Eine Mehrheit der Deutschen ist laut ARD-Deutschlandtrend von Anfang März dieses Jahres für die Lieferung schwerer Kriegswaffen an die Ukraine. Noch zwei Monate zuvor wirkte die militärkritische Grundhaltung der Bevölkerung, wie sie in den letzten Jahrzehnten gewachsen war, nach: Anfang des Jahres noch meldete der Deutschlandtrend eine Mehrheit gegen solche Lieferungen.
Inzwischen können die Bundesregierung und die Nato eine »Rote Linie« nach der anderen überschreiten, wie dies die öffentliche Debatte über die Ausbildung von Piloten und die Lieferung von Kampfjets zeigt, ohne dass ein Aufschrei durch die Bevölkerung geht. Nicht einmal die 15 Atomreaktoren in der Ukraine veranlassen Bündnisgrüne, Sozialdemokraten und eine nennenswerte Mehrheit der Bevölkerung zu einem Veto gegen das »Spiel« mit dem Feuer.
Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte dazu kürzlich im Verlauf seines Baltikum-Besuchs im Vorfeld des Nato-Gipfels: »Um es hier nochmal klar zu sagen: Wir sind bereit, jeden Quadratzentimeter Nato-Territoriums gegen Angriffe zu verteidigen.« Das erinnert stark an Worte des damaligen US-Außenminister James Baker gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow von 1990, die Nato werde sich keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen (»not an inch«).
Den Wortbruch der Nato, ohne den die Kriegsursachen nicht analysiert und benannt werden können, beweist ein Dokument, das am 10. Februar 2022, zwei Wochen vor der Invasion Russlands in die Ukraine auf der Website der US-Government Publishing Office – GPO –, einer Veröffentlichungs-Plattform der US-Regierung unter dem Titel »Congressional Record Volume 168, Number 27« erschien: Es bestätigte die kategorische Ablehnung russischer Sicherheits-Forderungen durch die US-Administration und die Nato.
Das US-Kongress-Dokument beinhaltet eine Rede von Mr. Sanders, der einige der Verbrechen der US-Kriegsführung aus den letzten Jahrzehnten erwähnt, die die westliche Propaganda-Kampagne ausblenden, und es fordert zu Diplomatie statt zu militärischer Eskalation auf – Zitat: »Kriege haben unbeabsichtigte Folgen. Sie verlaufen selten so, wie die Planer und Experten es uns sagen. Fragen Sie einfach die Beamten, die rosige Szenarien für die Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak vorgelegt haben, die sich dann nur als furchtbar falsch erwiesen. Fragen Sie einfach die Mütter der Soldaten, die in diesen Kriegen getötet oder verwundet wurden. Fragen Sie einfach die Familien der Millionen Zivilisten, die in diesen Kriegen zu Kollateralschäden wurden. Der Krieg in Vietnam kostete uns 59.000 amerikanische Menschenleben und viele andere, die an Körper und Geist verwundet nach Hause kamen. Die Opfer in Vietnam, Laos, und Kambodscha sind fast nicht zu beziffern, aber sie gingen in die Millionen. In Afghanistan wurde das, was als Reaktion auf den schrecklichen Angriff gegen uns am 11. September 2001 begann, schließlich zu einem 20-jährigen Krieg, der uns 2 Billionen Dollar kostete und über 3.500 zu Tode gekommene Leben, ganz zu schweigen von Zehntausenden afghanischen Zivilisten. George W. Bush behauptete 2003, die Vereinigten Staaten hätten die Taliban ›für immer aus dem Weg geräumt‹. Nun, (…) die Taliban sind auch heute noch an der Macht. Der Krieg im Irak, der dem amerikanischen Volk mit dem Schüren von Angst vor einem Atompilz wegen der nicht existierenden irakischen Massenvernichtungswaffen verkauft wurde, führte zum Tod von etwa 4.500 US-Soldaten und zur körperlichen und seelischen Verwundung von Zehntausenden von Menschen. Er führte zum Tod von Hunderttausenden Irakern, zur Vertreibung von über 5 Millionen Menschen und zu einer regionalen Destabilisierung, mit deren Folgen die Welt noch heute zu kämpfen hat. Mit anderen Worten: Trotz all der rosigen Szenarien, die wir für diese außenpolitischen und militärischen Interventionen hörten, stellte sich heraus, dass die Experten falsch lagen und Millionen von unschuldigen Menschen den Preis dafür zahlten. Deshalb müssen wir alles tun, um eine diplomatische Lösung zu finden, um einen Krieg in der Ukraine zu verhindern, der enorme Zerstörungen nach sich ziehen würde.«
Das Nato-Narrativ eines durch niemanden provozierten Angriffskriegs Russlands gegen seinen Nachbarstaat Ukraine widerlegt das GPO-Kongressdokument unter anderem auch mit einem Zitat des ehemaligen US-Außenminister William Perry: »Unsere erste Aktion, die uns wirklich in eine schlechte Richtung gebracht hat, war, als die Nato begann, sich zu erweitern um osteuropäische Staaten, von denen einige an Russland grenzten.« Die GPO dokumentiert auch noch eine ähnliche Warnung des aktuellen Leiters der CIA, Bill Burns, und bringt ein Zitat von ihm aus dem Jahr 1995, als er Berater für politische Angelegenheiten an der US-Botschaft in Moskau war: »Die Feindseligkeit gegenüber einer frühen Nato-Erweiterung ist fast überall im gesamten innenpolitischen Spektrum der USA zu spüren.«
Die Einschätzung, die das Dokument daran anschließt, führt zur Kritik: Mehr als 10 Jahre später, im Jahr 2008, schrieb Burns in einem Memo an US-Außenministerin Condoleezza Rice: »Der Beitritt der Ukraine zur Nato ist die hellste aller roten Linien für die russische Elite (nicht nur für Putin). In mehr als zweieinhalb Jahren Gespräche mit wichtigen russischen Akteuren habe ich noch niemanden gefunden, der in einem Beitritt der Ukraine zur Nato etwas anderes als eine direkte Herausforderung für russische Interessen sieht.«
Die von den Meinungslenkern verbreitete Militärpolitik eskaliert nicht nur die Spannungen im Vorfeld des nuklearen Infernos, sie führen auch zu einer Eskalation der Erderhitzung und weiterer ökologischer Schäden, die für den Lebensraum der Menschheit vielleicht schon innerhalb weniger Jahrzehnte den Garaus bedeutet.
Der Erfolg der Des-Information der Nato und ihrer Unterstützer, die umgekehrt Russland und China Fake-News vorwerfen, trägt mit dazu bei, dass diese Gefahren ohne die erforderliche gesellschaftliche Gegenwehr ansteigen. Dass dabei die bündnisgrüne Führung eine Rolle spielt, ist tragisch genug. Dass dies aber auch schon den Widerstand aus der Linkspartei durch Spaltungstendenzen schwächt, kommt hinzu. Es bedarf wieder einer breiten Friedensbewegung wie vor Jahrzehnten, als der erste Aufruf der Hunderttausender-Friedensdemonstrationen in der Bundeshauptstadt mit der Erkenntnis aufmachte, dass das Jahrzehnt der damaligen Zeit zum gefährlichsten der Geschichte zu werden droht. Das gilt nun für die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts.