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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hirngespinste

In stock­dunk­ler Nacht, abge­schirmt von jeg­li­cher Öffent­lich­keit, tra­fen sich zwei Män­ner: der US-Prä­si­dent und Andrés Manu­el López Obra­dor, Staats­ober­haupt und Regie­rungs­chef Mexi­kos. Vor­aus­ge­gan­gen war dem Geheim­tref­fen ein Tele­fon­ge­spräch zwi­schen dem Ame­ri­ca-first-Prä­si­den­ten und dem erst unlängst ins höch­ste mexi­ka­ni­sche Staats­amt gelang­ten López Obra­dor. Letz­te­rer mach­te dabei Andeu­tun­gen, dass sei­ne Regie­rung unter bestimm­ten Umstän­den bereit sein könn­te, den Bau der Mau­er zwi­schen bei­den Nach­bar­staa­ten zu bezah­len. Trump, der noch vor sei­ner Wahl ange­kün­digt hat­te, dass die Grenz­be­fe­sti­gung vom süd­li­chen Nach­barn bezahlt wer­den wür­de, und jetzt trotz Ver­kün­dung des Natio­na­len Not­stan­des die erfor­der­li­chen Mil­li­ar­den­sum­men nicht zusam­men­be­kam, war höchst über­rascht, ver­ständ­li­cher­wei­se hoch­er­freut und lud den Gesprächs­part­ner bereits zum näch­sten Wochen­en­de in sein Wochen­end­do­mi­zil Mar-a-Lago in Flo­ri­da ein.

Nun also fand das Tref­fen unter vier Augen statt. Der hohe mexi­ka­ni­sche Gast wie­der­hol­te sein Ange­bot, aller­dings unter einer klei­nen Bedin­gung. Vor­aus­set­zung für die Finan­zie­rung der Mau­er sei die Annul­lie­rung des am 2. Febru­ar 1848 unter­zeich­ne­ten Ver­tra­ges von Gua­d­a­lu­pe Hidal­go. Der Ver­trag been­de­te den mexi­ka­nisch-ame­ri­ka­ni­schen Krieg, der 1846 begon­nen hat­te, weil die USA die Abtren­nung eines gro­ßen Tei­les des mexi­ka­ni­schen Staats­ter­ri­to­ri­ums for­der­ten. Nach meh­re­ren blu­ti­gen Schlach­ten dran­gen die US-Trup­pen weit nach Süden vor und besieg­ten die Mexi­ka­ner bei Mon­terrey (August 1846) und Bue­na Vista (Febru­ar 1847). Mexi­ko muss­te kapi­tu­lie­ren. Nach dem »Frie­dens­ver­trag« akzep­tier­te es gegen die Zah­lung von 15 Mil­lio­nen Dol­lar (heu­te etwa 434 Mil­li­on) und die Strei­chung mexi­ka­ni­scher Schul­den bei den Nord­ame­ri­ka­nern den Rio Gran­de als Gren­ze und trat damit ein 1,36 Mil­lio­nen Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ßes Gebiet ab, das ab nun die heu­ti­gen US-Bun­des­staa­ten Ari­zo­na, Neva­da, Kali­for­ni­en, New Mexi­ko, Utah sowie einen Teil Wyo­mings umfasst. Mexi­kos Ter­ri­to­ri­um ver­rin­ger­te sich damit nahe­zu um die Hälf­te. Nach die­ser »klei­nen Bedin­gung« ver­schlug es dem sonst so wort­ge­wal­ti­gen US-Prä­si­den­ten im ersten Moment die Spra­che. Dann erklär­te er, er lie­be zwar Deals, aber für den Bau der Mau­er 1,36 Mil­lio­nen Qua­drat­ki­lo­me­ter des Ter­ri­to­ri­ums von God’s Own Coun­try abzu­ge­ben, sei der unver­schäm­teste Deal, der ihm jemals unter­brei­tet wor­den sei. Mit den Wor­ten »Ame­ri­ca first« und »you, boy, go to hell« been­de­te er das Tref­fen und warf den Staats­gast hin­aus. Noch vor Son­nen­auf­gang ver­ließ López Obra­dor die Ver­ei­nig­ten Staaten.

An die­ser Stel­le muss ich das geste­hen, was der Ossietzky-Leser längst erkannt hat: Das geschil­der­te Tref­fen ent­sprang mei­ner Phan­ta­sie, es war ein Hirngespinst!

