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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Homeoffice-Tagebuch

März: Tag 1 »im Krieg«

Ver­flucht, was für ein wun­der­ba­rer Früh­lings­tag. An Tag 1 im Coro­na-erzwun­ge­nen Home­of­fice lacht die Son­ne und ver­treibt die Win­ter­käl­te. In der Woh­nung herr­li­che Ruhe, die Kin­der sind nach dem Wochen­en­de noch ein­mal für einen Tag in der Schu­le – ein Unsinn, den sich Ber­lin erlaubt, wäh­rend Bay­ern und die mei­sten ande­ren Bun­des­län­der den Betrieb schon run­ter­ge­fah­ren haben.

Bei Pen­ny um die Ecke ist mor­gens kein Ein­kaufs­wa­gen zu haben, der Laden rap­pel­voll. Es sind vor allem Älte­re, die zwi­schen lee­ren Rega­len ste­hen und die Köp­fe schüt­teln. War­um müs­sen man­che zwei, drei, vier Packun­gen Toi­let­ten­pa­pier kau­fen, so dass es für die ande­ren nicht mehr reicht – und aus­ge­rech­net sie, die doch zur Hoch­ri­si­ko­grup­pe gehö­ren, anderen­tags noch mal kom­men müs­sen? Erklä­ren kann das kei­ner. Die Fran­zo­sen ham­stern sym­pa­thi­scher – Rot­wein und Kondome.

Dafür geht deren Prä­si­dent in die Vol­len. »Wir sind im Krieg. Wir kämp­fen weder gegen Armeen noch gegen eine ande­re Nati­on. Aber der Feind ist da, unsicht­bar – und er rückt vor«, tönt Emma­nu­el Macron in allen Kanä­len. Die Fran­zo­sen dür­fen fort­an ihre Häu­ser nur noch ver­las­sen, um ein­zu­kau­fen oder zum Arzt oder zur Arbeit zu gehen. Außer­dem kün­digt der als gro­ßer Euro­pä­er gefei­er­te Staats­chef an, dass die EU-Außen­gren­zen für 30 Tage geschlos­sen werden.

Schlim­mer für mei­ne Kin­der zuhau­se ist mein Dik­tat, dass sie nicht mehr mit ande­ren über die Spiel- und Bolz­plät­ze zie­hen dür­fen. Bei dem tol­len Wet­ter bin ich der Des­pot und Raben­va­ter schlecht­hin, drau­ßen auf der Stra­ße tobt das Leben. Covid-19 kommt schlei­chend daher.

Abends muss ich doch noch mal ins Büro in Ber­lin-Mit­te, mei­nen alten Lap­top holen für einen Mit­schü­ler mei­nes Soh­nes. Nicht alle haben das tech­ni­sche Gerät für das Home-Schoo­ling, das jetzt aller­or­ten geprie­sen wird. Die S-Bahn ist schon jetzt deut­lich lee­rer, zumin­dest auf der Fahrt ins Zentrum.

Aus Han­no­ver kommt schließ­lich die Absa­ge für die am 27. März geplan­te Ver­an­stal­tung »Auf dem Weg zur neu­en Ost­front?«, zu der mich anläss­lich des NATO-Manö­vers Defen­der 2020 Ossietzky-Her­aus­ge­ber Rai­ner Buten­schön und die Initia­ti­ve »Frie­den mit Russ­land« ein­ge­la­den hat­ten. Die posi­ti­ve Nach­richt an die­sem Tag: Die USA haben end­lich ihren geplan­ten Groß­auf­marsch mit 37.000 Sol­da­ten an der rus­si­schen Gren­ze Coro­na-bedingt abgesagt.

