Ein unvergesslicher Augenblick im Leben eines Biografen: die Nachricht der Leiterin des Phonogramm-Archivs am Berliner Ethnologischen Museum, dass auf dort aufbewahrten Wachsrollen Hans Paasches (1881 – 1920) Stimme zu hören sei. Dann das Audioerlebnis: Aus dem Kopfhörer erschallt lange Zeit ein Knistern und dann endlich die helle, erregte Stimme des jungen Marineoffiziers: » … Neunzehnhundertsechs … Es folgt ein Gesang der Wadschagga …”
Die Dschagga (Chagga) leben im Umkreis des Kilimandscharo-Gebirges. Wer dorthin reist, lernt ihre Hauptstadt Moshi – jedenfalls den Flugplatz und eines der Hotels – sowie einige Chagga kennen, die als Bergführer oder Träger tätig sind. Von Old Moshi, zu Paasches Zeit Sitz einer deutschen Garnison, erfährt jedoch kaum jemand. Um den Ort zu erreichen, muss man sich ein wenig auskennen, und wer dort mehr sucht als Gastfreundschaft und Einblicke in bäuerliches Leben, der wäre vielleicht enttäuscht. An die deutsche Kolonialzeit erinnern ohnehin nur noch drei Gebäude sowie der Galgenbaum, der zuweilen, so glauben manche, in Vollmondnächten wispernd durch das Dorf schlurft. An seinen Ästen sind damals mehrere Chagga gehenkt worden: Sechs Jahre bevor Paasche dort Gesänge aufnahm, gehörte ihr Oberhaupt Meli Kiusa bin Rindi dazu. Die Schädel sogenannter Aufrührer wurden dann nicht selten in wissenschaftliche Sammlungen deutscher Museen aufgenommen. Den Schädel Meli Kiusa bin Rindis forderten die Chagga übrigens letztmals 2003 vergeblich zurück.
Hans Paasche kommt 1904 als Navigationsoffizier auf dem Kreuzer »Bussard« in die Kolonie Deutsch-Ostafrika und hat sich sorgfältig auf seine Dienstzeit vorbereitet. Er erlernte zuvor das Kiswahili, führt Jagdwaffen, Fotoapparate sowie einen Phonografen mit sich. Aber es bleibt nicht viel Zeit, friedfertige Begegnungen zu suchen, Ritual- oder Arbeitsgesänge aufzuzeichnen: Im Juli 1905 entflammt der Maji-Maji-Aufstand den Süden der Kolonie, und der Oberleutnant zur See Paasche wird »Militärischer Befehlshaber im Bezirk Rufiyi«. Damit gerät er in einen Zwiespalt. Er will ein guter Offizier sein, seine Untergebenen sowie mehr als 800 Flüchtlinge schützen, die er sammelt und ernähren und medizinisch betreuen lässt. Doch in Kriegen geht es eindeutiger zu. Hans Paasche lässt Dörfer niederbrennen, muss töten lassen und selbst töten.
Eine Abberufung behütet Paasche davor, noch schuldiger zu werden. Den Grund dafür zeigen Telegramme, mit denen er seine Vorgesetzten darüber unterrichtete, dass die Aufständischen sich zerstreut hätten und er nunmehr Friedensverhandlungen aufnehmen werde. Derlei Eigenmächtigkeit führt zurück auf die »Bussard«, aber auch zur Einsicht, von der Paasche später schreibt: »Ich war anders als die Scharfmacher. Und ich zweifelte dann, ob ich ein Krieger sei, ob ich Mut habe. Deshalb ging ich dem gefährlichen Großwild zu Leibe, ging zwischen Elefanten und fotografierte sie aus einer Nähe wie niemand zuvor, ging zu den Löwen im hohen Grase.« Das Buch »Im Morgenlicht«, in dem er 1907 jene Zeit beschreibt, wird er später verlogen nennen. Da gewinnt er eine andere Sicht auf den Krieg in der Kolonie, dem nach amtlichen deutschen Angaben etwa 75.000 – allein schon im Gefolge der durch die Kämpfe hervorgerufenen Hungersnöte und Seuchen gewiss sehr viel mehr – Afrikaner zum Opfer fielen. Wie einige Textstellen von »Im Morgenlicht« überdies verraten, ahnt Hans Paasche damals schon, dass man von Afrika niemals ganz loskommt.
