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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hölderlin: Erreichen wir ihn noch?

Fried­rich Höl­der­lin gilt als einer der bedeu­tend­sten Schrift­stel­ler der deut­schen Geschich­te, ja der Welt­li­te­ra­tur; doch es ist längst still um ihn gewor­den. Bereits zu Leb­zei­ten wur­de er nur von weni­gen ver­stan­den und gewür­digt. Auch wenn jetzt sein 250. Geburts­tag ansteht, wis­sen die mei­sten nur, dass Höl­der­lin die zwei­te Hälf­te sei­nes Lebens gei­stig umnach­tet in einem Tübin­ger Turm ver­bracht hat, der heu­te noch täg­lich von neu­gie­ri­gen Besu­chern auf­ge­sucht wird.

Johann Chri­sti­an Fried­rich Höl­der­lin wird am 20. März 1770 im beschau­li­chen Lauf­fen am Neckar als erstes Kind des Juri­sten Hein­rich Fried­rich Höl­der­lin und der Pfar­rers­toch­ter Johan­na Chri­stia­na Heyn gebo­ren. Der Vater, Guts­ver­wal­ter eines Klo­sters, stirbt 1772, und die jun­ge Wit­we zieht mit den Kin­dern nach Nür­tin­gen, wo sie einen Freund ihres ver­stor­be­nen Man­nes heiratet.

Ab 1776 besucht Höl­der­lin die Nür­tin­ger Latein­schu­le und erhält neben­bei Pri­vat­un­ter­richt. Die Mut­ter wünscht, dass ihr Sohn die geist­li­che Lauf­bahn ein­schlägt. Auf ihr Drän­gen hin besucht er ab 1784 die nie­de­re Klo­ster­schu­le zu Den­ken­dorf. Erste Gedich­te ent­ste­hen. Zwei Jah­re spä­ter bezieht der nun sech­zehn­jäh­ri­ge Höl­der­lin das Semi­nar des berühm­ten Zister­zi­en­ser­klo­sters Maul­bronn. 1788 wech­selt er schließ­lich ins ehr­wür­di­ge, 1536 gegrün­de­te Tübin­ger Stift. Hier macht er die Bekannt­schaft der spä­te­ren Phi­lo­so­phen Fried­rich Wil­helm Joseph Schel­ling und Georg Wil­helm Fried­rich Hegel – die berühm­te Tübin­ger Stifts-WG. Mit zwei Kom­mi­li­to­nen grün­det er einen Dich­ter­bund, den kon­spi­ra­ti­ven »Alder­manns­bund«, nach dem Vor­bild von Klop­stocks »Gelehr­ten­re­pu­blik«. Die Dich­tun­gen Höl­der­lins aus der Tübin­ger Zeit, Oden und Hym­nen, gehen noch ganz auf Schil­ler zurück.

Nach dem theo­lo­gi­schen Abschluss­examen 1793 unter­nimmt Höl­der­lin alles, um dem kirch­li­chen Beruf zu ent­ge­hen. Durch Fried­rich Schil­lers Ver­mitt­lung bekommt er eine Hof­mei­ster­stel­le im Schloss Wal­ters­hau­sen (bei Mei­nin­gen) von Char­lot­te von Kalb. In die­ser Zeit beginnt er mit sei­nem Brief­ro­man »Hype­ri­on«. Doch bereits Anfang 1795 wird das Dienst­ver­hält­nis auf­ge­löst, und Höl­der­lin geht nach Nür­tin­gen zurück. Die Mut­ter wünscht sich immer noch, der »Her­um­lun­gern­de« möge in einem Pfarr­haus eine Fami­lie gründen.

Durch die Ver­mitt­lung sei­nes Freun­des Isaac von Sin­clair erhält Höl­der­lin Ende Dezem­ber 1795 eine neue Hof­mei­ster­stel­le im Haus des Frank­fur­ter Ban­kiers Jakob Fried­rich Gon­tard. Die Haus­her­rin, Sus­et­te Gon­tard, ist ein Jahr älter als Höl­der­lin und an schö­ner Lite­ra­tur, Musik und neu­er Phi­lo­so­phie inter­es­siert. Bei weit­ge­hen­der Abwe­sen­heit des Haus­herrn ent­wickelt sich eine Lie­bes­be­zie­hung; Sus­et­te soll­te die gro­ße Lie­be sei­nes Lebens, die unsterb­li­che Diot­ima wer­den (nach der lite­ra­ri­schen Figur des anti­ken grie­chi­schen Phi­lo­so­phen Pla­ton). Im Feu­er der Lie­be schwärmt Höl­der­lin von ihr: »Sie ist schön wie ein Engel. Ein zar­tes gei­sti­ges himm­lisch rei­zen­des Gesicht. Ach! Ich könn­te ein Jahr­tau­send lang in seli­ger Betrach­tung mich und alles ver­ges­sen …« Im Sep­tem­ber 1798 kommt es schließ­lich zum Eklat mit Gon­tard, und Höl­der­lin muss unver­züg­lich das Haus ver­las­sen. Er geht nach Hom­burg zu Sin­clair, der dort Regie­rungs­rat ist. Da Hom­burg von Frank­furt nur ein paar Mei­len ent­fernt ist, kommt es zu heim­li­chen Tref­fen mit Sus­et­te, auch Brie­fe wer­den aus­ge­tauscht. Am 8. Mai 1800 dann ein letz­tes Wie­der­se­hen – der end­gül­ti­ge Abschied. Nie­der­ge­schla­gen geht Höl­der­lin nach Stutt­gart. Der Sohn ist wie­der in Reich­wei­te der Mut­ter; zumin­dest bis Anfang Dezem­ber 1801, als er zu einem gefahr­vol­len Win­ter­fuß­marsch nach Bor­deaux auf­bricht, um dort eine Haus­leh­rer­stel­le anzu­tre­ten. Doch kaum mehr als ein hal­bes Jahr spä­ter kehrt er zurück: abge­ma­gert, völ­lig zer­rüt­tet, geklei­det wie ein Bett­ler, nur noch ein Schat­ten sei­ner selbst.