 

  1. März: Auf der Jagd

Bevor ich mich im Home­of­fice an den Com­pu­ter set­ze, muss ich raus auf die Jagd. Bei Pen­ny soll es wie­der Toi­let­ten­pa­pier geben. Auf dem Weg zur Arbeit hat mei­ne Frau einen Lkw mit Neu­wa­re gesich­tet, ich möge bit­te SOFORT los. Nach einem Kaf­fee mache ich mich auf. Und tat­säch­lich, vor dem Dis­coun­ter ste­hen meh­re­re Palet­ten mit Bier, oben­auf Küchen­rol­len und Klo­pa­pier – demon­stra­tiv ste­hen sie da und unbe­wacht, als wol­le man unter­strei­chen, bleibt ruhig, die Ver­sor­gung ist gesi­chert. Auch drin­nen sieht es nicht danach aus, als ob hier jemand ver­hun­gern müss­te. Die Tief­kühl­the­ken sind den­noch leer, die Nudel­re­ga­le ver­waist. Beim Toi­let­ten­pa­pier lie­gen noch ein paar Packun­gen. Jagd­auf­trag erfüllt. Was machen bloß die ohne Spähposten?

Wie­der zuhau­se kommt zusätz­lich zur Arbeit der Schul­un­ter­richt in diver­sen Fächern. Mathe, Deutsch, Fran­zö­sisch, Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten. Immer­hin, schon am ersten Tag zuhau­se mer­ken die Kin­der, was sie an der Schu­le haben, am Mit­ein­an­der-Ler­nen und gegen­sei­ti­gen Hel­fen. Das Ein­rich­ten eines Sky­pe-Kon­tos ist Gold wert. Mei­ne Toch­ter (10) macht ihre Auf­ga­ben fort­an begei­stert mit ihren Freun­din­nen, mal zu zweit, mal in Kon­fe­renz­schal­tung. Mal wird gequas­selt, mal still in den Hef­ten neben­ein­an­der her gear­bei­tet, die ande­re immer mal kurz im Blick. Die Jungs (14 und 16) tau­schen sich lie­ber über Whats­App aus, mal im Chat, mal im Video-Call.

Mei­ne Che­fin for­dert der­weil im Namen der Links­frak­ti­on mit Blick auf die Coro­na-Pan­de­mie die sofor­ti­ge Auf­he­bung der Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen Iran, Syri­en und Vene­zue­la. »Die Län­der müs­sen umge­hend Zugang zu den inter­na­tio­na­len Märk­ten für den Kauf not­wen­di­ger medi­zin­scher Gerä­te und Arz­nei­en erhal­ten«, so Sevim Dağ­de­len. Rich­tig so. Die ein­sei­ti­gen Sank­tio­nen der USA gegen den Iran, einen Hot­spot der Coro­na-Kri­se, sind unver­ant­wort­lich. Das Embar­go der EU gegen Syri­en blockiert den Wie­der­auf­bau des Lan­des und des kriegs­zer­stör­ten Gesund­heits­sy­stems. Die LIN­KE-Außen­po­li­ti­ke­rin erin­nert: »Die Auf­recht­erhal­tung der von den USA und der EU ein­sei­tig ver­häng­ten Sank­tio­nen gegen Vene­zue­la kon­ter­ka­riert die medi­zi­ni­schen Hilfs­maß­nah­men Kubas und Chi­nas für das latein­ame­ri­ka­ni­sche Land im Kampf gegen das Coro­na­vi­rus. Nach Schät­zung des Washing­to­ner Cen­ter for Eco­no­mics and Poli­cy Rese­arch (CEPR) sind infol­ge der 2017 ver­häng­ten trans­at­lan­ti­schen Sank­tio­nen gegen Vene­zue­la über 40.000 Men­schen gestor­ben. Ein­sei­ti­ge Wirt­schafts­sank­tio­nen stel­len eine Kol­lek­tiv­be­stra­fung der Bevöl­ke­rung dar und sind gemäß der Gen­fer Kon­ven­ti­on wie auch der Haa­ger Land­kriegs­ord­nung verboten.«

 

