Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Höchste Gefahr

Eine Mehr­heit der Deut­schen ist laut ARD-Deutsch­land­trend von Anfang März die­ses Jah­res für die Lie­fe­rung schwe­rer Kriegs­waf­fen an die Ukrai­ne. Noch zwei Mona­te zuvor wirk­te die mili­tär­kri­ti­sche Grund­hal­tung der Bevöl­ke­rung, wie sie in den letz­ten Jahr­zehn­ten gewach­sen war, nach: Anfang des Jah­res noch mel­de­te der Deutsch­land­trend eine Mehr­heit gegen sol­che Lieferungen.

Inzwi­schen kön­nen die Bun­des­re­gie­rung und die Nato eine »Rote Linie« nach der ande­ren über­schrei­ten, wie dies die öffent­li­che Debat­te über die Aus­bil­dung von Pilo­ten und die Lie­fe­rung von Kampf­jets zeigt, ohne dass ein Auf­schrei durch die Bevöl­ke­rung geht. Nicht ein­mal die 15 Atom­re­ak­to­ren in der Ukrai­ne ver­an­las­sen Bünd­nis­grü­ne, Sozi­al­de­mo­kra­ten und eine nen­nens­wer­te Mehr­heit der Bevöl­ke­rung zu einem Veto gegen das »Spiel« mit dem Feuer.

Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz erklär­te dazu kürz­lich im Ver­lauf sei­nes Bal­ti­kum-Besuchs im Vor­feld des Nato-Gip­fels: »Um es hier noch­mal klar zu sagen: Wir sind bereit, jeden Qua­drat­zen­ti­me­ter Nato-Ter­ri­to­ri­ums gegen Angrif­fe zu ver­tei­di­gen.« Das erin­nert stark an Wor­te des dama­li­gen US-Außen­mi­ni­ster James Bak­er gegen­über dem sowje­ti­schen Prä­si­den­ten Gor­bat­schow von 1990, die Nato wer­de sich kei­nen Zen­ti­me­ter nach Osten aus­deh­nen (»not an inch«).

Den Wort­bruch der Nato, ohne den die Kriegs­ur­sa­chen nicht ana­ly­siert und benannt wer­den kön­nen, beweist ein Doku­ment, das am 10. Febru­ar 2022, zwei Wochen vor der Inva­si­on Russ­lands in die Ukrai­ne auf der Web­site der US-Govern­ment Publi­shing Office – GPO –, einer Ver­öf­fent­li­chungs-Platt­form der US-Regie­rung unter dem Titel »Con­gres­sio­nal Record Volu­me 168, Num­ber 27« erschien: Es bestä­tig­te die kate­go­ri­sche Ableh­nung rus­si­scher Sicher­heits-For­de­run­gen durch die US-Admi­ni­stra­ti­on und die Nato.

Das US-Kon­gress-Doku­ment beinhal­tet eine Rede von Mr. San­ders, der eini­ge der Ver­bre­chen der US-Kriegs­füh­rung aus den letz­ten Jahr­zehn­ten erwähnt, die die west­li­che Pro­pa­gan­da-Kam­pa­gne aus­blen­den, und es for­dert zu Diplo­ma­tie statt zu mili­tä­ri­scher Eska­la­ti­on auf – Zitat: »Krie­ge haben unbe­ab­sich­tig­te Fol­gen. Sie ver­lau­fen sel­ten so, wie die Pla­ner und Exper­ten es uns sagen. Fra­gen Sie ein­fach die Beam­ten, die rosi­ge Sze­na­ri­en für die Krie­ge in Viet­nam, Afgha­ni­stan und Irak vor­ge­legt haben, die sich dann nur als furcht­bar falsch erwie­sen. Fra­gen Sie ein­fach die Müt­ter der Sol­da­ten, die in die­sen Krie­gen getö­tet oder ver­wun­det wur­den. Fra­gen Sie ein­fach die Fami­li­en der Mil­lio­nen Zivi­li­sten, die in die­sen Krie­gen zu Kol­la­te­ral­schä­den wur­den. Der Krieg in Viet­nam koste­te uns 59.000 ame­ri­ka­ni­sche Men­schen­le­ben und vie­le ande­re, die an Kör­per und Geist ver­wun­det nach Hau­se kamen. Die Opfer in Viet­nam, Laos, und Kam­bo­dscha sind fast nicht zu bezif­fern, aber sie gin­gen in die Mil­lio­nen. In Afgha­ni­stan wur­de das, was als Reak­ti­on auf den schreck­li­chen Angriff gegen uns am 11. Sep­tem­ber 2001 begann, schließ­lich zu einem 20-jäh­ri­gen Krieg, der uns 2 Bil­lio­nen Dol­lar koste­te und über 3.500 zu Tode gekom­me­ne Leben, ganz zu schwei­gen von Zehn­tau­sen­den afgha­ni­schen Zivi­li­sten. Geor­ge W. Bush behaup­te­te 2003, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten hät­ten die Tali­ban ›für immer aus dem Weg geräumt‹. Nun, (…) die Tali­ban sind auch heu­te noch an der Macht. Der Krieg im Irak, der dem ame­ri­ka­ni­schen Volk mit dem Schü­ren von Angst vor einem Atom­pilz wegen der nicht exi­stie­ren­den ira­ki­schen Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen ver­kauft wur­de, führ­te zum Tod von etwa 4.500 US-Sol­da­ten und zur kör­per­li­chen und see­li­schen Ver­wun­dung von Zehn­tau­sen­den von Men­schen. Er führ­te zum Tod von Hun­dert­tau­sen­den Ira­kern, zur Ver­trei­bung von über 5 Mil­lio­nen Men­schen und zu einer regio­na­len Desta­bi­li­sie­rung, mit deren Fol­gen die Welt noch heu­te zu kämp­fen hat. Mit ande­ren Wor­ten: Trotz all der rosi­gen Sze­na­ri­en, die wir für die­se außen­po­li­ti­schen und mili­tä­ri­schen Inter­ven­tio­nen hör­ten, stell­te sich her­aus, dass die Exper­ten falsch lagen und Mil­lio­nen von unschul­di­gen Men­schen den Preis dafür zahl­ten. Des­halb müs­sen wir alles tun, um eine diplo­ma­ti­sche Lösung zu fin­den, um einen Krieg in der Ukrai­ne zu ver­hin­dern, der enor­me Zer­stö­run­gen nach sich zie­hen würde.«

