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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Holzhammermethoden im EU-Parlament

Was machen eigent­lich die Abge­ord­ne­ten des EU-Par­la­ments, wenn nicht gera­de Wah­len anste­hen oder lukra­ti­ve Posten zu ver­ge­ben sind? Sie machen sich, wie im Sep­tem­ber gesche­hen, Gedan­ken um die Geschich­te, das man­geln­de Geschichts­be­wusst­sein oder die Defi­zi­te der Erin­ne­rungs­kul­tur. Beson­ders phi­lo­so­phisch oder gar wis­sen­schaft­lich geht es dabei nicht zu. Im Gegen­teil. Die im Sep­tem­ber ver­ab­schie­de­te Reso­lu­ti­on »Bedeu­tung der Erin­ne­rung an die euro­päi­sche Ver­gan­gen­heit für die Zukunft Euro­pas« kommt ohne For­schung oder Fuß­no­ten aus, ja sie strotzt nur so von histo­ri­schem Analpha­be­tis­mus – so etwa die Ein­schät­zung im US-ame­ri­ka­ni­schen Jaco­bin. Man kann es auch Geschichts­ma­ni­pu­la­ti­on oder Geschichts­klit­te­rung nen­nen. Mit dabei in vor­der­ster Rei­he die deut­schen Abge­ord­ne­ten der staats­tra­gen­den Par­tei­en, die nahe­zu uni­so­no – die Grü­nen ein­ge­schlos­sen – hin­ter einer Geschichts­dar­stel­lung ste­hen, die selbst die kühn­sten Erwar­tun­gen eines Franz Josef Strauß oder ande­rer Revi­sio­ni­sten über­trifft. Wer hät­te gedacht, dass sich nicht nur die deut­sche Schuld am ersten, son­dern auch die am zwei­ten Welt­krieg weit­ge­hend in Luft auf­lö­sen könn­te? (vgl. Arti­kel »Euro­pa­par­la­ment ent­la­stet Nazi­deutsch­land« von Ulla Jelp­ke in Ossietzky 20/​2019)

Wie bringt man das Kunst­stück fer­tig? Angeb­lich kam die Idee von den Par­tei­en der Mit­te-Rechts- und Mit­te-Links-Frak­tio­nen, die sich ihrer­seits auf jene ost­eu­ro­päi­schen Regie­run­gen stüt­zen konn­ten, die schon seit län­ge­rem auf eine Revi­si­on der Geschich­te drän­gen, nament­lich Polen und die bal­ti­schen Staa­ten. Zur Anwen­dung kam das alte Holz­ham­mer­ar­se­nal der Tota­li­ta­ris­mus­theo­rie. Die ange­jahr­te Theo­rie, die im Kal­ten Krieg beson­ders in den 1950ern vor­herrsch­te und den Anti­kom­mu­nis­mus durch einen poli­ti­schen Libe­ra­lis­mus stütz­te, wur­de wie­der­be­lebt, um vor allem gegen Putin zu Fel­de zu ziehen.

In der Reso­lu­ti­on gehen die Par­la­men­ta­ri­er gleich in medi­as res. Die Vor­ge­schich­te, also die Ent­wick­lun­gen vor 1939, zum Bei­spiel die Ein­ver­lei­bung Öster­reichs oder die Zer­schla­gung der ČSR, hät­te nur gestört. Und so sind es nicht Hit­ler und der deut­sche Nazi­fa­schis­mus, die den Zwei­ten Welt­krieg aus­ge­löst haben, nein, es war der Pakt der bei­den »tota­li­tä­ren Dik­ta­to­ren«, Hit­ler und Sta­lin, die – »das Ziel der Welt­erobe­rung« ver­fol­gend – ganz Euro­pa (!) »in zwei Ein­fluss­be­rei­che« auf­ge­teilt hät­ten. Immer wie­der wird die angeb­li­che Gemein­sam­keit und Gleich­ar­tig­keit der bei­den betont, aggres­siv, ja bru­tal im jewei­li­gen Staats­in­ter­es­se han­delnd, über Lei­chen gehend, skru­pel­los den Tod von Mil­lio­nen ver­ur­sa­chend. Der enge Bund sei kein Gele­gen­heits- oder Ver­le­gen­heits­bünd­nis gewe­sen, son­dern habe eben dar­in bestan­den, dass sie bei­de »tota­li­tär« waren, womit sich alle wei­te­ren Fra­gen nach den jewei­li­gen Bedin­gun­gen erüb­ri­gen. Streng genom­men war es somit »der« Tota­li­ta­ris­mus, der den Zwei­ten Welt­krieg aus­ge­löst hat – also ein Abstrak­tum. Da wir uns im Westen bereits 1945 von die­sem Tota­li­ta­ris­mus gelöst haben, sind wir end­lich fein her­aus, unse­re Geschich­te ver­läuft seit­dem ver­läss­lich in den Bah­nen von Frei­heit und Demo­kra­tie. Nicht so fein her­aus waren frei­lich die Staa­ten im Osten Euro­pas, denn die­se waren dem ande­ren, dem sieg­rei­chen Dik­ta­tor, auf den kein Nürn­berg war­te­te, ausgeliefert.

Kein Wort über den Über­fall der deut­schen Faschi­sten auf die Sowjet­uni­on, kein Wort über Sta­lin­grad, kein Wort über die enor­men Ver­lu­ste in der Bevöl­ke­rung, kein Wort über die Befrei­ung von Ausch­witz durch die Rote Armee. Der­art »gerei­nigt«, sieht die Geschich­te schon viel bes­ser aus.

Satz für Satz der Reso­lu­ti­on – nach­les­bar für alle: Ver­dre­hung, Aus­las­sung, Mani­pu­la­ti­on. Nur weni­ge Abge­ord­ne­te – die deut­sche Lin­ke und ande­re Lin­ke – haben dage­gen gestimmt. »Der« Tota­li­ta­ris­mus – wor­un­ter man sich alles und nichts vor­stel­len kann – war schuld, also ein System, des­sen Cha­rak­te­ri­sti­ka nicht zur Spra­che kom­men. Die deut­schen Abge­ord­ne­ten wer­den als wah­re Patrio­ten geju­belt haben, frei­lich nur inner­lich. Offi­zi­ell geht es ja nicht um deut­sche Befind­lich­kei­ten, son­dern um ern­ste Pro­ble­me der Gegen­wart, unter ande­rem um die Abwehr der »Gefah­ren von außen« (Putins Russ­land) und von innen, womit der spo­ra­disch erwähn­te Frem­den­hass gemeint ist. Anders als Hit­ler habe Sta­lin, so die Kon­struk­ti­on, sei­ne Welt­erobe­rungs­plä­ne wei­ter­ver­fol­gen kön­nen. Gestoppt wur­de der rus­si­sche Tota­li­ta­ris­mus erst durch die Nie­der­la­gen von 1989/​1991. Das öst­li­che Euro­pa konn­te end­lich wie­der in die euro­päi­sche Fami­lie auf­ge­nom­men wer­den und sich der Frei­heit und des Wohl­stands erfreu­en, die der geläu­ter­te Westen schon seit 1945 genie­ßen konnte.

Aller­dings ist da noch das moder­ne Russ­land, das zwar »noch immer das größ­te Opfer des kom­mu­ni­sti­schen Tota­li­ta­ris­mus« sei, aber so lan­ge »kein demo­kra­ti­scher Staat« wer­den kön­ne und somit tota­li­tär blei­be, wie »die Regie­rung, die poli­ti­sche Eli­te und die poli­ti­sche Pro­pa­gan­da nicht nach­las­sen, die kom­mu­ni­sti­schen Ver­bre­chen zu ver­harm­lo­sen und das tota­li­tä­re Sowjet­re­gime zu ver­herr­li­chen«. Oben­drein maße es sich nach wie vor ande­re Vor­stel­lun­gen an, was sei­ne eige­ne Geschich­te, ein­schließ­lich des Aus­bruchs des Zwei­ten Welt­kriegs betrifft, des­sen Ver­ur­sa­chung es neu­er­dings – so die küh­ne Behaup­tung – Polen und den bal­ti­schen Staa­ten anla­ste. Es ver­steht sich, dass Russ­land immer noch am 9. Mai sei­nen Sieg im Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg feiere.