  1. März: Kolo­nia­lis­mus und Imperialismus

In der 8. Klas­se arbei­ten sich die Schü­ler am The­ma Kolo­nia­lis­mus und Impe­ria­lis­mus ab. In Heim­ar­beit sol­len sie sich die ver­schie­de­nen euro­päi­schen Kolo­ni­al­mäch­te erar­bei­ten. Dass Wiki­pe­dia kei­ne gute Quel­le ist, wird etwa am Ein­trag »Nie­der­län­di­sche Kolo­nien« deut­lich: »Die Nie­der­lan­de waren beson­ders im 17. Jahr­hun­dert eine der bedeu­tend­sten Kolo­ni­al­mäch­te der Welt. Um 1650 erreich­te das nie­der­län­di­sche Han­dels­im­pe­ri­um sei­nen Höhe­punkt, als etwa die Hälf­te des Welt­han­dels von den Nie­der­län­dern (Repu­blik der Sie­ben Ver­ei­nig­ten Pro­vin­zen) umge­schla­gen wur­de. Die­se Epo­che wird auch das Gol­de­ne Zeit­al­ter der Nie­der­lan­de genannt.« Im Schul­buch »Forum Geschich­te« der Klas­sen­stu­fe 7/​8 ist Kolo­nia­lis­mus wie folgt defi­niert: »Errich­tung von Han­dels­stütz­punk­ten und Sied­lungs­ko­lo­nien vom 15. bis zum 18. Jahr­hun­dert in wenig ent­wickel­ten Län­dern sowie deren Inbe­sitz­nah­me, vor allem durch euro­päi­sche Mäch­te, die vor­ran­gig wirt­schaft­li­che und mili­tä­ri­sche Zie­le ver­folg­ten.« Und wei­ter heißt es da: »Die Epo­che des Impe­ria­lis­mus (lat. Impe­ri­um = Welt­reich) umfasst den Zeit­raum zwi­schen 1880 und 1914/​18 (1. Welt­krieg …).« Ach wie schön, wäre der Impe­ria­lis­mus seit gut hun­dert Jah­ren schon Geschich­te und nicht grau­sa­me Rea­li­tät bis in unse­re Tage, da die USA zusam­men mit den 28 ande­ren NATO-Staa­ten 1000 Mil­li­ar­den US-Dol­lar für Rüstung und Mili­tär aus­ge­ben und damit glo­ba­le Macht­an­sprü­che pro­ji­zie­ren, wäh­rend die Gel­der etwa im Gesund­heits­we­sen feh­len. Die deut­sche Rüstungs­schmie­de Rhein­me­tall sieht »der­zeit kei­ne gra­vie­ren­den Fol­gen der Coro­na-Kri­se«, mel­det dpa. In der Auto­mo­bil­spar­te wer­de man nicht in die roten Zah­len rut­schen, so Vor­stands­chef Armin Pap­per­ger. Im Rüstungs­be­reich rech­net der Düs­sel­dor­fer Kon­zern mit einem Umsatz­zu­wachs von fünf bis sie­ben Pro­zent. Kein Wun­der. Die Bun­des­re­gie­rung bringt unge­ach­tet der gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Fol­ge­ko­sten der Coro­na-Kri­se neue Mili­tär­pro­jek­te auf den Weg. So sol­len Kampf­jets vom Typ Euro­figh­ter und Tor­na­do ersetzt wer­den, für die Kriegs­ma­ri­ne neue Bord­hub­schrau­ber und Flot­ten­dienst­boo­te ange­schafft wer­den, zudem drei zu gigan­ti­schen Abhör­an­la­gen auf­ge­rü­ste­te Flug­zeu­ge des Typs Glo­bal 6000, Flug­zeu­ge zur U-Boot-Jagd sowie ein neu­es Raketenabwehrsystem.

