Fährt man über die Berliner Schillingbrücke Richtung Kreuzberg, steuert man scheinbar direkt auf die wuchtige St.-Thomaskirche zu. Erst jenseits der Spree macht der Engeldamm einen Bogen nach rechts und lässt das Gotteshaus links liegen. Einst war es das Zentrum einer der seinerzeit größten evangelischen Kirchgemeinden der Welt: Sie zählte vor etwa 150 Jahren rund 150.000 Schäfchen.
Als die Spree Staatsgrenze war, stand die Mauer am jenseitigen Ufer. Im Niemandsland zwischen Mauer und Kirche hatte ein Türke in den frühen achtziger Jahren 350 Quadratmeter besiedelt. Osman Kalin, der 1963 mit Frau und sechs Kindern Anatolien verlassen hatte und später in Westberlin strandete, hatte die Lage rasch durchschaut. Die DDR konnte damit nichts anfangen: die Brache lag vor der Mauer. Die Westberliner Behörden hatten allerdings auch keinen Zutritt, es war Ostgebiet. Die Deutschen besetzten in Westberlin Häuser, er besetzte also das Land. So räumte denn Kalin den Schutt beiseite, bestellte den Acker, pflanzte Obstbäume und errichtete eine zweigeschossige Holzhütte, in die er mit seiner Familie einzog.
Gelegentlich bekam er Besuch aus der DDR. Bei der ersten Visite hatten die Grenzer ihn amtlich gefragt, was er da mache, das Land gehöre der DDR. Er lebe schon einige Zeit hier, antwortete der Türke, das Land gehöre denen, die es bebauen, also ihm. Zwei Wochen später kamen die Grenzer wieder durch ihr Türchen in der Mauer und sagten: In Ordnung. Bestell deinen Garten, aber bitte keine Rankepflanzen an der Mauer! Und Weihnachten brachten fortan die Vertreter des DDR-Grenzregiments 33 »Heinrich Dorrenbach« Wein und Gebäck. Das fand Osman Kalin sehr nett. Friedliche Koexistenz eben.
Nach dem Fall der Grenze kamen die Berliner Behörden und okkupierten Kalins Garten. Als der sich weigerte, das Feld zu räumen, ging 1991 das Holzhaus in Flammen auf. Trotzig wurde es wieder aufgebaut, denn inzwischen war es zum »Denkmal des Kalten Krieges« mutiert. Die »illegale Sondernutzung«, wie das Gartenanwesen fortan amtlich tituliert wurde, stand nämlich als »Baumhaus an der Mauer« in Berliner Reiseführern. 2018 starb Kalin, fortan bewirtschaftete einer seiner Söhne das Anwesen. Das Holzhaus, von keiner Bauaufsicht genehmigt (vermutlich aus Gründen der Statik wäre es auch nie genehmigt worden), hat dem Vernehmen nach selbst im Obergeschoss die sechzehn Enkelkinder von Osman und Hatice Kalin und deren Eltern getragen. Zumindest zeitweise …
Daran erinnert sich unsereiner, fährt er über die Schillingbrücke in den Westen, der hier im Süden liegt. Und der Blick fällt nicht nur auf die Kirche und den Garten, sondern auch auf die glatte Außenmauer eines Mietshauses, das der Krieg verschonte. Dort steht schon geraume Zeit in krakeligen Lettern: HIGH WITHOUT DRUGS. Ich weiß nicht, ob dies als Appell an die Junkies im Kiez gedacht war oder als Kritik am Kiffergesetz. Allerdings: Wer mit Farbe und Pinsel so hochsteigt, kann dabei nicht ganz nüchtern gewesen sein.
Die Botschaft jedoch finde ich berauschend, weil sie universell ist. Man benötigt heutzutage wahrlich keine traditionellen Drogen mehr, um den Verstand zu verlieren. Der regelmäßige Genuss von Nachrichtensendungen und Talkshows, die Lektüre von elektronischen und Printmedien erzeugt adäquate Wirkungen. Die Einnahme der von Sendern, Redaktionen und Bloggern verbreiteten Botschaften vernebelt die Sinne und verabschiedet die Vernunft.
Nein, das ist keine Anspielung auf die Tatsache, dass rechte Parteien europaweit auf dem Vormarsch sind. Es ist nämlich ein Irrtum zu meinen, dass das Wahlvolk irre geworden sei, als Stimmvieh verblödet im Sinne von »Nur die allerdümmsten Kälber wähl’n sich ihre Metzger selber«. Das Wahlvolk, zumindest ein beachtlicher Teil davon, wählt bewusst jene Parteien nicht, die kollektiv den Karren gegen die Wand fahren.
Natürlich ist der Einwand berechtigt, dass jene, die vermeintlich alternativ wählen, eben genau dies nicht tun. Denn die rechten Organisationen sind ihrer DNA nach bürgerlich-konservative Parteien, die das kapitalistische System nicht infrage stellen, selbst wenn sie dies demagogisch behaupten. Wie eben auch Parteien, die sich links nennen, dies nicht tun. Sie alle sind, um mit der Bibel zu sprechen, Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Fleische. Und darum drängen sie an die Macht, an die Fleischtöpfe, die die tatsächlich Mächtigen bereitstellen. Die Zahl der Plätze dort ist endlich, weshalb jene, die einen Platz erobert haben, ihn auch ungern freiwillig wieder räumen. Es muss nicht immer Altersstarrsinn und eingeschränkte Mobilität sein.
Wie die – eingangs erwähnte – einst größte evangelische Gemeinde stetig schrumpfte, so erodiert auch die Basis der etablierten Parteien. Den sogenannten politischen Eliten fällt es darum immer schwerer, Mehrheiten zu sichern, die ihnen die Vormundschaft garantiert. Sie sichern diese nicht mit Glaubwürdigkeit (denn die haben sie schon lange verloren: sonst würde sich das Wahlvolk nicht von ihnen abwenden), sondern mit Arithmetik. Und beschleunigen damit den Vertrauensverlust noch mehr. Es ist wie mit dem Klimawandel: Ist der Point of no return überschritten, gerät alles außer Kontrolle, weil die verschiedenen Prozesse sich wechselseitig verstärken.
Haben wir in der Politik – global wie national – diesen Point of no return bereits erreicht oder gar schon überschritten? Die Optimisten behaupten, es sei fünf Minuten vor Ultimo, die Pessimisten meinen, wir seien schon längst drüber. Die einen glauben noch an die Rettung, die anderen geben die Welt bereits verloren. Politisch konnotiert ist das alles nicht. Es gibt augenscheinlich kein Koordinatensystem mehr, an welchem man sich orientieren könnte, es existieren keine klaren politischen Programme mit Zielen, pragmatischen wie visionären. Es wabern nur Sprechblasen und Verheißungen, die an einzelne Personen gebunden sind. Die Fleischwerdung eines Heilsversprechens, die Inkarnation eines modernen Messias … Gottlob ist das Angebot aktuell überschaubar.
Wem der Kompass abhandengekommen ist, irrt kopflos durch die Gegenwart. Wir sind wirklich »high without drugs«. Ich denke, wir sollten endlich auf Entzug gehen und die Eigentumsfrage stellen.