Im November 2022 wurde meine Mutter Barbara 100 Jahre alt, kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, den sie, wahrscheinlich lebensrettend, selbst diagnostizierte: Sanitäter haben nach ihrem Notruf Sturzverletzungen behandelt, die Ärzte sahen keine Notwendigkeit einer stationären Aufnahme, bis sie widersprach: »Sie können mich nicht nach Hause schicken, ich habe einen Schlaganfall. » Mit Blaulicht für drei Wochen in die nächste Uni-Klinik, noch mal drei Wochen Reha, dann Rückkehr in ihre Wohnung im 3. Stock eines Mietshauses ohne Fahrstuhl. Die Treppen hinaufzusteigen, wird immer schwieriger, Schwindel peinigt sie. Ihr Leben ist mühseliger geworden.
Auf die naheliegende Frage, was an dieser privaten Episode von allgemeinerem Interesse sein könnte, fallen mir als Antworten zwei Sätze ein, die mir in Studium und Berufsleben treue Begleiter geworden sind. Da ist zunächst der vom »aufrechten Gang«, wie Ernst Bloch die Bewegungsform nennt, die der Mensch für sich erringen muss, um auch für andere da sein zu können. Als Barbara, die sich nur noch unsicher ohne ihren Rollator bewegen kann, am 9. März 2023 in einer bewegenden Feierstunde die Ehrenbürgerschaft der Stadt Witten erhält, vertraut sie sich selbst und nimmt, aufrecht gehend, die Goldene Ehrennadel in Empfang: Für ihr soziales Engagement bei der Gründung des Wittener Frauenhauses, in dem sie dann drei Jahrzehnte als Seniorin eines Teams aus viel jüngeren Frauen mitarbeitete. Im Rahmen der Feier beeindrucken nicht nur die wertschätzenden Worte des Bürgermeisters, sondern Aufmerksamkeit, Interesse und Neugier, die viele Anwesende ihr schenken, nicht zuletzt junge Frauen, die Einzelheiten über ihr Leben hören wollen.
Barbara erzählt gerne, aber viel Zeit blieb an jenem Abend nicht. In der Ehrung für sie, kulminiert ein Lebenslauf, der typisch für jene Frauen-Generation ist, die einen Weltkrieg und einen kalten Krieg durchleben musste. Ihr Leben steht beispielhaft für viele Frauen, die Emanzipation und Gleichberechtigung erkämpft haben, gegen eine teils feindliche, teils sie benachteiligende gesellschafts-politische Dynamik. »Das war doch alles selbstverständlich«, höre ich immer wieder von ihr, aber ich weiß: Nein, das war es nicht, sondern ein Befreiungskampf gegen all das, was lähmend nach wie vor auf vielen Frauen lastet, ohne lautes Getöse, sondern, weil von den Verhältnissen gefordert, nahezu selbstverständlich. Die Botschaft ihrer Ehrenbürgerinnen-Ehrung könnte lauten: Die Revolution kommt auf leisen Sohlen, wenn wir sie wollen – aber sie muss in uns wachsen, bis wir sie, als Antwort auf manchmal hoffnungsarme Umstände, aufrecht gehend machen können.
Die Weltwirtschaftskrise verarmte die Eltern, die Gräuel des Naziregimes wurden ihr erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs bewusst, im Bund Deutscher Mädchen (BDM) fand sie Freundinnen und Freude, Verwerfliches drang in ihr Bewusstsein nicht vor. Ihren Mann, meinen Vater, lernte sie 1941 kennen, als er, an der Ostfront im Stuka-Einsatz, auf Heimaturlaub an einem von der Wehrmacht organsierten Treffen von Soldaten mit jungen Frauen teilnahm. Ich wurde als erstes Kind im Januar 1943 in Berlin geboren, als mein Vater wieder Heimaturlaub hatte, entstand mein Bruder, der im November 1944, an ihrem Geburtstag, geboren wurde. Frauen und Kinder waren Anfang 1944 aus Berlin evakuiert worden, sie zu ihrer Mutter, die in Göhren auf Rügen eine Ferienpension betrieb. Unser Vater kam 1946 aus der russischen Gefangenschaft, als Eisenbahner setzte die Reichsbahn ihn zunächst beim »Rasenden Roland« ein, der Kleinbahn von Göhren nach Bergen, dann in Lauterbach, dem damaligen Versorgungshafen für die Insel, wo im Februar 1947 als drittes Kind meine Schwester zur Welt kam.
