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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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High without drugs

Fährt man über die Ber­li­ner Schil­ling­brücke Rich­tung Kreuz­berg, steu­ert man schein­bar direkt auf die wuch­ti­ge St.-Thomaskirche zu. Erst jen­seits der Spree macht der Engel­damm einen Bogen nach rechts und lässt das Got­tes­haus links lie­gen. Einst war es das Zen­trum einer der sei­ner­zeit größ­ten evan­ge­li­schen Kirch­ge­mein­den der Welt: Sie zähl­te vor etwa 150 Jah­ren rund 150.000 Schäfchen.

Als die Spree Staats­gren­ze war, stand die Mau­er am jen­sei­ti­gen Ufer. Im Nie­mands­land zwi­schen Mau­er und Kir­che hat­te ein Tür­ke in den frü­hen acht­zi­ger Jah­ren 350 Qua­drat­me­ter besie­delt. Osman Kalin, der 1963 mit Frau und sechs Kin­dern Ana­to­li­en ver­las­sen hat­te und spä­ter in West­ber­lin stran­de­te, hat­te die Lage rasch durch­schaut. Die DDR konn­te damit nichts anfan­gen: die Bra­che lag vor der Mau­er. Die West­ber­li­ner Behör­den hat­ten aller­dings auch kei­nen Zutritt, es war Ost­ge­biet. Die Deut­schen besetz­ten in West­ber­lin Häu­ser, er besetz­te also das Land. So räum­te denn Kalin den Schutt bei­sei­te, bestell­te den Acker, pflanz­te Obst­bäu­me und errich­te­te eine zwei­ge­schos­si­ge Holz­hüt­te, in die er mit sei­ner Fami­lie einzog.

Gele­gent­lich bekam er Besuch aus der DDR. Bei der ersten Visi­te hat­ten die Gren­zer ihn amt­lich gefragt, was er da mache, das Land gehö­re der DDR. Er lebe schon eini­ge Zeit hier, ant­wor­te­te der Tür­ke, das Land gehö­re denen, die es bebau­en, also ihm. Zwei Wochen spä­ter kamen die Gren­zer wie­der durch ihr Tür­chen in der Mau­er und sag­ten: In Ord­nung. Bestell dei­nen Gar­ten, aber bit­te kei­ne Ran­ke­pflan­zen an der Mau­er! Und Weih­nach­ten brach­ten fort­an die Ver­tre­ter des DDR-Grenz­re­gi­ments 33 »Hein­rich Dor­ren­bach« Wein und Gebäck. Das fand Osman Kalin sehr nett. Fried­li­che Koexi­stenz eben.

Nach dem Fall der Gren­ze kamen die Ber­li­ner Behör­den und okku­pier­ten Kalins Gar­ten. Als der sich wei­ger­te, das Feld zu räu­men, ging 1991 das Holz­haus in Flam­men auf. Trot­zig wur­de es wie­der auf­ge­baut, denn inzwi­schen war es zum »Denk­mal des Kal­ten Krie­ges« mutiert. Die »ille­ga­le Son­der­nut­zung«, wie das Gar­ten­an­we­sen fort­an amt­lich titu­liert wur­de, stand näm­lich als »Baum­haus an der Mau­er« in Ber­li­ner Rei­se­füh­rern. 2018 starb Kalin, fort­an bewirt­schaf­te­te einer sei­ner Söh­ne das Anwe­sen. Das Holz­haus, von kei­ner Bau­auf­sicht geneh­migt (ver­mut­lich aus Grün­den der Sta­tik wäre es auch nie geneh­migt wor­den), hat dem Ver­neh­men nach selbst im Ober­ge­schoss die sech­zehn Enkel­kin­der von Osman und Hati­ce Kalin und deren Eltern getra­gen. Zumin­dest zeitweise …

Dar­an erin­nert sich unser­ei­ner, fährt er über die Schil­ling­brücke in den Westen, der hier im Süden liegt. Und der Blick fällt nicht nur auf die Kir­che und den Gar­ten, son­dern auch auf die glat­te Außen­mau­er eines Miets­hau­ses, das der Krieg ver­schon­te. Dort steht schon gerau­me Zeit in kra­ke­li­gen Let­tern: HIGH WITHOUT DRUGS. Ich weiß nicht, ob dies als Appell an die Jun­kies im Kiez gedacht war oder als Kri­tik am Kif­fer­ge­setz. Aller­dings: Wer mit Far­be und Pin­sel so hoch­steigt, kann dabei nicht ganz nüch­tern gewe­sen sein.