Im Rang eines Kapitänleutnants aus der Marine entlassen, kehrt er 1909 mit seiner Frau Ellen nach Deutsch-Ostafrika zurück. Die beiden reisen zunächst zum Victoriasee und dann in das Gebiet der heutigen Staaten Ruanda und Burundi. Ellen Paasche steht damals als erste Europäerin an der am weitesten von der Mündung entfernten Quelle des Weißen Nils. Ihre Reisebeschreibung »Hochzeitsreise nach den Quellen des Nils« ist nur in Fragmenten überliefert. Aber selbst diese Bruchstücke zeigen, dass die Reise nicht allein dem Zauber fremder Kulturen und Landschaften galt, sondern vor allem ein Versuch war, sich den Menschen zu nähern, deren Feind Paasche während des Kolonialkrieges sein musste. Das empfand auch Rosa Luxemburg und schrieb aus dem Breslauer Gefängnis an Clara Zetkin: »Beide haben eine Hochzeitsreise zu den Quellen des Nils gemacht … Die beiden haben darauf ein Buch geschrieben (aus dem ich einen Auszug im ‚Berliner Tageblatt› gelesen habe), worin sie über die Neger so menschlich und freiheitlich sich äußerten, daß das Buch sofort beschlagnahmt und eingestampft wurde.«
1910 nach Deutschland zurückgekehrt, hält das Paar Vorträge: In Berlin, Breslau, Heidelberg und vielen anderen Städten zeigen sie Lichtbilder und Sammlungsstücke aus Afrika, spielen den Zuhörern phonografische Aufnahmen vor. Das Interesse ist groß – allein schon an der Persönlichkeit Ellen Paasches, die alle Entbehrungen der Safari zu Fuß geteilt und klug und besänftigend das Lagerleben geordnet hatte. Obgleich die Paasches sich um eine kulturelle Vermittlung bemühen und Hans von »unseren schwarzen Landsleuten« spricht – in den Ohren jener, die dem Rassendünkel anhängen, klingt dergleichen schon wie »unsere schwarzen Mitmenschen« –, verlangen viele Zuhörer nach Erzählungen über Urwälder, in denen tierische und menschliche Bestien hausen, über vor Marterpfählen tanzende Wilde, über Gefechte während Paasches Zeit als Kolonialoffizier. Verwirrt erklärt er sich diese Erwartungen durch eine allgemeine »Betäubung«, »Berauschung«, deren Ursprung er zunächst in der Vergnügungsindustrie, in ungesunder Ernährung und unbedenklicher Lebensweise sieht: »Ich fand, dass die Menschen sich täglich betäuben, um nicht zu sehen, was jeder sehen musste, und ich schloss mich den Bewegungen an, die etwas Besseres aus den Menschen machen wollten, die den Rausch bekämpften und das Mitgefühl mit allem Lebenden weckten.«
Somit beginnt seine Tätigkeit für die Lebensreformbewegung – eine merkwürdige Mischung aus Aufbegehren und Flucht. Ab 1912 veröffentlicht er in der Zeitschrift Der Vortrupp die Briefe eines Afrikaners namens Lukanga Mukara, der das Deutsche Reich besucht. Was Lukanga in Deutschland sieht, erscheint ihm abstoßend: Beißender Rauch liegt über dem Land, Flüsse werden begradigt, weil Gott sie falsch angelegt hat, Eisenbahnen, Gespanne und Lastwagen rasen hin und her und vermehren Rauch und Lärm. Wer arbeitet, kauft vom Erlös seiner Arbeit keine Früchte, sondern Fleisch, von dem er hartleibig wird, sowie allerlei unnütze Dinge, die er ständig pflegen und reparieren muss. Weil nun viele über solchem Alltag fast verrückt werden, ziehen sie schreiend in den Wäldern umher, verscheuchen Tiere und reißen Blumen ab. Da es jedoch zu solchen Ausflügen selten Gelegenheit gibt, betäuben sie sich mit streitsüchtigem Klamauk, »um ihre Waffenlust in Friedenszeit anzuspornen«, mit Getränken, die sie töricht und stumpfsinnig werden lassen, und mit dem Qualm kleiner Stinkröllchen.
