Nach den morgendlichen Nachrichten vom heutigen 9. April 22 hatte ich eigentlich beschlossen, von der Thematik des Krieges zwischen Russland und der Ukraine wenigstens zwischenzeitlich mal eine Auszeit zu nehmen. Was Zuviel ist, ist Zuviel. Das heutige Fernseh-Exklusiv-Interview mit dem ukrainischen Präsidenten und der EU-Kommissionspräsidentin hatten mich darin noch bestärkt. Mir ist aber vollkommen unverständlich, wieso die schuldige Seite für die Beschießung der Zivilisten auf dem Bahnhof von Kramatorsk und die Verursacher für andere Katastrophen bisher nicht ermittelt werden konnten. Dem ukrainischen Präsidenten ist deshalb in seiner aktuellen Forderung zuzustimmen, restlos aufzuklären, wer was veranlasst und wer wozu welche Befehle erteilt hat.
Die furchtbaren Ereignisse der letzten Tage erinnern mich an die Plakate des von mir noch erlebten II. Weltkrieges mit der Warnung »Pst! Feind hört mit!«, an die Warnungen vor dem geisterhaften »Kohlenklau« auf Plakaten der Bahnhöfe und an Lokomotivaufschriften wie »Räder müssen rollen für den Sieg!« sowie an nächtliche Kontrollen der Blockwarte über die Lichtdurchlässigkeit verdunkelter Fenster. Zu meinen Erinnerungen gehören Bombennächte im Hauskeller, brennende Gebäude, schwarzgekleidete Verwandte, hungernde Kinder, blinde Lehrer und beinamputierte Mitschüler.
Auch der Unterricht in Speiseräumen von Betrieben ist mir wieder gegenwärtig, da die Schulzimmer damals als Lazarette entfremdet worden waren. Im Alarmfall wurden die Stunden sofort beendet und alle Schüler aufgefordert, bis zur »Entwarnung« sofort den nächsten »LSR« – Luftschutzraum – aufzusuchen. Die Abkürzung »LSR« wurde auch als Kürzel für »Lasst Stalin rein« oder »Lernt schnell russisch!« weitergeflüstert.
Ich war glücklich darüber, meine Ausbildung nach Kriegsende sowie mein Berufs- und Familienleben, meine Hobbies und mein Rentnerdasein in Frieden verbringen zu können. Und ich kann es nicht fassen, dass das Ende meiner Tage wieder im Krieg erfolgen könnte.
Davor schäme ich mich vor meinen Kindern und Enkeln und Urenkeln.
Wolfgang Helfritsch (86)