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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ich bin kein Existenzrechtsexperte

In den Geschichts­bü­chern wird 10/​07 es nicht schaf­fen, 09/​11 von sei­nem Spit­zen­platz unter den histo­ri­schen Wen­de­mar­ken zu ver­drän­gen. Al-Qai­da schlägt Hamas. Fragt man aber, wie sehr die Bezie­hun­gen belie­bi­ger unbe­tei­lig­ter Men­schen zuein­an­der durch ein Ereig­nis ver­än­dert wur­den, und zwar welt­weit, sieht es anders aus. Das bar­ba­ri­sche Mas­sa­ker von Hamas & Fri­ends an israe­li­schen Zivi­li­sten vor etwas mehr als einem Jahr war ein Wir­kungs­tref­fer gegen die men­ta­le Gesund­heit der Mensch­heit. Lea Strei­sand, Micha­el Bitt­ner und Hei­ko Wer­ning haben ihn pariert, geben acht­zig Geschich­ten und Car­toons gegen Juden­hass her­aus und fra­gen mit dem Titel das Publi­kum: »Sind Anti­se­mi­ti­sten anwesend?«

Die Fra­ge muss­te Radio­ko­lum­ni­stin und Lese­büh­nen­ve­te­ra­nin Strei­sand sich anhö­ren, als Ver­an­stal­ter zu klä­ren ver­such­ten, wes­halb Tage nach dem sieb­ten Okto­ber eine Lesung Strei­sands nie­der­ge­brüllt wur­de. Schockiert waren die Her­aus­ge­ber davon, wie unbe­ein­druckt nach dem Hamas-Atten­tat ver­schie­den­ste Stim­men sich zu einem Chor des Anti­se­mi­tis­mus ver­ei­nig­ten. Trot­zig mach­ten die drei das vor­lie­gen­de Buch. »Wor­te fin­den«, wie Jess Jochim­sen sei­nen Bei­trag nennt, war für die Autoren unter­schied­lich schwer. »Wer einen Fun­ken Anstand im Lei­be hat, hält doch mal inne und vor allem die Klap­pe«, dach­te Jochim­sen. Ande­re grif­fen wohl eher unan­stän­dig in die Schub­la­de und schick­ten, was sie zum The­ma immer schon mal sagen woll­ten. Ein­zel­nes wirkt unem­pa­thisch und unter­kom­plex wie das, was kri­ti­siert wer­den soll, ganz so dick hät­te der Band nicht wer­den müs­sen. Das Aller­mei­ste jedoch ist lesens­wert, beson­ders lie­bens­wert das, was mit eige­nen Feh­lern auf­zu­räu­men ver­sucht wie Vol­ker Sur­manns Revi­si­on der ver­schie­de­nen Palä­sti­nen­ser­tü­cher, die seit Kin­der­ta­gen unten in sei­nem Klei­der­schrank lie­gen: »Mei­ne betuch­te Jugend«.

Dass der Holo­caust vor­kommt, ist rich­tig. Die Tat­sa­che, dass er von Deut­schen ver­übt wur­de, scheint neu­er­dings ein Grund zu sein, ihn als neben­säch­lich abzu­tun im Sin­ne des unsäg­li­chen »Free Pal­e­sti­ne from Ger­man Guilt!« Palä­sti­na gehört allen, end­lich dür­fen auch Deut­sche wie­der ihre Welt­ge­ne­sungs­wün­sche aus­le­ben, freut sich Deutsch­land. Der Holo­caust ist das Grau­sam­ste, was Men­schen in dem Selbst­ver­ro­hungs­expe­ri­ment namens Geschich­te getan haben. Den heu­te leben­den Juden in der gan­zen Welt ist er als Teil ihrer Iden­ti­tät auf­ge­zwun­gen, das heu­ti­ge Deutsch­land hin oder her. Auf­ga­be aller füh­len­den Men­schen bleibt es, sich zu erin­nern, wie jüdi­sche Bio­gra­fien in Euro­pa umge­bo­gen, ver­stüm­melt, aus­ge­löscht wur­den. Björn Högs­dal tut dies auf beein­drucken­de Wei­se, wenn er und sei­ne klei­nen Kin­der vor einem Stol­per­stein dar­über nach­den­ken, wie das zehn­jäh­ri­ge Leben, von dem der Stein spricht, ver­lau­fen sein könnte.