Auf dem Weg zum Ein­kauf tref­fe ich einen befreun­de­ten Zahn­arzt. Er berich­tet mir von feh­len­den Schutz­mas­ken und Des­in­fek­ti­ons­mit­teln in den Pra­xen. Von der Zahn­ärz­te­kam­mer Ber­lin gebe es ernst­haft den Tipp, sich Nasen-Mund-Schut­ze aus Mull­win­deln selbst zu basteln, dabei bit­te aber nicht zu ver­ges­sen, dass das umfunk­tio­nier­te Baby­ma­te­ri­al nach Gebrauch »in geeig­ne­ter Wei­se, zum Bei­spiel durch Aus­ko­chen, hygie­nisch auf­be­rei­tet« wird. Im Kanz­ler­amt und Wirt­schafts­mi­ni­ste­ri­um wer­den der Rüstungs­in­du­strie Mil­li­ar­den in den Rachen gescho­ben, beim Gesund­heits­schutz in Ber­lin feh­len die ein­fach­sten Dinge.

 

  1. März: Mil­li­ar­den fürs Militär

Die Coro­na-Kri­se bela­stet die Wirt­schaft auf der gan­zen Welt. Die NATO-Staa­ten sol­len den­noch mehr Geld für Rüstung und Mili­tär aus­ge­ben, for­dert Gene­ral­se­kre­tär Jens Stol­ten­berg bei der Vor­stel­lung des Jah­res­be­richts 2019. Nur neun der 29 NATO-Län­der hät­ten das Ziel erreicht, zwei Pro­zent des Brut­to­in­lands­pro­dukts in den Wehr­be­reich zu stecken. Bis zum Jahr 2024 wol­len die euro­päi­schen Mit­glie­der und Kana­da die Mehr­aus­ga­ben im Ver­gleich zu 2016 auf 400 Mil­li­ar­den US-Dol­lar stei­gern. Deutsch­land ver­zeich­ne­te nach den NATO-Kri­te­ri­en einen Anstieg der Mili­tär­aus­ga­ben nach aktu­el­len Prei­sen um gut fünf Mil­li­ar­den auf 54,8 Mil­li­ar­den Dol­lar. Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er mel­det die Bun­des­wehr ein­satz­be­reit für einen lan­gen Kri­sen­ein­satz zur Bekämp­fung des Coro­na­vi­rus. »Uns allen muss bewusst sein, dass die­ser Kampf gegen das Virus ein Mara­thon ist«, heißt es im mini­ste­ri­el­len Tages­be­fehl »Wir kämp­fen gegen einen unsicht­ba­ren Geg­ner!« an die etwa 180.000 Bun­des­wehr­sol­da­ten. Auch die Reser­vi­sten sol­len ran. An den Ein­satz bei der Spar­gel­ern­te auf den ver­wai­sten Fel­dern denkt die CDU-Che­fin dabei sicher nicht. Die Sol­da­ten, die seit Jah­res­be­ginn kosten­frei Bahn fah­ren dür­fen, wenn sie Uni­form tra­gen, sol­len in den Städ­ten und Gemein­den zu sehen sein. Die Coro­na-Kri­se soll end­lich den grund­ge­setz­lich ver­wehr­ten Inlands­ein­satz der Trup­pe mög­lich machen. Gene­ral­inspek­teur Eber­hard Zorn stellt klar, dass es bis­her (!) kei­ne Anträ­ge aus den Län­dern oder Kom­mu­nen gebe, die Patrouil­len der Bun­des­wehr in Ort­schaf­ten for­der­ten. »Es ist nicht davon aus­zu­ge­hen, dass wir jetzt hier in irgend­ei­ner Form einen Auf­marsch machen.« Es brau­che sich kei­ner Sor­gen zu machen, dass die Bun­des­wehr Coro­na-Par­tys auf­löst oder Aus­gangs­be­schrän­kun­gen über­wacht. Na dann.

