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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ich schäme mich

Nach den mor­gend­li­chen Nach­rich­ten vom heu­ti­gen 9. April 22 hat­te ich eigent­lich beschlos­sen, von der The­ma­tik des Krie­ges zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne wenig­stens zwi­schen­zeit­lich mal eine Aus­zeit zu neh­men. Was Zuviel ist, ist Zuviel. Das heu­ti­ge Fern­seh-Exklu­siv-Inter­view mit dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten und der EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin hat­ten mich dar­in noch bestärkt. Mir ist aber voll­kom­men unver­ständ­lich, wie­so die schul­di­ge Sei­te für die Beschie­ßung der Zivi­li­sten auf dem Bahn­hof von Kra­ma­torsk und die Ver­ur­sa­cher für ande­re Kata­stro­phen bis­her nicht ermit­telt wer­den konn­ten. Dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten ist des­halb in sei­ner aktu­el­len For­de­rung zuzu­stim­men, rest­los auf­zu­klä­ren, wer was ver­an­lasst und wer wozu wel­che Befeh­le erteilt hat.

Die furcht­ba­ren Ereig­nis­se der letz­ten Tage erin­nern mich an die Pla­ka­te des von mir noch erleb­ten II. Welt­krie­ges mit der War­nung »Pst! Feind hört mit!«, an die War­nun­gen vor dem gei­ster­haf­ten »Koh­len­klau« auf Pla­ka­ten der Bahn­hö­fe und an Loko­mo­tiv­auf­schrif­ten wie »Räder müs­sen rol­len für den Sieg!« sowie an nächt­li­che Kon­trol­len der Block­war­te über die Licht­durch­läs­sig­keit ver­dun­kel­ter Fen­ster. Zu mei­nen Erin­ne­run­gen gehö­ren Bom­ben­näch­te im Haus­kel­ler, bren­nen­de Gebäu­de, schwarz­ge­klei­de­te Ver­wand­te, hun­gern­de Kin­der, blin­de Leh­rer und bein­am­pu­tier­te Mitschüler.

Auch der Unter­richt in Spei­se­räu­men von Betrie­ben ist mir wie­der gegen­wär­tig, da die Schul­zim­mer damals als Laza­ret­te ent­frem­det wor­den waren. Im Alarm­fall wur­den die Stun­den sofort been­det und alle Schü­ler auf­ge­for­dert, bis zur »Ent­war­nung« sofort den näch­sten »LSR« – Luft­schutz­raum – auf­zu­su­chen. Die Abkür­zung »LSR« wur­de auch als Kür­zel für »Lasst Sta­lin rein« oder »Lernt schnell rus­sisch!« weitergeflüstert.

Ich war glück­lich dar­über, mei­ne Aus­bil­dung nach Kriegs­en­de sowie mein Berufs- und Fami­li­en­le­ben, mei­ne Hob­bies und mein Rent­ner­da­sein in Frie­den ver­brin­gen zu kön­nen. Und ich kann es nicht fas­sen, dass das Ende mei­ner Tage wie­der im Krieg erfol­gen könnte.

Davor schä­me ich mich vor mei­nen Kin­dern und Enkeln und Urenkeln.

Wolf­gang Hel­frit­sch (86)