Vor kur­zem, das exak­te Datum ist bis­her nicht bekannt, fand im abhör­si­che­ren, mit dunk­lem Holz ver­tä­fel­ten Arbeits­zim­mer des rus­si­schen Prä­si­den­ten eine Bera­tung zwi­schen Wla­di­mir Putin, Außen­mi­ni­ster Ser­gej Law­row und Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Ser­gej Schoi­gu statt. Gegen­stand waren die Bezie­hun­gen zwi­schen der rus­si­schen Föde­ra­ti­on und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka. Die Bera­tungs­teil­neh­mer zeig­ten sich genervt ange­sichts der russ­land­feind­li­chen Poli­tik Washing­tons, des per­ma­nen­ten Vor­drin­gens der NATO an die Gren­zen Russ­lands, der Kün­di­gung des INF-Ver­tra­ges und der Fort­dau­er bös­wil­li­ger Wirt­schafts­sank­tio­nen. »Aber«, so frag­te Putin, »was kön­nen wir tun? Unse­re Ant­wort muss schmerz­haft, unkon­ven­tio­nell und über­ra­schend sein.« Nach lan­ger Dis­kus­si­on unter­brei­te­te Schoi­gu den Vor­schlag, von den USA die Rück­ga­be Alas­kas zu for­dern. Argu­men­te gebe es zur Genüge.

Der selbst­herr­li­che Zar Alex­an­der II. hat­te 1867 sei­nen Bot­schaf­ter in Washing­ton, Edu­ard von Stoeckl, beauf­tragt, den USA den Kauf des zum rus­si­schen Staats­ter­ri­to­ri­um gehö­ren­den Alas­ka anzu­bie­ten. Haupt­mo­tiv war die Tat­sa­che, dass die rus­si­sche Staats­kas­se nach dem ver­lo­re­nen Krim­krieg leer war. Washing­ton zeig­te sich ange­nehm über­rascht, und am 30. März 1867 unter­zeich­ne­ten der rus­si­sche Bot­schaf­ter und der US-Außen­mi­ni­ster Wil­liam H. Seward den Ver­kaufs­ver­trag. Russ­land erhielt für Alas­ka den Spott­preis von 7,2 Mil­lio­nen Dol­lar (heu­te etwa 120 Mil­lio­nen Dol­lar). Die USA hat­ten die finan­zi­el­le Not­la­ge des Zaren­rei­ches aus­ge­nutzt und es nach allen Regeln der Kunst übers Ohr gehau­en. Pro Qua­drat­ki­lo­me­ter bezahl­ten sie sage und schrei­be 4,74 Dol­lar. Das war kein ehr­li­cher Preis, son­dern nach heu­ti­gen Maß­stä­ben ein betrü­ge­ri­scher Schand­preis. Umso mehr, wenn man die stra­te­gi­sche Bedeu­tung Alas­kas, sei­ne Reich­tü­mer an wert­vol­len Roh­stof­fen, dar­un­ter an Gold und Erd­öl, berück­sich­tigt. So kamen denn die drei Spit­zen­po­li­ti­ker im Kreml über­ein, den Schwin­del­ver­trag nach­träg­lich zu kün­di­gen und die Rück­ga­be Alas­kas an die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on zu for­dern. Als der rus­si­sche Bot­schaf­ter in Washing­ton, Ana­to­li Anto­now, im Auf­trag sei­ner Regie­rung dem US-Außen­mi­ni­ster Mike Pom­peo die offi­zi­el­le For­de­rung nach Rück­ga­be Alas­kas vor­trug, infor­mier­te die­ser umge­hend sei­nen Prä­si­den­ten, der Schnapp­at­mung bekam und wut­schnau­bend aus­rief: »Nie und nim­mer wird das gesche­hen, jeden­falls nicht, solan­ge ich Trump hei­ße. Noch immer gilt: Ame­ri­ca first!« Doch Mos­kau hält an sei­ner For­de­rung fest, die Aus­ein­an­der­set­zung um Alas­ka ist noch lan­ge nicht beendet.

Auch hier gilt: Das Gesche­hen ist ein Pro­dukt mei­ner Phan­ta­sie. Es ist ein Hirngespinst.