 

  1. März: Gespen­sti­sche Ruhe

Die Rega­le bei Lidl sind gut gefüllt, auch Klo­pa­pier und Pasta gibt es in aus­rei­chen­der Men­ge. Noch nie habe ich den Dis­coun­ter aber so ruhig erlebt. Es ist eine fast gespen­sti­sche Stil­le, die Angst ansteckend. Jeder ist dar­auf kon­zen­triert, rasch sei­ne Besor­gun­gen zu machen und den ande­ren nach Kräf­ten aus dem Weg zu gehen. US-Prä­si­dent Donald Trump setzt nach lan­gem Leug­nen des »Wuhan-Virus« den Defen­se Pro­duc­tion Act in Kraft, ein Gesetz aus Kriegs­zei­ten. Die US-Regie­rung kann damit in die Wirt­schaft ein­grei­fen und die Pro­duk­ti­on von Atem­mas­ken, Beatmungs­ge­rä­ten, Ven­ti­la­to­ren und ande­rem benö­tig­tem Equip­ment beschleu­ni­gen. Im Online­por­tal Rubi­kon hat Autor Sven Bött­cher im Coro­na-Dos­sier dazu auf­ge­ru­fen, alte Kran­ke medi­zi­nisch nicht mehr zu behan­deln. Der Autor möch­te heu­te von allen offi­zi­el­len Stel­len welt­weit hören: »Über 80jährige mit drei Vor­er­kran­kun­gen und fri­scher Lun­gen­ent­zün­dung behan­deln wir nicht auf Inten­siv­sta­tio­nen, die schicken wir zum Ster­ben nach Hau­se, denn ster­ben müs­sen ja alle. […] Unse­re Inten­siv­sta­tio­nen und unser medi­zi­ni­sches Per­so­nal ste­hen selbst­ver­ständ­lich jün­ge­ren Coro­na-Lun­gen­ent­zün­dungs­pa­ti­en­ten wei­ter offen. Die Mor­ta­li­täts­ra­te bei U-80, nicht vor­er­krank­ten Coro­na-infi­zier­ten Pati­en­ten liegt der­zeit bei etwa 0 Pro­zent.« Es sei beun­ru­hi­gend, so Sven Bött­cher wei­ter, »dass wir jetzt alles schrot­ten, was wir über Jahr­hun­der­te so schwer erkämpft haben, was uns lieb und teu­er und lebens­wich­tig ist: Frei­heit, Grund­rech­te, die Zukunft unse­rer Kin­der. Und alles wegen einer Lun­gen­ent­zün­dung, an der nur uralte Leu­te ster­ben?« Rubi­kon-Her­aus­ge­ber Jens Wer­nicke nennt sein Por­tal »eine von sehr weni­gen Stim­men der Ver­nunft in einem Meer der Unver­nunft« und ruft zu Spen­den auf. Es gebe »welt­weit kei­nen ein­zi­gen Beweis dafür, dass aktu­ell irgend­ei­ne ›beson­de­re Gefahr‹ für unser aller Leib und Leben bestün­de«. An ande­rer Stel­le schreibt er von einer »soge­nann­ten Pan­de­mie«. Man möch­te ihn und sein Team ob des Zynis­mus ein­mal zur Recher­che in der Rea­li­tät zwin­gen, in den hoff­nungs­los über­for­der­ten Kran­ken­häu­sern der Lom­bar­dei oder im Elsass. Die Ärz­te und Pfle­ge­kräf­te ver­zwei­feln dar­über, ange­sichts der Kran­ken­zah­len und dra­ma­ti­schen Krank­heits­ver­läu­fe ent­schei­den zu müs­sen, wer ans Beatmungs­ge­rät kommt und wer ster­ben muss.

