Friedrich Hölderlin gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Geschichte, ja der Weltliteratur; doch es ist längst still um ihn geworden. Bereits zu Lebzeiten wurde er nur von wenigen verstanden und gewürdigt. Auch wenn jetzt sein 250. Geburtstag ansteht, wissen die meisten nur, dass Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens geistig umnachtet in einem Tübinger Turm verbracht hat, der heute noch täglich von neugierigen Besuchern aufgesucht wird.
Johann Christian Friedrich Hölderlin wird am 20. März 1770 im beschaulichen Lauffen am Neckar als erstes Kind des Juristen Heinrich Friedrich Hölderlin und der Pfarrerstochter Johanna Christiana Heyn geboren. Der Vater, Gutsverwalter eines Klosters, stirbt 1772, und die junge Witwe zieht mit den Kindern nach Nürtingen, wo sie einen Freund ihres verstorbenen Mannes heiratet.
Ab 1776 besucht Hölderlin die Nürtinger Lateinschule und erhält nebenbei Privatunterricht. Die Mutter wünscht, dass ihr Sohn die geistliche Laufbahn einschlägt. Auf ihr Drängen hin besucht er ab 1784 die niedere Klosterschule zu Denkendorf. Erste Gedichte entstehen. Zwei Jahre später bezieht der nun sechzehnjährige Hölderlin das Seminar des berühmten Zisterzienserklosters Maulbronn. 1788 wechselt er schließlich ins ehrwürdige, 1536 gegründete Tübinger Stift. Hier macht er die Bekanntschaft der späteren Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel – die berühmte Tübinger Stifts-WG. Mit zwei Kommilitonen gründet er einen Dichterbund, den konspirativen »Aldermannsbund«, nach dem Vorbild von Klopstocks »Gelehrtenrepublik«. Die Dichtungen Hölderlins aus der Tübinger Zeit, Oden und Hymnen, gehen noch ganz auf Schiller zurück.
Nach dem theologischen Abschlussexamen 1793 unternimmt Hölderlin alles, um dem kirchlichen Beruf zu entgehen. Durch Friedrich Schillers Vermittlung bekommt er eine Hofmeisterstelle im Schloss Waltershausen (bei Meiningen) von Charlotte von Kalb. In dieser Zeit beginnt er mit seinem Briefroman »Hyperion«. Doch bereits Anfang 1795 wird das Dienstverhältnis aufgelöst, und Hölderlin geht nach Nürtingen zurück. Die Mutter wünscht sich immer noch, der »Herumlungernde« möge in einem Pfarrhaus eine Familie gründen.
Durch die Vermittlung seines Freundes Isaac von Sinclair erhält Hölderlin Ende Dezember 1795 eine neue Hofmeisterstelle im Haus des Frankfurter Bankiers Jakob Friedrich Gontard. Die Hausherrin, Susette Gontard, ist ein Jahr älter als Hölderlin und an schöner Literatur, Musik und neuer Philosophie interessiert. Bei weitgehender Abwesenheit des Hausherrn entwickelt sich eine Liebesbeziehung; Susette sollte die große Liebe seines Lebens, die unsterbliche Diotima werden (nach der literarischen Figur des antiken griechischen Philosophen Platon). Im Feuer der Liebe schwärmt Hölderlin von ihr: »Sie ist schön wie ein Engel. Ein zartes geistiges himmlisch reizendes Gesicht. Ach! Ich könnte ein Jahrtausend lang in seliger Betrachtung mich und alles vergessen …« Im September 1798 kommt es schließlich zum Eklat mit Gontard, und Hölderlin muss unverzüglich das Haus verlassen. Er geht nach Homburg zu Sinclair, der dort Regierungsrat ist. Da Homburg von Frankfurt nur ein paar Meilen entfernt ist, kommt es zu heimlichen Treffen mit Susette, auch Briefe werden ausgetauscht. Am 8. Mai 1800 dann ein letztes Wiedersehen – der endgültige Abschied. Niedergeschlagen geht Hölderlin nach Stuttgart. Der Sohn ist wieder in Reichweite der Mutter; zumindest bis Anfang Dezember 1801, als er zu einem gefahrvollen Winterfußmarsch nach Bordeaux aufbricht, um dort eine Hauslehrerstelle anzutreten. Doch kaum mehr als ein halbes Jahr später kehrt er zurück: abgemagert, völlig zerrüttet, gekleidet wie ein Bettler, nur noch ein Schatten seiner selbst.
