Das Bundeskriminalamt stellt seinen aktuellen »Lagebildern Wirtschaftskriminalität« diesen Satz voraus: »Die durch die Wirtschaftskriminalität verursachten Schäden belaufen sich auf über 50 Prozent des Gesamtschadensvolumens aller in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten.« Mit anderen Worten: der von den sogenannten »Weiße-Kragen-Tätern« angerichtete Schaden ist größer als alles, was arme Betrüger, Diebe, Einbrecher, Erpresser und Räuber zusammen anrichten. Dennoch wird »arm« viel eher mit Kriminalität verbunden als »reich«.
Im 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird der Bevölkerungsanteil, der über ein Einkommen von weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt, als relativ arm bezeichnet oder sogar nur als armutsgefährdet, nämlich 15 bis 16 Prozent der Bevölkerung mit leicht steigender Tendenz. »Überdurchschnittliche Armutsrisikoquoten hatten junge Erwachsene, Alleinlebende, Alleinerziehende, Arbeitslose, Personen mit geringer Bildung und Personen mit Migrationshintergrund.«
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) begrüßt, dass in dem Bericht »auf das Unterkunftsproblem straffällig gewordener Menschen« hingewiesen wird: »Ohne gesicherten Wohnraum kann eine Wiedereingliederung nicht gelingen. In Zeiten angespannter Wohnungsmärkte haben es Haftentlassene besonders schwer, eine Wohnung zu finden. Umso wichtiger ist es, bestehenden Wohnraum während einer kurzen Inhaftierung zu erhalten und den Zugang zu Wohnraum nach langer Haft zu erleichtern.« Deutlich kritisiert wird von der BAG-S, dass straffällig gewordene Menschen im Armuts- und Reichtumsbericht in allen anderen Bereichen – wie Arbeit, Bildung, Gesundheit und gesellschaftliche oder politische Teilhabe – nicht extra erwähnt werden. Und die BAG-S weist wie schon oft darauf hin, dass Arbeit in der Haft nach wie vor keine Berücksichtigung in der Rentenversicherung findet, dass also für diese Arbeit keine Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt werden: »Die Zeit der Strafhaft ist eine in vollem Umfang rentenversicherungslose Zeit.«
Die Frage, warum und unter welchen sozialen Bedingungen Menschen straffällig oder erneut straffällig werden, ist kein Thema für die staatlichen Datensammler. Jeweils zum Stichtag 31. März veröffentlich das Statistische Bundesamt zwar Statistiken zu den demographischen und kriminologischen Merkmalen der Strafgefangenen: Alter, Geschlecht, Art des Vollzugs, Dauer der Freiheitsstrafe, Wohnsitz, Staatsangehörigkeit, Familienstand und Vorstrafe. Doch ob sie bei der Verhaftung Arbeit hatten, wie viel sie verdient haben, ob sie von Hartz IV lebten, ob sie verschuldet waren, welchen Bildungsabschluss und welche Berufsausbildung sie hatten, wird ebenso wenig mitgeteilt, wie Daten zu Krankheiten und Sucht.
Kleine Untersuchungen aus einzelnen Strafanstalten oder Regionen, so Norbert Pütter 2019 in der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP, »zeigen aber übereinstimmend, dass die Strafgefangenen überdurchschnittlich Merkmale sozialer Randständigkeit aufweisen: ohne Schulabschluss (je nach Studien zwischen 13 und 32 Prozent) oder mit Hauptschulabschluss (zwischen 37 und 47 Prozent), keine Berufsausbildung (zwischen 49 und 61 Prozent), ALG-II-Bezug (zwischen 44 und 50 Prozent)«.
Auch die Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Wohnsitz belegen deutlich die »soziale Randständigkeit«: Danach waren (am 31. März 2020) von den 46.054 inhaftieren Gefangenen 6.187 ohne festen Wohnsitz, das sind 13 Prozent aller Inhaftierten. Da die Zahl der im Armuts- und Reichtumsbericht geschätzten Wohnungslosen deutlich unter einem Prozent der Bevölkerung liegt, sind die Wohnungslosen im Strafvollzug mehr als 13fach überrepräsentiert.
In ihrer Dissertation »Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit« hat sich Marion Müller mit der Kriminalisierung der Wohnungslosen auseinandergesetzt: »Ein einseitiger, stigmatisierender Blickwinkel à la Wohnungslose trinken, betteln und klauen, ist nicht haltbar. Genauso wenig sollte man sich allerdings dazu verleiten lassen, ausschließlich einen mitleidigen Blickwinkel anzusetzen. Beide Sichtweisen versperren die Sicht auf wohnungslose Menschen als die individuellen Personen, die sie sind: weder Täter noch Opfer ihrer Situation, aber umrahmt von extremen Bedingungen, die ihren Handlungsentwürfen und -möglichkeiten entgegenstehen können.«
Ihre Folgerung: »Würden sich die Verantwortlichen hinsichtlich der Sanktionierung von straffällig gewordenen Wohnungslosen etwas mehr mit der Lebenswelt Wohnungslosigkeit beschäftigen, käme es zu weniger absurden Urteilen gerade hinsichtlich Bagatelldelikten im Wiederholungsfall. Die zum Teil völlig verfehlten, unverhältnismäßig harten und vor allem sinnlosen strafrechtlichen Konsequenzen könnten in vielen Fällen umgewandelt werden in adäquate, sinnvollere Alternativsanktionen.«
Nicht ganz so drastisch aber auch deutlich überrepräsentiert im Strafvollzug sind Ausländer. Von den 83.019.213 Einwohnern in der Bundesrepublik waren 2018 genau 10.089.292 ohne deutschen Pass, das waren 12,2 Prozent der Bevölkerung. Das Statistische Bundesamt meldete am 31.März 2020 15.641 inhaftierte Ausländer. Das waren 34 Prozent aller Gefangenen.