Dass noch mehr Tex­te sich mit Isra­el und Palä­sti­na beschäf­ti­gen, leuch­tet ein. Der öffent­li­che Streit um das The­ma ist die Hin­ter­grund­mu­sik, vor dem die ver­schie­de­nen Anti­se­mi­tis­men ihre neue­sten Ari­en sin­gen. Mit meh­re­ren Autoren staunt man, dass jeder Zwei­te sich heu­te zutraut, den Nah­ost­kon­flikt zu lösen. »Es gibt manch­mal poli­ti­sche Situa­tio­nen«, schrieb Alex­an­der Roda Roda vor hun­dert Jah­ren, »so ver­wickelt, dass man sie gar nicht falsch genug beur­tei­len kann«. Kri­tik an Isra­els Poli­tik und sei­ner Kriegs­füh­rung üben die Her­aus­ge­ber im Vor­wort selbst. »Aber einem Land Frie­den und eine bes­se­re Regie­rung zu wün­schen, ist etwas fun­da­men­tal ande­res, als nach des­sen Zer­stö­rung zu rufen.«

Eine schö­ne Grat­wan­de­rung gelingt Hart­mut El Kur­di in sei­nem Essay »Kei­ne Anti­se­mi­ten, nir­gends«, der, dem iro­ni­schen Titel gemäß, die Heuch­ler auf­stört und gleich­zei­tig dar­auf besteht, dass die mei­sten Men­schen fähig sind, mit allen ande­ren in Frie­den und Respekt zusam­men­zu­le­ben – Bei­spie­le aus Isra­el inklu­si­ve. War­um kri­tik­lo­se Isra­el­freund­schaft kei­ne ist, dass sie ver­ant­wor­tungs­lo­ser sein kann als Feind­schaft, erklärt Elke Wit­tich in ihrer Kurz­dy­sto­pie »Ber­lin, 12. Okto­ber 2035«. Eine nicht min­der lum­pi­ge »Neu­tra­li­tät« spie­ßen Hauck & Bau­er auf mit einem Car­toon, des­sen Sprech­bla­sen zitiert sei­en: »Ich bin kein Nah­ost­ex­per­te«. »Aber du musst doch kein Nah­ost­ex­per­te sein, um dich zum Exi­stenz­recht Isra­els zu beken­nen.« »Ja … äh … ich … Ich bin kein Exi­stenz­rechts­exper­te.« Über­haupt sind die Car­toons eine Macht in dem Buch.

Schmerz­haft, aber uner­schrocken, behan­deln meh­re­re Tex­te den lin­ken Anti­se­mi­tis­mus – Oxy­mo­ron, das die­ser eigent­lich sein soll­te. Kein poli­ti­scher Zusam­men­hang ist so unter die Palä­sti­na­dampf­wal­ze gera­ten wie »die Lin­ke«, von der sich kaum sagen lässt, was sie noch wei­ter sein will. Grund­sätz­lich fest an der Sei­te aller Aus­ge­grenz­ten, fern allem Natio­na­lis­mus oder poli­ti­schem Reli­gi­ons­ge­döns steht sie nicht mehr. »Wenn es Juden gibt, die Schutz bei der Rech­ten suchen«, schreibt das Vor­wort, »dann liegt das auch dar­an, dass sie der gesell­schaft­li­chen Lin­ken nicht ver­trau­en.« Klu­ge Wort­wahl, die­ses »gesell­schaft­li­che Lin­ke«. Eine poli­ti­sche Kraft mit kla­rem Gegen­ent­wurf zum Bestehen­den ist die Lin­ke kaum noch. Ihre Ehe­ma­li­gen set­zen statt­des­sen auf mikro­sko­pi­sche Ver­bes­se­run­gen des Zusam­men­le­bens, öfter zum per­sön­li­chen Vor­teil und ohne erkenn­ba­res Ange­bot an die schlecht­ver­die­nen­de Mehr­heit. »Im Gehirn von Judith But­ler (eine geschei­ter­te Sati­re)« erlebt Mar­kus Lieske die Juden­ver­drän­gung aus dem aka­de­mi­schen Small­talk. Bit­ter­bö­se ver­folgt Clint Lukas das Trei­ben in den Redak­ti­ons­räu­men und After-Work-Knei­pen einer lin­ken Medi­en­sze­ne, die Nach­rich­ten über israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus unver­fro­ren zen­siert (»Auf­stieg und Fall eines Stadt­ma­ga­zins«). Noch böser wird es in einer Sati­re des Satyr-Ver­le­gers, Wed­din­ger »Brau­se­boys«, und bald muss man sagen: des Doy­ens der deut­schen Sati­re, Vol­ker Sur­mann. Die taz, die sei­nen Text erst­ver­öf­fent­lich­te, bezahl­te das mit gekün­dig­ten Abon­ne­ments. Ein Viel­fa­ches an Leser­stim­men, so sei ergänzt, äußer­te sich eupho­risch zustim­mend. »Ein Regen­bo­gen für Palä­sti­na« schil­dert das Zustan­de­kom­men eines »Dah­le­mer Call for Peace in Pal­e­sti­ne«, mit dem ein gen­der­que­e­res Kol­lek­tiv von Stu­die­ren­den sich für ein gen­der­que­e­res Kalif*inat Palä­sti­na (from the river to the sea) aus­spricht und Isra­els Bür­ger dabei irgend­wie ver­gisst. Das ist Sati­re, die mit Fün­fer­ket­te angreift und im Zehn­se­kun­den­takt trifft zum Kan­ter­sieg über eine Dumm­heit, der schon län­ger mal gesagt gehör­te, was sie ist.

