lager dies­seits des Flus­ses Bug, ins deut­sche jen­seits des Flusses.

»Der Schrei zer­reißt die Idyl­le und zerrt das Hier und Jetzt ans Tages­licht«, schreibt M. Tausch­witz. Sel­ma reflek­tiert die mensch­li­che Exi­stenz und die Flüch­tig­keit ihres Daseins, ihre Furcht, sich »ver­schenkt« zu haben und zu ver­schwin­den, ohne Spu­ren hin­ter­las­sen zu dür­fen. Zu ver­flie­ßen »wie Rauch ins Nichts« (»Tra­gik«). Und im »Poem« heißt es: »Sie kom­men dann /​ und wür­gen mich. /​Mich und dich /​ Tot. /​ Das Leben ist rot /​ braust und lacht. /​ Über Nacht /​ bin ich /​ Tot.« Das Gedicht denkt den Tod als sei­nen Schat­ten mit. Ende Juni 1942 wer­den dann auch Sel­ma, Mut­ter und Stief­va­ter nach Trans­ni­stri­en trans­por­tiert und zum Stra­ßen­bau ein­ge­setzt. Bis 1945 wer­den hier im Arbeits­la­ger mehr als 50 000 Buko­wi­ner Juden sterben.

Jür­gen Ser­ke zähl­te Sel­ma Mer­baum zum »lite­ra­ri­schen Drei­ge­stirn« von Czer­no­witz, das neben ihr die Namen Paul Celan und Rose Aus­län­der trägt: Celan ist über den Tod sei­ner Eltern im Lager Michai­lows­ka nie hin­weg­ge­kom­men (»der Tod ist ein Mei­ster aus Deutsch­land« heißt es in sei­ner »Todes­fu­ge«), er litt unter dem Trau­ma des Über­le­ben­wol­lens, hat­te kein Lebens- und erst recht kein Sprach­ver­trau­en mehr und schied 1970 aus dem Leben, wäh­rend Rose Aus­län­der 1941 ins Cer­no­wit­zer Ghet­to kam und in einem Kel­ler­ver­lies die Nazi­zeit über­leb­te. Aber zum lite­ra­ri­schen Erbe der aus­ge­lösch­ten deutsch-jüdi­schen Kul­tur der Buko­wi­na gehö­ren wei­te­re Dich­ter wie der früh emi­grier­te Itzig Man­ger, mit dem sich auch Sel­ma Mer­baum beschäf­tigt hat, Moses Rosen­kranz, der zwar anti­se­mi­ti­schen Ver­fol­gun­gen ent­kom­men war, dann aber 10 Jah­re in den sowje­ti­schen Gulags ver­brach­te, Alfred Kitt­ner, der die Lager­ar­beit in Trans­ni­stri­en über­leb­te, Alfred Mar­gul-Sper­ber, der 1940 nach Buka­rest ging und den Depor­ta­tio­nen nach Trans­ni­stri­en ent­kam. Und man muss dann eben auch die näch­ste Dich­ter­ge­ne­ra­ti­on mit Celan und Sel­ma Mer­baum hin­zu­zäh­len: Imma­nu­el Weiss­glas, er über­leb­te die Lager in Trans­ni­stri­en, Alfred Gong, er ret­te­te sich aus dem Czer­no­wit­zer Ghet­to nach Sie­ben­bür­gen und kam von dort ins Arbeits­la­ger in Mog­hi­l­ov, und andere.

Die­sem Sam­mel­becken mul­ti­kul­tu­rel­ler deutsch-jüdi­scher Lite­ra­tur im viel­spra­chi­gen Czer­no­witz und in der Buko­wi­na soll­te die NS-Ver­nich­tungs­po­li­tik ein Ende set­zen. Nur 5 000 von 60 000 Juden über­leb­ten die deut­sche Besat­zung in Czer­no­witz, über­leb­ten die »End­lö­sung« der Nazis. Und die nur 18 Jah­re alt gewor­de­ne Sel­ma Mer­baum, für die Schrei­ben Leben, Über­le­ben bedeu­tet hat­te, gehört nun dazu: »Ich möch­te leben. /​ Ich möch­te lachen und Lasten heben /​ und möch­te kämp­fen und lie­ben und has­sen /​ und möch­te den Him­mel mit Hän­den fas­sen /​ und möch­te frei sein und atmen und schrein. /​ Ich will nicht ster­ben. Nein. /​ Nein …« Ihr Gedächt­nis – das Gedicht – bleibt.

 Mari­on Tausch­witz: Sel­ma Mer­baum »Ich habe kei­ne Zeit gehabt zuen­de zu schrei­ben«. Bio­gra­fie und Gedich­te. Mit einem Vor­wort von Iris Ber­ben. Aktua­li­sier­te und erwei­ter­te Neu­auf­la­ge 2023, zu Klam­pen Ver­lag, 358 S., 17.99 €.