Der edle Wilde der Aufklärung, diesmal beschrieben mit der Feder der Romantik? Das mag manchem so erscheinen, zumal dann, wenn er mit ironischem Humor wenig anzufangen weiß. Aber fraglos hält Paasche, vorgeblich nur Herausgeber der Briefe, den Deutschen einen Spiegel vor, der bis heute nicht erblindet ist. Doch sein Wirken gilt längst nicht mehr allein dem Widerstand gegen »Betäubung« und »Berauschung«, sondern auch dem Tier- und Naturschutz: »Alle wirtschaftlichen, alle künstlerischen Aufgaben können von den Menschen immer noch gelöst werden; wenn aber durch unsere Schuld Geschöpfe der Natur ganz vom Erdboden vertilgt werden, das ist nie wieder gutzumachen … Da helfe heute, wer helfen kann und schütze im Tier den Menschen.« Als Publizist und Redner streitet er zudem für ein Wahlrecht der Frauen und gegen die Todesstrafe, und bereits seit 1911 ist er für die Friedensbewegung tätig, tritt während öffentlicher Veranstaltungen in Uniform auf und geht wiederum »zu den Löwen im hohen Grase«: Großes Aufsehen erregen seine Auseinandersetzungen mit Generälen, denen er das Programm der Friedensbewegung vorhält. Ein militärisches Ehrengericht untersagt ihm schließlich das Tragen der Uniform. Aber auch in ziviler Kleidung begeistert der Autor des »Lukanga Mukara« zum Beispiel 1913 die Teilnehmer des ersten Freideutschen Jugendtreffens auf dem Hohen Meißner, als er sie während seiner Rede davor warnt, Mitglieder einer »Wehrkraft-, Wehrmacht-, Militärspiel-Bewegung« zu werden.
Die »Große Zeit« »betriebsamer Säbelschleifer« (Paasche im Vortrupp) kommt dennoch im Jahr darauf. Wie die meisten seiner Landsleute glaubt auch Hans Paasche zunächst, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg und meldet sich freiwillig zum Dienst in der Marine. Freilich, in der Admiralität hat man längst von den pazifistischen Auftritten des Kapitänleutnants gehört und schickt ihn als Beobachter auf den Leuchtturm Roter Sand, weit draußen vor der Wesermündung. Später wird er nach Wilhelmshaven versetzt, wo er sich weigert, an einem Standgericht über einen Matrosen teilzunehmen. Das ist endlich ein Grund, um ihn im Januar 1916, mitten im Krieg, zu entlassen.
Paasche kehrt auf sein Gut Waldfrieden in der Provinz Posen zurück, tritt dem pazifistischen »Bund Neues Vaterland« bei und gehört, nachdem der Bund verboten wurde, zu den Gründungsmitgliedern der »Zentralstelle Völkerrecht«. Mit der Hilfe seiner Frau, seines Sekretärs und französischer Kriegsgefangener verbreitet er pazifistische Schriften, die er auf geheimen Wegen aus der Schweiz bezieht, entwirft und vervielfältigt er Flugblätter. Seine Flugblätter, unter anderem Aufrufe zu Streiks in der Munitionsindustrie, werden selbst in einem Leipziger Rüstungsbetrieb und in einem Warschauer Lazarett beschlagnahmt. Das alles endet im Oktober 1917 mit Paasches Festnahme und einer Anklage wegen »Aufforderung zum Hochverrat und versuchtem Landesverrat«. »Ist es nicht wunderbar«, schreibt Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis, »dass man plötzlich noch Menschen, Männer entdeckt, und zwar in Kreisen, wo man sie am wenigsten vermutete?«, als sie von Paasches Verhaftung erfährt.
Es folgen dreizehn Monate Haft und »militärische Schutzhaft« in einer psychiatrischen Klinik. Im November 1918 befreien aufständische Matrosen und Soldaten den Häftling, berufen ihn in den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, den höchsten Rat der Revolutionäre. Aber alle seine Vorhaben – vom Gericht über jene, die das Volk in den Krieg geführt haben, von der Veröffentlichung aller Dokumente, die sie entlarven, bis hin zu Aktionen wie der Sprengung der Hohenzollernstatuen an der Siegesallee – scheitern am Widerstand rechter Sozialdemokraten. Vergeblich bleibt auch sein Bemühen um Volksräte anstelle eines Parteienparlamentes. Und im Dezember 1918 verschwindet Paasches Name unvermittelt aus den Protokollen: Ellen Paasche, 29-jährig und Mutter von vier Kindern, wird ein Opfer der damals umgehenden Spanischen Grippe.
