Die Dauerausstellung »Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler« in der Zitadelle Berlin-Spandau ist »Deutschlands größter archäologischer Giftschrank« genannt worden, weil sie zuvor in Depots verborgene, heute Missfallen erregende sowie nach Machtwechseln vergrabene oder zerstörte Denkmäler vereint. Die ehemals Geehrten stehen nun in eindrucksvollen Posen, denn leidende Menschen sind nicht darunter, geformt aus Bronze, Marmor oder Granit, im ehemaligen Proviantmagazin der Festung. Die gemeinhin üblich gewordenen Hinweistafeln mit mahnenden und belehrenden Texten fehlen: Besucher können sich also beim Anblick der wohl hundert Skulpturen und Mahnmale ganz unbefangen ihrem Widerwillen oder ihrer Zuneigung hingeben.
So werden viele meinen, Gerhard von Scharnhorst, gleich rechts hinter dem Eingang, gehöre nicht in den besagten Giftschrank. In der Tat hätte der Generalstabschef Blüchers und Schöpfer eines Volksheeres, der militärische Privilegien des Adels ebenso wie die Prügelstrafe abschaffte, einen würdigeren Ort verdient. Früher stand er im Verlauf zweier Jahrhunderte nahe der Neuen Wache Unter den Linden, ist dann jedoch im vereinten Deutschland offenbar in Ungnade gefallen. Nun gibt es heute gute Gründe, aus dem Berliner Stadtbild zu verschwinden. Scharnhorst wurde, wie auch Bülow von Dennewitz, ebenfalls ein Freiheitskämpfer, angeblich wegen schädlicher Autoabgase daraus entfernt. Vermutlich geschah das allerdings eher auf das Betreiben jener Eiferer hin, die meinen, Preußen sei in historischer Kontinuität mit Auschwitz verbunden.
Scharnhorst steht nachdenklich auf seinen Säbel gestützt. Er erscheint unschlüssig, ob er für das zusammengerollte Dokument in seiner Linken einen interessierten Empfänger finden wird. Luise ist einfach nur schön, trägt eine Rose auf dem Miederband. Ihrem Friedrich – kein Herrscher in diesem Saal trägt eine derart schlichte Uniform ohne Litze, Tressen und Auszeichnungen: wir sind hier noch in Preußen –, ihrem Friedrich also hat der Bildhauer einen Kranz in die Hand gegeben, obwohl er wahrhaftig nicht das war, was man einen strahlenden Sieger nennt. Es wird kein Lorbeer sein, wohl Eichenlaub: das Sinnbild für Standhaftigkeit und Treue.
Gleich nebenan tummelt sich ein Reigen brandenburgischer Markgrafen, Kurfürsten und preußischer Könige. Überall Schwerter, Helme, Kettenhemden – kriegerischer Historismus in der Bildenden Kunst. Nur fehlen den Dargestellten hin und wieder Nasen und Ohren, bisweilen sogar der ganze Kopf oder Gliedmaßen. So ist dem Soldatenkönig irgendwann die Rechte abhandengekommen, und seinem Sohn, hernach der Große genannt, fehlt ein Arm.
In Auftrag gegeben hat die ursprünglich im Berliner Tiergarten aufgestellten Skulpturen der von preußischen Idealen weit entfernte Kaiser Wilhelm II. Der Monarch ließ es sich dabei nicht nehmen, den Bildhauern die Haltung und selbst den Gesichtsausdruck der Dargestellten vorzuschreiben. Später sind die Standbilder ein wenig umhergewandert, im Zweiten Weltkrieg meist beschädigt und danach im Park des Schlosses Bellevue vergraben worden: deutsche Geschichte in einer Nussschale. Schon 1918 forderte der Revolutionär Hans Paasche im Berliner Vollzugsrat, die marmornen Bildwerke an der »Puppenallee« zu sprengen, aber seine sozialdemokratischen Mitstreiter verhinderten dergleichen. Kurt Tucholsky hingegen schlug damals spottend vor, einfach die Köpfe der Skulpturen gegen republikanische auszutauschen und dichtete: »Lass uns vorübergehen / und lächeln – denn wir wissen ja Bescheid. / Ich glaub, wir lassen still die Puppen stehen / als Dokumente einer großen Zeit.«
Der nächste Saal wird von einem gewaltigen Pferd aus Bronze beherrscht: das Maul von einer unsichtbaren Kandare aufgerissen, unnatürlich weit geblähte Nüstern, die verdrehten Augen einer rasenden Kreatur, stark hervortretende Muskelstränge. Da sind Erläuterungen zu Zeit und Ort der Entstehung oder ein Hinweis auf die Einschusslöcher im Rumpf unnötig. Im Werkverzeichnis seines Schöpfers heißt es, gemeinsam mit seinem Gegenpart, »Schreitende Pferde« und stand einst an der Gartenseite von Hitlers Neuer Reichskanzlei. Es war mutig und klug, die Bronzen – das zweite Pferd steht im Schaudepot – auszustellen. Vor allem war es verantwortungsbewusster als zum Beispiel das unterwürfige Verhalten jener bediensteten Antifaschisten, die politischen Gegnern den ehrenden Besuch in Konzentrationslagern verbieten. Natürlich wurde auch in Spandau befürchtet, die Ausstellung könne nun zum Wallfahrtsort nationalsozialistisch gesinnter Wiedergänger werden. (Das nahe Kriegsverbrechergefängnis Spandau, in dem einige der in Nürnberg verurteilten Kriegsverbrecher ihre Strafen verbüßten, ist wegen solcher Bedenken nach dem Tod des letzten Insassen abgerissen worden.) Von der nicht geringeren Gefahr, dass Anhänger des ehemaligen Muftis von Jerusalem vor den »Hitlerpferden« ihre Gebetsteppiche ausbreiten könnten, hat hingegen niemand gesprochen.