Die Fol­ge­run­gen des neu­en »Geschichts­be­wusst­seins« lie­gen auf der Hand: Russ­land stel­le wei­ter­hin eine per­ma­nen­te Gefahr für den Frie­den dar, was sich bereits aus der Zuschrei­bung des Tota­li­tä­ren ergibt. Russ­land wei­ge­re sich, sei­ne gro­ße Schuld am Zwei­ten Welt­krieg ein­zu­ge­ste­hen oder die kom­mu­ni­sti­schen Ver­bre­chen auf­zu­ar­bei­ten. Solan­ge es aber an sei­nem Tota­li­ta­ris­mus fest­hal­te und die euro­päi­schen Demo­kra­tien zu unter­mi­nie­ren suche, sei eine bestän­di­ge Bedro­hung gege­ben. Im Westen hin­ge­gen sei – in der Form von NATO und EWG – ein dau­er­haf­ter Frie­de mög­lich gewe­sen, da man aus der Ver­gan­gen­heit gelernt und den Tota­li­ta­ris­mus abge­legt habe. Vor allem die heu­ti­ge EU sei von vorn­her­ein ein Frie­dens­pro­jekt gewe­sen – auch die­se stän­dig repe­tier­te, aber des­halb nicht wah­rer wer­den­de Legen­de passt ins Bild. Russ­land stel­le dage­gen auf­grund sei­nes Tota­li­ta­ris­mus eine stän­di­ge Kriegs­dro­hung dar, der man sich wach­sam und mili­tä­risch gerü­stet ent­ge­gen­stel­len müs­se. Pola­ri­sie­ren­der könn­te eine Gegen­über­stel­lung in ihrer Mischung aus Eigen­sti­li­sie­rung und Aggres­si­vi­tät kaum sein.

Nun könn­te man mög­li­cher­wei­se gelas­sen davon aus­ge­hen, dass die Reso­lu­ti­on wie­der in der Ver­sen­kung ver­schwin­det. Viel­leicht han­delt es sich um eine Pflicht­übung zum Jah­res­tag des Kriegs­an­fangs, zu der man nicht viel Ori­gi­nel­les, vor allem nichts Frie­dens­be­ton­tes bei­steu­ern konn­te oder woll­te? Nicht ganz: Jeden­falls wol­len die Initia­to­ren – und die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten im EU-Par­la­ment – die­se Geschichts­ma­ni­pu­la­ti­on gro­ßen Stils ver­bind­lich machen. Der Anti­to­ta­li­ta­ris­mus soll als Grund­la­ge euro­päi­scher Wer­te gel­ten. Der Anti­fa­schis­mus wird ent­sorgt. Die neue Geschichts­auf­fas­sung soll die »gemein­sa­me Erin­ne­rungs­kul­tur« beför­dern. Die Geschich­te der tota­li­tä­ren Syste­me und ihrer Fol­gen soll­ten des­halb »in die Lehr­plä­ne und die Schul­bü­cher auf­ge­nom­men wer­den«, wie es abschlie­ßend heißt, um jeg­li­cher Ver­harm­lo­sung extre­mi­sti­scher Posi­tio­nen ent­ge­gen­zu­wir­ken. Auch Sym­bo­le oder Denk­mä­ler des Tota­li­ta­ris­mus sol­len ver­schwin­den, wozu dann sicher auch Ham­mer und Sichel (als Äqui­va­len­te des Haken­kreu­zes) und Kriegs­denk­mä­ler gehö­ren, denn schließ­lich habe der Abwehr­kampf gegen Hit­ler nur der eige­nen, das heißt der kom­mu­ni­stisch-tota­li­tä­ren Welt­erobe­rung gedient.

Nein, eine sol­che Geschichts­ma­ni­pu­la­ti­on kann man nicht auf die leich­te Schul­ter neh­men, selbst dann nicht, wenn sich her­aus­stel­len soll­te, dass vie­le Abge­ord­ne­te den Text mecha­nisch »abge­nickt« haben, weil das eine oder ande­re ideo­lo­gi­sche Ver­satz­stück dar­in vor­kommt. Erschreckend ist auch das gerin­ge Aus­maß an Dis­kus­si­on – im Par­la­ment wie außer­halb. Aber die­ses unde­mo­kra­ti­sche Ver­hal­ten kommt eini­gen zupass, nament­lich den deut­schen Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­tern, die sich nun von der Last der wirk­li­chen Geschich­te »befreit« füh­len kön­nen. Die »gemein­sa­me euro­päi­sche Erin­ne­rung« hat dafür gesorgt, dass die Nazi-Ver­gan­gen­heit ein­fach ein­ge­dampft wird. Statt sich der eige­nen Ver­gan­gen­heit zu stel­len, kann man in Zukunft ein­fach auf die glo­rio­se Reso­lu­ti­on vom 19. Sep­tem­ber 2019 verweisen.