Über die Whats­App-Grup­pen der Fuß­ball­teams unse­rer Kin­der wer­den wir zum abend­li­chen Klat­schen auf­ge­ru­fen, als Dank für die Ärz­te und Pfle­ge­kräf­te. Mei­ne Kin­der machen begei­stert mit, schlep­pen die gro­ße Box auf den Bal­kon und spie­len »Bel­la ciao« mit ab. Ich lei­te ihnen einen Twit­ter-Tweet wei­ter, der für Auf­merk­sam­keit sorgt: »Wir Pfle­ge­kräf­te brau­chen kei­ne Klat­sche­rei. Wir wol­len auch kei­ne Mer­ci Scho­ko­la­de & war­me Wor­te! Wir brau­chen 4000 € brut­to, mehr Per­so­nal, Gefah­ren­zu­la­gen und ein ent­pri­va­ti­sier­tes Gesund­heits­sy­stem! Macht mal lie­ber mit uns Arbeits­kampf!« Ich hege die Hoff­nung, dass die Beschäf­ti­gen in den wirk­lich system­re­le­van­ten Beru­fen nach die­ser Kri­se gesell­schaft­li­chen Rück­halt für ihre For­de­run­gen nach höhe­rem Lohn und bes­se­ren Arbeits­be­din­gun­gen haben wer­den. Sie sind es, die den Laden am Lau­fen hal­ten, auf Sta­ti­on, an der Kas­se, in der Bahn.

 

  1. März: Erfun­de­ne Epidemie?

In Ita­li­en wer­den die Coro­na-Toten mitt­ler­wei­le näch­tens von der Armee aus den Kran­ken­häu­sern in die Kre­ma­to­ri­en gebracht. Die zivi­len Stel­len sind mit den schie­ren Zah­len über­for­dert. Das Online­por­tal Rubi­kon ver­öf­fent­licht der­weil den Auf­satz »Die Erfin­dung einer Epi­de­mie« des ita­lie­ni­schen Phi­lo­so­phen, Essay­isten und Buch­au­tors Gior­gio Agam­ben. Der Autor »warnt ein­dring­lich vor einem Not­stand, der mit einer erfun­de­nen Pan­de­mie nicht zu recht­fer­ti­gen sei«, heißt es im redak­tio­nel­len Vor­spann. Was zunächst unter­schla­gen wird: Der Text »L’invenzione di un’ epi­de­mia« ist im ita­lie­ni­schen Ori­gi­nal bereits am 26. Febru­ar erschie­nen, als womög­lich noch nicht für alle die wah­re Dra­ma­tik in den Kran­ken­häu­sern fass­bar war. Und so fragt Agam­ben, war­um Medi­en und Behör­den dar­an arbei­ten, »ein Kli­ma der Panik zu ver­brei­ten, das einen selt­sa­men Aus­nah­me­zu­stand her­bei­führt, der ernst­haft die Bewe­gungs­frei­heit beschnei­det und die nor­ma­len Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen in gan­zen Regio­nen unter­bricht«. Es gebe »wie­der ein­mal eine wach­sen­de Ten­denz, den Aus­nah­me­zu­stand als nor­ma­les Regie­rungs­pa­ra­dig­ma zu ver­wen­den«. Jeden­falls sei das Miss­ver­hält­nis der Maß­nah­men zu dem auf­fäl­lig, was laut Natio­na­lem For­schungs­rat CNR »eine gewöhn­li­che Influ­en­za ist, die sich nicht wesent­lich von den jähr­lich wie­der­keh­ren­den Grip­pen unter­schei­det«. Rubi­kon unter­schlägt, dass Gior­gio Agam­ben bis zum Zeit­punkt der Über­set­zung ins Deut­sche mas­si­ven Wider­spruch erfah­ren hat. Was nicht passt, wird ein­fach weggelassen.