Sin­clair holt Höl­der­lin wie­der nach Hom­burg, doch der wird zur Bela­stung (»sein Wahn­sinn hat eine sehr hohe Stu­fe erreicht«) für den Freund, der ihn schließ­lich in die Tübin­ger Uni­ver­si­täts­kli­nik ver­bringt. In der psych­ia­tri­schen Abtei­lung unter­nimmt man mit­tels damals gän­gi­ger The­ra­pie­me­tho­den einen letz­ten Hei­lungs­ver­such. Nach­dem sich der gewünsch­te Erfolg nicht ein­stellt, wird Höl­der­lin als unheil­bar ent­las­sen. Man gibt ihm »höch­stens noch drei Jah­re«, doch er soll­te noch 36 Jah­re leben – und schreiben.

Im Som­mer 1807 wird Höl­der­lin der Fami­lie des Schrei­ner­mei­sters Ernst Fried­rich Zim­mer anver­traut. Damit wen­det sich sein trau­ri­ges Schick­sal zum Bes­se­ren. Höl­der­lin fühlt sich in der neu­en Umge­bung bald hei­misch, und sein Befin­den bes­sert sich. Trotz­dem führt er wei­ter­hin unver­ständ­li­che Selbst­ge­sprä­che, lei­det unter Wut­aus­brü­chen, gefolgt von stun­den­lan­gem Umher­ge­hen in sei­nem Zim­mer. Ab 1822 wird Höl­der­lin wie­der ver­mehrt lite­ra­risch pro­duk­tiv – schreibt vor allem Gedich­te, in denen er sei­ne eige­ne Welt reflek­tiert. Meist dahin­ge­krit­zelt, acht­los weg­ge­wor­fen oder als unnüt­zes Geschmie­re eines Gei­stes­kran­ken ver­schenkt, sind sie bei den Stu­den­ten ein gefrag­tes Sou­ve­nir. 1826 geben Gustav Schwab und Lud­wig Uhland eine erste Aus­ga­be sei­ner Wer­ke her­aus, in der aller­dings die Jugend­wer­ke und die spä­ten Gedich­te (»wor­in die Klar­heit des Gei­stes schon bedeu­tend getrübt erscheint«) feh­len. Die Publi­ka­ti­on erscheint ohne Höl­der­lins Mitwirkung.

Mit­un­ter emp­fängt er auch Besuch. Sein lieb­ster Spa­zier­weg ist der Zwin­gel, ein Gelän­de zwi­schen Häu­ser­front und Stadt­mau­er am Neckar. Manch­mal will er unbe­dingt nach Frank­furt zu Diot­ima auf­bre­chen; dann hilft nichts ande­res, als ihm die Stie­fel weg­zu­neh­men. In den letz­ten Lebens­jah­ren setzt eine regel­rech­te Wall­fahrt von Schau­lu­sti­gen zu der Turm­woh­nung ein, um die »Tübin­ger Attrak­ti­on« zu begaf­fen. Am 7. Juni 1843 stirbt Fried­rich Höl­der­lin und wird drei Tage spä­ter auf dem Tübin­ger Fried­hof bestat­tet. Etwa hun­dert Stu­den­ten fol­gen dem Sarg, von der Pro­fes­so­ren­schaft ist nie­mand anwesend.

Mit sei­nen unver­gleich­li­chen roman­tisch-klas­si­schen Ele­gi­en, Oden und Hym­nen schuf Höl­der­lin ein lyri­sches Mei­ster­werk, das inner­halb weni­ger Jah­re (1798 – 1803) ent­stand. Sei­ne Poe­sie, in der anti­ke und revo­lu­tio­nä­re Idea­le ver­schmel­zen, fand jedoch erst im 20. Jahr­hun­dert ein ange­mes­se­nes Echo, als man sei­ne sprach­li­che Genia­li­tät erkann­te. In sei­nem Werk stell­te Höl­der­lin immer wie­der grund­le­gen­de Fra­gen der mensch­li­chen Exi­stenz, vor deren Beant­wor­tung wir auch heu­te noch ste­hen. Und so soll­ten wir, wie Rüdi­ger Safran­ski in sei­ner neu­en Höl­der­lin-Bio­gra­fie »Komm! ins Offe­ne, Freund« resü­miert, die Fra­ge »Ist der fern­ge­rück­te Höl­der­lin noch aktu­ell, erreicht er uns noch?« umdre­hen und uns fra­gen »Errei­chen wir ihn noch?«