Sinclair holt Hölderlin wieder nach Homburg, doch der wird zur Belastung (»sein Wahnsinn hat eine sehr hohe Stufe erreicht«) für den Freund, der ihn schließlich in die Tübinger Universitätsklinik verbringt. In der psychiatrischen Abteilung unternimmt man mittels damals gängiger Therapiemethoden einen letzten Heilungsversuch. Nachdem sich der gewünschte Erfolg nicht einstellt, wird Hölderlin als unheilbar entlassen. Man gibt ihm »höchstens noch drei Jahre«, doch er sollte noch 36 Jahre leben – und schreiben.
Im Sommer 1807 wird Hölderlin der Familie des Schreinermeisters Ernst Friedrich Zimmer anvertraut. Damit wendet sich sein trauriges Schicksal zum Besseren. Hölderlin fühlt sich in der neuen Umgebung bald heimisch, und sein Befinden bessert sich. Trotzdem führt er weiterhin unverständliche Selbstgespräche, leidet unter Wutausbrüchen, gefolgt von stundenlangem Umhergehen in seinem Zimmer. Ab 1822 wird Hölderlin wieder vermehrt literarisch produktiv – schreibt vor allem Gedichte, in denen er seine eigene Welt reflektiert. Meist dahingekritzelt, achtlos weggeworfen oder als unnützes Geschmiere eines Geisteskranken verschenkt, sind sie bei den Studenten ein gefragtes Souvenir. 1826 geben Gustav Schwab und Ludwig Uhland eine erste Ausgabe seiner Werke heraus, in der allerdings die Jugendwerke und die späten Gedichte (»worin die Klarheit des Geistes schon bedeutend getrübt erscheint«) fehlen. Die Publikation erscheint ohne Hölderlins Mitwirkung.
Mitunter empfängt er auch Besuch. Sein liebster Spazierweg ist der Zwingel, ein Gelände zwischen Häuserfront und Stadtmauer am Neckar. Manchmal will er unbedingt nach Frankfurt zu Diotima aufbrechen; dann hilft nichts anderes, als ihm die Stiefel wegzunehmen. In den letzten Lebensjahren setzt eine regelrechte Wallfahrt von Schaulustigen zu der Turmwohnung ein, um die »Tübinger Attraktion« zu begaffen. Am 7. Juni 1843 stirbt Friedrich Hölderlin und wird drei Tage später auf dem Tübinger Friedhof bestattet. Etwa hundert Studenten folgen dem Sarg, von der Professorenschaft ist niemand anwesend.
Mit seinen unvergleichlichen romantisch-klassischen Elegien, Oden und Hymnen schuf Hölderlin ein lyrisches Meisterwerk, das innerhalb weniger Jahre (1798 – 1803) entstand. Seine Poesie, in der antike und revolutionäre Ideale verschmelzen, fand jedoch erst im 20. Jahrhundert ein angemessenes Echo, als man seine sprachliche Genialität erkannte. In seinem Werk stellte Hölderlin immer wieder grundlegende Fragen der menschlichen Existenz, vor deren Beantwortung wir auch heute noch stehen. Und so sollten wir, wie Rüdiger Safranski in seiner neuen Hölderlin-Biografie »Komm! ins Offene, Freund« resümiert, die Frage »Ist der ferngerückte Hölderlin noch aktuell, erreicht er uns noch?« umdrehen und uns fragen »Erreichen wir ihn noch?«