 

  1. März: Kon­takt­sper­re und Hilfe

Es ist arsch­kalt gewor­den in Deutsch­land. Man will eigent­lich nicht raus, muss aber doch, wer weiß, was noch kommt. Es ist abseh­bar, dass die Bun­des­re­gie­rung und die Län­der heu­te eine all­ge­mei­ne Aus­gangs­sper­re ver­hän­gen, die so natür­lich nicht hei­ßen darf und als Aus­gangs­be­schrän­kung auch nicht ganz so rigi­de gehand­habt wird wie in Frank­reich oder Ita­li­en. Chi­na schickt Hil­fe in die euro­päi­schen Coro­na-Epi­zen­tren nach Ita­li­en und Spa­ni­en, Schutz­mas­ken, Schutz­kit­tel, Des­in­fek­ti­ons­mit­tel, Beatmungs­ge­rä­te, Ärz­te. Auch von Kuba kommt Unter­stüt­zung, die sich die EU-Mit­glie­der gegen­sei­tig ver­wehrt haben.

 

  1. März: Teams am Klavier

Eine Woche Home­of­fice, all­mäh­lich pegelt sich alles ein, Home­of­fice und Heim­un­ter­richt. Der Respekt vor den Leh­rern dürf­te bei vie­len stei­gen. Der Kla­vier­leh­rer unse­rer Kin­der macht online wei­ter, mei­ne Toch­ter ist davon noch nicht ganz begei­stert. Ich muss dafür »Teams« auf dem Lap­top instal­lie­ren. Und tat­säch­lich, das klappt ganz gut. Die Stun­de ver­geht wie im Flug. Die bei­den sehen und hören sich, kein fal­scher Ton geht über das Inter­net verloren.

 

  1. März: Zoom auf Jemen

Die Tanz­stun­de mei­ner Toch­ter läuft jetzt im Video­chat über »Zoom« – also noch ein Pro­gramm instal­lie­ren. All­mäh­lich ent­wickelt sich da schon Rou­ti­ne. Die Not­hil­fe- und Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­ti­on Oxfam fokus­siert auf den Jemen, wo nach fünf Jah­ren Krieg die erhöh­te Gefahr von schwe­ren Krank­heits­ver­läu­fen bei Coro­na­vi­rus-Infek­tio­nen vor­pro­gram­miert ist. Die Pan­de­mie trifft doch eine von Krieg und Hun­ger­blocka­de ohne­hin geschwäch­te Bevöl­ke­rung. Die Bun­des­re­gie­rung ver­län­gert bis Ende des Jah­res den Rüstungs­export­stopp für Sau­di-Ara­bi­en. Die Kopf-ab-Dik­ta­tur ist haupt­ver­ant­wort­lich für das Elend im Jemen. Die Ent­schei­dung der Regie­rung ist rich­tig, aber unzu­rei­chend. Die Aus­wei­tung des Waf­fen­em­bar­gos auf alle Län­der der Jemen-Kriegs­al­li­anz, allen vor­an die Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­ra­te und Ägyp­ten, ist über­fäl­lig und eigent­lich schon im Koali­ti­ons­ver­trag vom März 2018 fixiert.

 

  1. März: Opi­ate für die Alten

Sven Bött­cher und Rubi­kon wer­den in Frank­reich erhört. Wie uns eine an der Cha­ri­té arbei­ten­de Ärz­tin berich­tet, wer­den in der Uni­ver­si­täts­kli­nik von Straß­burg Pati­en­ten, die älter sind als 80 Jah­re, nicht mehr beatmet. Sie erhal­ten eine »Ster­be­be­glei­tung mit Opi­aten und Schlaf­mit­teln«, wie es in einem Bericht des Deut­schen Insti­tuts für Kata­stro­phen­me­di­zin (DIFKM) heißt. Pati­en­ten in Pfle­ge­hei­men, die älter als 80 Jah­re und beatmungs­pflich­tig wären, »erhal­ten eine schnel­le Ster­be­be­glei­tung mit Opi­aten und Schlaf­mit­tel durch den Ret­tungs­dienst«. In Mul­hou­se wer­den schon 75-Jäh­ri­ge nicht mehr beatmet.

Ein klei­ner Licht­blick: In weni­gen Tagen ist end­lich Umstel­lung auf die Som­mer­zeit – am 29. März blei­ben wir eine Stun­de weni­ger daheim, das habe ich mei­ner Fami­lie fest versprochen.