Das Nato-Nar­ra­tiv eines durch nie­man­den pro­vo­zier­ten Angriffs­kriegs Russ­lands gegen sei­nen Nach­bar­staat Ukrai­ne wider­legt das GPO-Kon­gress­do­ku­ment unter ande­rem auch mit einem Zitat des ehe­ma­li­gen US-Außen­mi­ni­ster Wil­liam Per­ry: »Unse­re erste Akti­on, die uns wirk­lich in eine schlech­te Rich­tung gebracht hat, war, als die Nato begann, sich zu erwei­tern um ost­eu­ro­päi­sche Staa­ten, von denen eini­ge an Russ­land grenz­ten.« Die GPO doku­men­tiert auch noch eine ähn­li­che War­nung des aktu­el­len Lei­ters der CIA, Bill Burns, und bringt ein Zitat von ihm aus dem Jahr 1995, als er Bera­ter für poli­ti­sche Ange­le­gen­hei­ten an der US-Bot­schaft in Mos­kau war: »Die Feind­se­lig­keit gegen­über einer frü­hen Nato-Erwei­te­rung ist fast über­all im gesam­ten innen­po­li­ti­schen Spek­trum der USA zu spüren.«

Die Ein­schät­zung, die das Doku­ment dar­an anschließt, führt zur Kri­tik: Mehr als 10 Jah­re spä­ter, im Jahr 2008, schrieb Burns in einem Memo an US-Außen­mi­ni­ste­rin Con­do­leez­za Rice: »Der Bei­tritt der Ukrai­ne zur Nato ist die hell­ste aller roten Lini­en für die rus­si­sche Eli­te (nicht nur für Putin). In mehr als zwei­ein­halb Jah­ren Gesprä­che mit wich­ti­gen rus­si­schen Akteu­ren habe ich noch nie­man­den gefun­den, der in einem Bei­tritt der Ukrai­ne zur Nato etwas ande­res als eine direk­te Her­aus­for­de­rung für rus­si­sche Inter­es­sen sieht.«

Die von den Mei­nungs­len­kern ver­brei­te­te Mili­tär­po­li­tik eska­liert nicht nur die Span­nun­gen im Vor­feld des nuklea­ren Infer­nos, sie füh­ren auch zu einer Eska­la­ti­on der Erd­er­hit­zung und wei­te­rer öko­lo­gi­scher Schä­den, die für den Lebens­raum der Mensch­heit viel­leicht schon inner­halb weni­ger Jahr­zehn­te den Gar­aus bedeutet.

Der Erfolg der Des-Infor­ma­ti­on der Nato und ihrer Unter­stüt­zer, die umge­kehrt Russ­land und Chi­na Fake-News vor­wer­fen, trägt mit dazu bei, dass die­se Gefah­ren ohne die erfor­der­li­che gesell­schaft­li­che Gegen­wehr anstei­gen. Dass dabei die bünd­nis­grü­ne Füh­rung eine Rol­le spielt, ist tra­gisch genug. Dass dies aber auch schon den Wider­stand aus der Links­par­tei durch Spal­tungs­ten­den­zen schwächt, kommt hin­zu. Es bedarf wie­der einer brei­ten Frie­dens­be­we­gung wie vor Jahr­zehn­ten, als der erste Auf­ruf der Hun­dert­tau­sen­der-Frie­dens­de­mon­stra­tio­nen in der Bun­des­haupt­stadt mit der Erkennt­nis auf­mach­te, dass das Jahr­zehnt der dama­li­gen Zeit zum gefähr­lich­sten der Geschich­te zu wer­den droht. Das gilt nun für die 20er Jah­re des 21. Jahrhunderts.