Nachdem die Pferde 1939 ihre Plätze an der Neuen Reichskanzlei eingenommen hatten, wurden sie schon vier Jahre später nach Wriezen am Rand des Oderbruchs geschafft, um sie vor Zerstörung während der Bombenangriffe zu schützen. Nach dem Ende des Krieges erschienen die »Schreitenden Pferde« dann als Beutestücke auf einem Sportplatz der Roten Armee in Eberswalde. Kunsthistorikern galten sie als verschollen, doch irgendwann kurz nach dem Fall der Mauer spürte sie ein Unternehmer aus Rheinland-Pfalz auf. Er erwarb die angeblich bereits zersägten Bronzepferde von einem korrupten sowjetischen Offizier und ließ sie in den Westen Deutschlands schaffen, wo Kunstfahnder sie gemeinsam mit weiteren Tonnen »Nazischrott« 2015 entdeckten.
Eine abenteuerliche Geschichte, von der sich im Hinblick auf die bisweilen zwielichtige Rechtslage manches im letzten Saal der Ausstellung fortsetzt. Dieser Raum ist der belebteste, denn oft stehen dort Besucher beisammen und sprechen erregt miteinander. Sie tun das meist vor einem nahezu zwei Meter messenden Kopf aus ukrainischem Granit. Der offenkundig von einer riesigen Skulptur abgesägte Kopf trägt die Gesichtszüge Lenins, des einst von einer Deutschen geborenen Kalmückensohnes, der aus dem Schweizer Exil kam und zum Führer der russischen Revolution und des Roten Terrors wurde. Geformt hat ihn ein ukrainischer Bildhauer. Deutsche hingegen haben das Denkmal bestellt, errichtet und zerstört. Der Kopf liegt, so wie er weggeworfen in einer Kiesgrube aufgefunden wurde, auf der Seite. Aus seinem Scheitel sehen vier eingebohrte Transportbolzen hervor. Good bye, Lenin.
Davor werden immer noch die Diskussionen der neunziger Jahre geführt. Damals stand die gigantische, 19 Meter hohe Statue Lenins im Stadtteil Friedrichshain im Osten Berlins – für manchen eine Kultfigur, für viele ein Sinnbild für den zur Diktatur versteinerten Sozialismus. Vor dem Abriss im November 1991 trug das Denkmal lange Zeit ein Spruchband mit der Parole der friedlichen Revolution von 1989: »Keine Gewalt!« Vergebens, und das mag die bis heute andauernden Streitgespräche sowie manches Wahlergebnis im Osten Deutschlands erklären: Die Menschen, so hatten sie das Nahen der Demokratie verstanden, wollten gefragt werden. Stattdessen sahen sie ohnmächtig das rigorose Wirken der Treuhand, den wortlosen Einzug fremder Politiker und Bürokraten, den hastigen Machtwechsel in Medien, Hochschulen, Universitäten und Großbetrieben. Wie gut, dass der Kopf hier daran gemahnt.
Wenn Vorwürfe und Streitgespräche heftiger werden, dann wird das oft von zwei weiteren Ausstellungsobjekten in jenem Saal hervorgerufen: vom plumpen Bronzeabbild zweier Soldaten im Wachdienst an der Mauer sowie vom Glasprismablock aus der Neuen Wache Unter den Linden, dessen ewige Flamme nun erloschen ist. Wenn jemand die Mauerwächter noch schätzt, dann lässt er es sich gewöhnlich nicht anmerken und weicht aus. Der – von Helmut Kohl angeordnete – Austausch von Glasprisma und Flamme gegen eine Plastik nach Käthe Kollwitz (»Mutter mit totem Sohn«) jedoch erregt beiderseits Verärgerung. Nicht wenige Besucher, mancher davon nannte es »Vater besuchen«, wenn er nicht wusste, wo das Grab seines Vaters zu suchen war, haben irgendwann vor der Flamme und den im Boden eingelassenen Urnen des unbekannten Soldaten und des unbekannten Widerstandskämpfers gestanden. Kaum einer kann sich deshalb mit den Veränderungen abfinden. Andere wiederum beklagen, auch die neue Gestaltung erinnere nicht an Frauen, nicht an Juden oder an andere Opfer des Nationalsozialismus.
Ein bronzener Reiter Unter den Linden sieht im Kreis seiner Generäle den Veränderungen gelassen zu, während Kant und Lessing sich mit einem Platz unterm Pferdehintern begnügen müssen – ihn wird man schon deshalb nicht anrühren, weil wir gerade wieder einmal recht kriegerisch gestimmt sind.