Die Delikte von »nichtdeutschen Tatverdächtigen« werden von der Polizeilichen Kriminalstatistik ohne jeden Bezug zu ihrer sozialen Lage aufgelistet, ebenso wie die Kategorie »Ausländer« in der Strafvollzugsstatistik. Dabei sind die »nichtdeutschen Tatverdächtigen« in der Regel mindestens genauso arm und schlecht gebildet wie ihre Mitgefangenen mit deutschen Pass und zusätzlich ausgestattet mit unterschiedlichen Varianten eines schwachen Aufenthaltsstatus – soweit sie überhaupt einen haben. Was sie noch verwundbarer macht. Ein nicht unerheblicher Teil der Straftaten von »Ausländern« sind Verstöße gegen das Ausländerrecht, also Delikte, die nur Migranten begehen können.
Die Kriminalisierung von Armen wird ebenfalls am Beispiel der Ersatzfreiheitsstrafen deutlich, nachzulesen in einem aktuellen Aufsatz aus dem Kölner Institut für Kriminologie: Im Jahr 2019 kam es in der Bundesrepublik zu 669.784 Verurteilungen nach dem Allgemeinen Strafrecht. 567.243 der Urteile waren Geldstrafen – rund 85 Prozent. Der Rest waren Freiheitsstrafen mit und ohne Bewährung. Menschen, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen, müssen die Strafe absitzen, erhalten also eine Ersatzfreiheitsstrafe. Im Jahr 2019 zum Beispiel betraf das 32.500 Personen. In ihrer für NRW verfassten Studie »Kriminalität der Armen – Kriminalisierung von Armut?« stellen Frank Neubacher und Nicole Bögelein für das Jahr 2017 fest: 77 Prozent der »Ersatzfreiheitsstrafler« waren vor Haftantritt arbeitslos, 72 Prozent waren wohnungslos, 60 Prozent hatten keinen Beruf erlernt, 10 Prozent von ihnen hatten Schulden über 20.000 Euro: »Das Strafrecht und die Strafvollstreckung sollten nicht jene Menschen besonders hart treffen, die bereits benachteiligt sind.«
Warum an der Ersatzfreiheitsstrafe festgehalten wird, obwohl der angerichtete Schaden durch die häufigen Armutsdelikte »Schwarzfahren« und Warenhausdiebstahl in keinem Verhältnis zu den hohen Kosten der Gefängnisunterbringung steht, hat Frank Wilde in seinem Beitrag »Das Gefängnis als Armenhaus« in der Zeitschrift WestEnd 2/2017 erklärt: »Die Interessenverbände der Verkehrsbetriebe und des Einzelhandels befürworten eine abschreckende Strafe. Da Bußgelder oder Hausverweise bei der Personengruppe wenig wirksam sind, drängen sie öffentlichkeitswirksam darauf, dass die Delikte weiter als Kriminalstrafen und damit letztendlich als Freiheitsstrafe verfolgt werden.« Vielleicht könnte die Macht dieser Lobbyverbände dadurch gebrochen werden, dass in den Medien daran erinnert wird, dass »Schwarzfahren« und Warenhausdiebstahl zwar oft verständliche Armutsfolgen sind, aber auch deshalb Massendelikte werden konnten, weil in den Straßen- und U-Bahnen die Schaffner abgeschafft wurden und in den Warenhäusern immer weniger Verkäuferinnen für immer mehr Selbstbedienungsflächen zuständig wurden.
Besonders niederschmetternd im Zahlenwerk des Statistischen Bundesamtes sind die Angaben zu den Vorstrafen. Von den 46.054 Strafgefangenen waren am 31.März 2020 31.372 vorbestraft. Und die wenigsten nur einmal: Jeder Dritte von ihnen, das waren 10.042 Menschen, war fünf- bis zehnmal vorbestraft. Weitere 4.478 waren elf- bis zwanzigmal vorbestraft und 764 mehr als einundzwanzigmal.
In der vom Frankfurter Institut für Sozialforschung herausgegebenen Zeitschrift WestEnd (Ausgabe 2017/2) findet sich unter dem Stichwort »Gefängnis und Armut« folgender Kommentar: »Den Zusammenhang von Armut und Gefängnis herauszustellen, bedeutet dann, das Gefängnis als einen gesellschaftlichen Ort von sozial segregierenden und differenzierenden Dynamiken und Prozessen zu begreifen, der nicht Lösung, Antwort oder Reaktion auf Kriminalität, sondern den vielleicht zentralen Mechanismus ihrer Reproduktion darstellt.«
Und in ihrem Aufsatz »Weshalb Arme so leicht kriminell werden müssen« hat die Kriminologin Helga Cremer-Schäfer die Gründe für die Kriminalisierung der Armut auf den Punkt gebracht: »Das Strafgesetz missbilligt in seinen wichtigsten Teilen (und ›Delikten‹) die Handlungsstrategien und Mittel, auf die junge, mittellose undisziplinierte (…) Männer zurückgreifen, wenn sie Konflikte oder Ausschließungssituationen bearbeiten und dabei auch noch Männlichkeit darstellen: Wer die Verbindung von Lohnarbeit und Konsum ignoriert, wer – ohne Eigentum, Beziehungen oder geschickter Nutzung von Netzwerken – als letztes Machtmittel Gewalttätigkeiten benutzt, wer sich dabei opportunistisch und willkürlich gegen andere mittel- oder wehrlose Personen wendet oder gegen besonders machtvolle, der gibt bessere ›Gelegenheiten für Anzeigen‹ als andere. Es ist ziemlich aus der Mode gekommen, die ›Anwendungsregeln‹ für Strafgesetze zu untersuchen.«