Die Bot­schaft jedoch fin­de ich berau­schend, weil sie uni­ver­sell ist. Man benö­tigt heut­zu­ta­ge wahr­lich kei­ne tra­di­tio­nel­len Dro­gen mehr, um den Ver­stand zu ver­lie­ren. Der regel­mä­ßi­ge Genuss von Nach­rich­ten­sen­dun­gen und Talk­shows, die Lek­tü­re von elek­tro­ni­schen und Print­me­di­en erzeugt adäqua­te Wir­kun­gen. Die Ein­nah­me der von Sen­dern, Redak­tio­nen und Blog­gern ver­brei­te­ten Bot­schaf­ten ver­ne­belt die Sin­ne und ver­ab­schie­det die Vernunft.

Nein, das ist kei­ne Anspie­lung auf die Tat­sa­che, dass rech­te Par­tei­en euro­pa­weit auf dem Vor­marsch sind. Es ist näm­lich ein Irr­tum zu mei­nen, dass das Wahl­volk irre gewor­den sei, als Stimm­vieh ver­blö­det im Sin­ne von »Nur die aller­dümm­sten Käl­ber wähl’n sich ihre Metz­ger sel­ber«. Das Wahl­volk, zumin­dest ein beacht­li­cher Teil davon, wählt bewusst jene Par­tei­en nicht, die kol­lek­tiv den Kar­ren gegen die Wand fahren.

Natür­lich ist der Ein­wand berech­tigt, dass jene, die ver­meint­lich alter­na­tiv wäh­len, eben genau dies nicht tun. Denn die rech­ten Orga­ni­sa­tio­nen sind ihrer DNA nach bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ve Par­tei­en, die das kapi­ta­li­sti­sche System nicht infra­ge stel­len, selbst wenn sie dies dem­ago­gisch behaup­ten. Wie eben auch Par­tei­en, die sich links nen­nen, dies nicht tun. Sie alle sind, um mit der Bibel zu spre­chen, Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Flei­sche. Und dar­um drän­gen sie an die Macht, an die Fleisch­töp­fe, die die tat­säch­lich Mäch­ti­gen bereit­stel­len. Die Zahl der Plät­ze dort ist end­lich, wes­halb jene, die einen Platz erobert haben, ihn auch ungern frei­wil­lig wie­der räu­men. Es muss nicht immer Alters­starr­sinn und ein­ge­schränk­te Mobi­li­tät sein.

Wie die – ein­gangs erwähn­te – einst größ­te evan­ge­li­sche Gemein­de ste­tig schrumpf­te, so ero­diert auch die Basis der eta­blier­ten Par­tei­en. Den soge­nann­ten poli­ti­schen Eli­ten fällt es dar­um immer schwe­rer, Mehr­hei­ten zu sichern, die ihnen die Vor­mund­schaft garan­tiert. Sie sichern die­se nicht mit Glaub­wür­dig­keit (denn die haben sie schon lan­ge ver­lo­ren: sonst wür­de sich das Wahl­volk nicht von ihnen abwen­den), son­dern mit Arith­me­tik. Und beschleu­ni­gen damit den Ver­trau­ens­ver­lust noch mehr. Es ist wie mit dem Kli­ma­wan­del: Ist der Point of no return über­schrit­ten, gerät alles außer Kon­trol­le, weil die ver­schie­de­nen Pro­zes­se sich wech­sel­sei­tig verstärken.

Haben wir in der Poli­tik – glo­bal wie natio­nal – die­sen Point of no return bereits erreicht oder gar schon über­schrit­ten? Die Opti­mi­sten behaup­ten, es sei fünf Minu­ten vor Ulti­mo, die Pes­si­mi­sten mei­nen, wir sei­en schon längst drü­ber. Die einen glau­ben noch an die Ret­tung, die ande­ren geben die Welt bereits ver­lo­ren. Poli­tisch kon­no­tiert ist das alles nicht. Es gibt augen­schein­lich kein Koor­di­na­ten­sy­stem mehr, an wel­chem man sich ori­en­tie­ren könn­te, es exi­stie­ren kei­ne kla­ren poli­ti­schen Pro­gram­me mit Zie­len, prag­ma­ti­schen wie visio­nä­ren. Es wabern nur Sprech­bla­sen und Ver­hei­ßun­gen, die an ein­zel­ne Per­so­nen gebun­den sind. Die Fleisch­wer­dung eines Heils­ver­spre­chens, die Inkar­na­ti­on eines moder­nen Mes­si­as … Gott­lob ist das Ange­bot aktu­ell überschaubar.

Wem der Kom­pass abhan­den­ge­kom­men ist, irrt kopf­los durch die Gegen­wart. Wir sind wirk­lich »high wit­hout drugs«. Ich den­ke, wir soll­ten end­lich auf Ent­zug gehen und die Eigen­tums­fra­ge stellen.

 

Ausgabe 15.16/2024