Der Schlag war furchtbar, doch es kommt nicht so, wie Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky es dann schildern. Paasche zieht sich nicht als gebrochener Mann auf sein Gut zurück. 1919 erscheinen seine hervorragendsten politischen Schriften: »Meine Mitschuld am Weltkriege« und »Das verlorene Afrika«. Da enthüllt er die Triebkräfte von Militarismus und Kolonialismus und warnt vor dem Verderben, das Deutschland zwanzig Jahre später zum »Henker seiner Nachbarn« machen wird: »Eines Tages braucht der eine … nur auf den Knopf zu drücken, und alles Deutsche wälzt sich vernichtend über die Erde: Kanonen, Panzerplatten, chemische Industrie, Grenadierknochen, Philosophie, Menschenfleisch, Druckerschwärze, Zement. Ein wüster feldgrauer Brei …« Wir ahnen, wie sehr dieser Mann bewundert, aber auch gehasst worden ist. Als im Januar symbolisch ein leerer Sarg für Rosa Luxemburg bestattet wird, sieht man ihn mit einem blutroten Kranz. Nach dem Generalstreik im März – Reichswehrminister Noske lässt Artillerie und Flugzeuge gegen Berliner Arbeiter einsetzen – muss Paasche sich im Umland der Hauptstadt verbergen. Als das alles vorbeigeht, resigniert er nicht. Er stellt weiterhin Willkür und Gewalt bloß und wird überdies wieder für den Naturschutz tätig: Pommerscher Nationalpark heißt das Vorhaben, an dem er gemeinsam mit Paul Robien arbeitet. Zudem träumt der Neununddreißigjährige von einer Forschungsreise nach Afrika.
Im Mai 1920 wird der Abschnittskommandeur der Reichswehr in Deutsch-Krone zur Durchsuchung von Waldfrieden aufgefordert. Es heißt, Paasche unterhalte ein Waffenlager für einen kommunistischen Aufstand: Die »Löwen im hohen Grase« haben ihn nicht aus dem Blick verloren. Sie bieten am 21. Mai fünf Dutzend Soldaten auf und lassen das Gut umzingeln. Vorausgeschickt wird ein Polizist, der den Gutsherrn bittet, zum Haus zu kommen, weil ein Offizier ihn sprechen wolle. Augenblicke später, es wird mehrfach ohne Anruf geschossen, ist Hans Paasche tot. Die Mörder sind Soldaten der Republik, Angehörige des Schützenregiments 4 in Deutsch-Krone. Zu den ersten, die an Paasches Grab stehen, gehört Kurt Tucholsky. Mehrfach schreibt er nun über den, wie er ihn nennt, »weißen Raben«. Carl von Ossietzky widmet ihm einen bewegenden Nachruf, aber die Empörung demokratischer Journalisten und Publizisten vermag nichts zu ändern. Die Schuldigen bleiben straflos.
Vor vielen Jahren ließ ich ein Grabkreuz mit daran befestigter Tafel für Hans Paasche anfertigen. Darauf steht in polnischer Sprache der von seiner Tochter Helga entworfene Grabspruch »Hier ruht ein Kämpfer für Frieden und Völkerverständigung, ermordet im Jahre 1920 als Opfer seiner Gesinnung«. Darunter setzte ich die deutschen Worte »Ich habe mehr gesät als geschnitten …« 2005 wurde das Grab zur Gedenkstätte europäischer Verständigung erklärt, Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums der nahen Kreisstadt Krzyz pflegen nunmehr das Grab.
Was bleibt? Vielleicht vor allem jene Schriften, die Hans Paasches Bemühen um die Metanoia schildern, die Umkehr, das Verlangen, nicht nur Veränderung zu fordern, sondern vor allem sich selbst zu ändern und an allem zu zweifeln, »was wir herrlich finden sollen«. Denn, so schrieb er nach den Jahren in Afrika, »wer aber nicht auswandert aus seinem alten Menschen, der wird in keiner Steppe frei«. Wird eine Bewegung zur politischen Partei, dann erscheinen ursprüngliche Bindungen nicht selten als hinderlich. Mit anderen, mit Paasches Worten: »Macht bessert den Menschen nicht.« Das mag einer der Gründe dafür sein, dass die Erinnerung an ihn und andere längst in der Schublade mit der respektlosen Aufschrift »Ökopax« verschwand.
Hans Paasche: »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukura ins innerste Deutschland, Donat Verlag, 168 Seiten, 12,80 €; Werner Lange: »Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland – Eine Biographie«, 264 Seiten, 20 €; Helmut Donat: »Hans Paasche, Offizier, Pazifist«, Ossietzky 12/10