Nicht bes­ser ergeht es dem isla­mi­schen Juden­hass, für die mei­sten Mus­li­me ein No-Go – und doch so da wie lin­ker Anti­se­mi­tis­mus. Gleich mehr­fach schlen­dern wir am sie­ben­ten Okto­ber über die Neu­köll­ner Son­nen­al­lee und ver­ko­sten Bak­la­va. »Fuck Hamas« über­schreibt Jes­si­ca Ramc­zik ihren Besin­nungs­auf­satz und meint, »dass man auch ein­fach so Isra­el gut und die Hamas schei­ße fin­den darf«. Hei­ko Wer­ning erzählt, wie er als Schü­ler »Inter­rail machen« woll­te nach Marok­ko, wegen sei­ner stren­gen Eltern aber nur nach Eng­land durf­te und dort von eben­falls Inter­rail machen­den Marok­ka­nern zu Adolf Hit­ler beglück­wünscht wur­de. Die­ser Autor kann erzäh­len und ist so unei­tel, dass auch frem­der Putz unter sei­ner Umar­mung abblät­tert. Ja, gegen Juden gehetzt wird nicht erst seit einem Jahr. Patent­re­zep­te dage­gen – wie ein Israel­be­kennt­nis als Ein­tritts­preis zur deut­schen Staats­bür­ger­schaft – beru­hi­gen nur Poli­ti­ker, die nichts berührt (erläu­tert Ramo­na Ambs).

Noch mal Roda Roda: »Aus dem Anti­se­mi­tis­mus kann erst etwas Rich­ti­ges wer­den, wenn ihn ein Jude in die Hand nimmt.« Den Band wür­zen jüdi­sche Stim­men mit Sar­kas­mus und Beob­ach­tungs­ge­nau­ig­keit. André Herz­bergs Medi­ta­ti­on »Sie sind geschei­tert, lasst uns essen« lädt bei aller Tap­fer­keit dazu ein, erst mal so trau­rig zu wer­den, dass Tap­fer­keit gefragt ist. »Sich abfin­den heißt, mit dem leben zu ler­nen, was du nicht ändern kannst.« Ja, sagt man instink­tiv zu Bud­dha­zeugs wie dem. Nein! schreit man dann, nie­mals! Einem fällt ein, dass ein grund­lo­ser und mör­de­ri­scher Hass auf bestimm­te Men­schen gemeint ist, die an allem schuld sein sol­len, weil das so schön ein­fach ist. Und irgend­wann sagt man wie­der ja. Wenn man sich erin­nert, dass die­ser Hass schon seit über tau­send Jah­ren geschürt wird. Lern­un­fä­hi­ge Dumm­heit hat den Lohn, prot­zen zu kön­nen damit, seit wann dum­me Men­schen sie schon prak­ti­zie­ren. »Geht es den Juden gut, ist das schlecht für die Juden, weil nie­mand will, dass es ihnen gut geht. Geht es den Juden schlecht, wäre das gut für die Juden, wenn es ihnen dann nicht so schlecht gin­ge«, schreibt Alex­an­der Estis in »Was bedeu­tet das für die Juden?«, und ver­kno­tet sei­ne Gedan­ken zu den viel­leicht wit­zig­sten Sei­ten des Buchs. Er kommt dabei zuletzt uner­war­tet auf die Post­mo­der­ne: »Eini­ge Men­schen wol­len uns weis­ma­chen, dass nichts etwas bedeu­te: Das Gesag­te bedeu­tet nicht das Gemein­te, das Gemein­te bedeu­tet nicht das Ver­stan­de­ne. Die Wör­ter bedeu­ten nichts, die Zah­len bedeu­ten nichts, Geschich­ten sind kei­ne War­nun­gen, Ver­gan­gen­heit ist ver­gan­gen, Pogrom­stim­mung bedeu­tet kein Pogrom. Sie wol­len nicht wis­sen, was die Din­ge bedeu­ten, und sie wol­len erst recht nicht wis­sen, was die Din­ge für die Juden bedeu­ten.« Die­se Men­schen muss­ten nie so genau lesen, dass sie durch das Ver­stan­de­ne über­le­ben konn­ten. Avant la lett­re nann­te Wal­ker Per­cy die Post­mo­der­ne eine »Wüste aus Theo­rie und Kon­sum«, in ihr sei­en die Juden »das ein­zi­ge Zei­chen«. Das Zei­chen bedeu­tet zunächst mal, dass genau­es Lesen und Erin­nern kein Hexen­werk sind, son­dern menschenmöglich.

Lea Strei­sand, Micha­el Bitt­ner, Hei­ko Wer­ning (Hrsg.): Sind Anti­se­mi­ti­sten anwe­send? Sati­ren, Geschich­ten und Car­toons gegen Juden­hass, Satyr-Ver­lag 2024, 384 S., 26 €.