Aber etwa zur glei­chen Zeit geschah etwas eben­so Selt­sa­mes. In eini­gen Sek­to­ren der neu­en, über eine Mil­li­ar­de Euro teu­ren Zen­tra­le der North Atlan­tic Trea­ty Orga­nizati­on (NATO) im Nord­osten der bel­gi­schen Haupt­stadt, im Brüs­se­ler Vor­ort Evere, herrsch­te kürz­lich ein eif­ri­ges Trei­ben. Ein bedeu­ten­der Jah­res­tag stand bevor und der Frie­dens­pakt muss­te ihn mit einer gemein­sa­men Erklä­rung aller 29 Mit­glieds­staa­ten wür­di­gen. Nach­dem der Gene­ral­se­kre­tär Jens Stol­ten­berg einen Ent­wurf abge­seg­net hat­te, muss­te der Text in einem Umlauf­ver­fah­ren von allen NATO-Staa­ten gebil­ligt wer­den. Dank gemein­sa­mer Anstren­gun­gen gelang das, und Mit­te März 2019 wur­de er ver­öf­fent­licht. Die Erklä­rung galt einem bedeut­sa­men Ereig­nis, bei dem kein ein­zi­ger Schuss fiel: dem 5. Jah­res­tag der Wie­der­ein­glie­de­rung der Krim in die rus­si­sche Föde­ra­ti­on. An der Abfas­sung des Tex­tes waren vie­le Hir­ne betei­ligt, her­aus­ge­kom­men ist ein hirn­ris­si­ges Papier. In der »Erklä­rung« for­dert die NATO Russ­land auf, die Krim an die Ukrai­ne zurück­zu­ge­ben und die Auf­rü­stung in der Regi­on am Schwar­zen Meer zu stop­pen. Fest­ge­stellt wird, dass Mos­kau erst bei einem poli­ti­schen Kurs­wech­sel auf eine Nor­ma­li­sie­rung der Bezie­hun­gen hof­fen kön­ne. Die NATO wer­de die »ille­ga­le und ille­gi­ti­me Anne­xi­on« der ukrai­ni­schen Schwarz­meer-Halb­in­sel nicht akzep­tie­ren. Solan­ge Russ­land nicht wie­der das Völ­ker­recht ein­hal­te, wer­de es kei­ne Rück­kehr zum »busi­ness as usu­al« geben. Gut gebrüllt, Löwe!

Neh­men denn die NATO und ihre Mit­glieds­staa­ten tat­säch­lich an, dass die über­gro­ße Mehr­heit der Krim­be­woh­ner ihre nach dem rech­ten, von der NATO mas­siv unter­stütz­ten Staats­streich in Kiew getrof­fe­ne Ent­schei­dung zur Sezes­si­on und zur Rück­kehr in das föde­ra­le rus­si­sche Reich rück­gän­gig macht? Erwar­tet die NATO tat­säch­lich ernst­haft, dass Russ­land, dem die Halb­in­sel von 1783 bis zum admi­ni­stra­ti­ven Will­kür­akt Chruscht­schows im Jah­re 1954 ange­hör­te, die Krim an das maro­de, russ­land­feind­li­che Regime in Kiew zurück­gibt? Hofft die NATO tat­säch­lich, dass Mos­kau es zulässt, dass das ukrai­ni­sche Mili­tär, wie es sei­ner­zeit der Ex-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Wale­ri Gele­tej so rea­li­täts­nah fest­stell­te, die Sie­ges­pa­ra­de in Sewas­to­pol abhal­ten wird? Glau­ben die NATO-Gran­den, Mos­kau las­se es zu, dass sein stra­te­gisch so bedeut­sa­mer, im blu­ti­gem Kampf gegen die Hit­ler­wehr­macht wie­der befrei­ter Mari­ne-Stütz­punkt in Sewas­to­pol letz­ten Endes in die Fän­ge der NATO gerät, dort deren Flag­ge gehisst wird und die Gefah­ren für Russ­lands Sicher­heit enorm wach­sen? Die fried­lie­ben­de NATO kann die Rück­ga­be der Krim an die Ukrai­ne dut­zen­de Male ver­lan­gen, gesche­hen wird das nie­mals. Eine Poli­tik, die unum­stöß­li­che Rea­li­tä­ten nicht aner­kennt, ist nicht nur dreist, sie ist aben­teu­er­lich und will die gegen­wär­ti­gen gefähr­li­chen Span­nun­gen bis in alle Ewig­keit auf­recht­erhal­ten. Die NATO-For­de­rung nach Wie­der­ein­ver­lei­bung der Krim in die Ukrai­ne ist so wenig rea­li­stisch wie ein Ver­lan­gen Mexi­kos nach Rück­ga­be der 1,36 Mil­lio­nen Qua­drat­ki­lo­me­ter oder der Wunsch Mos­kaus nach Rück­kauf Alas­kas. Die zwei letz­te­ren Ideen waren, ich geste­he es noch ein­mal, mei­ne Hirn­ge­spin­ste. Die ste­reo­ty­pe For­de­rung der NATO nach Rück­ga­be der Krim ist auch ein Hirn­ge­spinst, ein tat­säch­li­ches, zwar ein dum­mes, aber lei­der auch ein höchst gefährliches.