»Das Leben bestand in den letzten Kriegsmonaten, mehr noch nach dem Krieg, vor allem darin, für euer Überleben zu sorgen, es gab ja nichts.« Zum Verschnaufen blieb keine Zeit, die meisten Frauen mussten in den Nachkriegsjahren »ihren Mann stehen«. Die Dreifachbelastung – Kinder und Familie, Haushalt, Berufstätigkeit unter »einen Hut« bringen – ließ dem lebensrhythmischen Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenleben keine Minute des Ausprobierens. Wurzeln schlagen war nicht: Der Eisenbahnbeamte wurde versetzt, zunächst nach Toitz-Rustow, einer Drei-Häuser-Bahnstation, dann nach Elmenhorst bei Grimmen. Umzüge, Neuanfänge, beengte Wohnverhältnisse verlangten, praktisch und zugleich fantasievolle Modi des Überlebens zu finden, die den Kindern oft nicht gerecht wurden, ihnen aber eine abhärtende Selbständigkeit abverlangten.
Als der Eisenbahner einen tödlichen Unfall auf einem Bahnhof, für den er zuständig war, verantworten sollte, löste der Pflichtanwalt mit seiner Vermutung, dass einige Jahre Bautzen absehbar seien, eine Konfliktdynamik aus, die die noch fragile junge Familie fast zerrissen hätte: Barbara war nicht bereit, mit ihren drei Kindern jahrelang allein zu bleiben, sie setzte die Flucht in den Westen durch, der ihr Ehemann sich widerstrebend beugte. Sie transportierte auf mehreren Reisen Haushaltsutensilien und Kleidungsstücke nach Westberlin zu Verwandten, er plante die Fluchtdetails. Bei Nacht und Nebel – wörtlich zu verstehen – gelang am 12. Oktober 1958 die Reise von Elmenhorst nach Westberlin über Magdeburg und Babelsberg, vorläufige Endstation das Flüchtlingslager in Berlin-Marienfelde.
Das sich anschließende Lager in Lübeck verließ Walter, als er, vermittelt durch einen Verwandten, eine Stelle beim Gussstahlwerk in Witten bekam, als Heizer auf einer Lok der Werkbahn; die Bundesbahn zeigte an Kollegen aus dem Osten kein Interesse. Kurz vor Weihnachten folgte die Restfamilie, in eine Zwei-Zimmer-Wohnung außerhalb von Witten, empfangen von Sätzen wie »haut ab in den Osten, wo ihr hergekommen seid«. Nachdem 1962 das Opelwerk in Bochum eröffnet hatte, wechselte Walter ans Fließband, des Geldes wegen. Nach Feierabend machte er Fernlehrgänge zur Verwaltungskraft, schließlich bekam er, der Büromensch, eine Stelle bei der Stadtverwaltung Witten, dennoch: Beruflich im doppelten Sinne aus der Bahn geworfen, begann eine Depressionen ihn wie ein schleichendes Gift zu zerfressen. Den Rucksack voller Sorgen, den Barbara herumschleppte, vor allem ihre Sorge um die Zukunft der drei Kinder, machte die um ihren Mann nicht leichter.
Der Umzug in eine Wohnung im Stadtzentrum von Witten erwies sich als Glücksfall für Barbara und letztlich für die ganze Familie: Sie hatte einen Job als Sprechstundenhilfe bei einem anthroposophischen Arzt gefunden, der seine neue Praxis in eben diesem Haus bezog. Die für sie komfortablen Arbeitsbedingungen blieben familiär nicht spannungsfrei, denn sie wurde »die Seele« der Praxis, verbunden mit entgrenzten Arbeitszeiten, die zu häufigen Konflikten zwischen den Eheleuten führten. Hinzu kamen finanzielle Engpässe, obwohl beide volle Jobs hatten, denn drei Kinder auf dem Gymnasium verschlangen einen großen Teil der Einkommen. Einwänden von außen, die Kinder sollten doch besser etwas Vernünftiges lernen und Geld verdienen, erteilten beide eine – keineswegs konfliktfreie – Absage.
Beide Eltern schufen die Grundlagen für das Familienleben, doch ohne Barbaras unermüdlichen Einsatz, ohne ihr so konsequentes wie findiges finanzielles Management und ohne ihre pragmatische Zuversicht in schwierigen Situationen, wäre vieles schwerer für uns alle geworden. Sie ging unbeirrt aufrecht, und wenn sie sich unter zu vielen Lasten beugen musste, mobilisierte sie irgendwoher Kräfte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Nach dem Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haushalt blieb ihre Lage nur für kurze Zeit entspannt, bei Walter wurde wenige Wochen nach Eintritt ins Rentenalter 1983 eine Krebserkrankung diagnostiziert, es folgte das übliche therapeutische Prozedere mit Krankenhausaufenthalten, Reha, erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität, die er, ohnehin oft schwermütig, kaum verkraftete, bis er, auf den Tag genau dreihundert Jahre nach der französischen Revolution, starb.
Nein, dieses Datum hat keinerlei Bezug zum Leben meines Vaters, dennoch regt es zum Nachdenken an. Sein Leben, wie das seiner Ehefrau, bestimmten zwar keine Adeligen, er und sie waren keine Leibeigenen, aber sie gehörten zur Masse der Menschen, die für Profit und Reichtum – und die Kriege – anderer ein beschränktes, wenn nicht armseliges Dasein fristen und, wenn sie nicht mehr benötigt werden und trotz allem ein wenig Glück haben, mit einer bescheidenen Rente noch ein paar Jahre, mehr oder weniger durch Krankheiten gezeichnet, am Rande des Wohlstands und der Überfülle existieren dürfen. Es sei denn, sie schaffen es irgendwie, sich diesem unwürdigen Rollenmuster, das für sie in der kapitalistischen Dynamik vorgesehen ist, nicht zu unterwerfen.
Barbara begehrte auf, unaufgeregt, aber mutig. Sie entschloss sich, noch vor dem Tod ihres Ehemannes, an der Uni Dortmund ein SeniorInnenstudium zu absolvieren, das sie mit einer Examensarbeit über die starken Frauen in der Familiengeschichte abschloss. Sie entdeckte das Fahrradfahren für sich als sportliche Herausforderung, einschließlich alljährlicher Mallorca-Touren, und wurde zweimal vom ADFC zur Radfahrerin des Jahres gekürt, als sie noch in hohem Alter auf dem Fahrrad unterwegs war. Und schließlich half sie, wie erwähnt, das Frauenhaus aufzubauen und zu betreiben. So gelang es ihr, als im Laufe der Jahrzehnte Weggefährten nach und nach wegstarben, aktiv zu bleiben und durch die Kontakte zu Jüngeren das Gespenst der Einsamkeit zu vertreiben. Körperliche, geistige und seelische Beweglichkeit konnten das Älterwerden zwar nicht verhindern, aber ihm seinen oftmals lähmenden Schrecken nehmen.
Meine zweite Antwort auf die Frage, was das Allgemeine an dieser besonderen Erzählung sein könnte, leihe ich von Adorno. Analytisch gesehen ist seinem Bonmot, »es gibt kein gutes Leben im schlechten«, beizupflichten, aber es verdeckt eine alltagsnahe widerständige Dialektik. In den letzten Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren rang der Kampf um das Überleben – nicht zuletzt der Kinder – dem so umfassend schlechten einen kleinen Rest gutes Leben ab, bei Barbara wie bei vielen anderen Frauen. Das intensive Dorfleben in Elmenhorst in der DDR brachte viel Freude in den Alltag, Schule und LehrerInnen wurden zum sozialen und kulturellen Zentrum, viele Menschen waren erfüllt von der Hoffnung auf, manche waren begeistert vom Aufbruch in eine sozialistische Gesellschaft. Barbara hatte ihre Bedenken, dass sie wirklich werden könnte – und doch transportiert sie bis heute mit ihrem Sinn für Gerechtigkeit und ihrer Empathie für andere Menschen eine Ahnung von dem, was eine neue Gesellschaft sein könnte: Wie soll das schlechte Leben überwunden werden, wenn nicht das gute ausprobiert wird, als gelebte Alternative zum Sog des gesellschaftlichen Status quo, als Selbstbehauptung gegen patriarchale Bevormundung – mein Vater: Nein, Du machst keinen Führerschein! Aber sie hat ihn gemacht –, als Mut zur eigenen Weiterentwicklung und zum Eingriff in menschenfeindliche Verhältnisse, um sie ein wenig menschenfreundlicher zu gestalten? Die Botschaft dieses langen Lebens lautet: Respektvoll anderen Menschen gegenüber sein, sich für ihr würdevolles Leben einsetzen, Gewalt gegen sie verhindern und ihnen Mut machen – was sonst könnte ein gutes Leben sein, das im schlechten keimen muss?