Wer sich über Ossietzky informieren möchte und dazu Wikipedia aufruft, findet unter der Rubrik »Haltung zur Republik« eine zwiespältige Einschätzung. Der Tenor ist, dass Ossietzky zum Untergang der Republik, einer parlamentarischen Demokratie, beigetragen habe. Zum Beleg wird aus seinen Artikeln zitiert. Es werden aber auch Zitate gebracht, die die Behauptung einschränken oder in Frage stellen. Ich möchte Klarheit in das verwirrende Hin und Her bringen. Ich sage nicht: »Ossietzky denkt so, aber auch wieder nicht so«, ich sage einfach: »Ossietzky denkt so. Er war nicht Totengräber, sondern Vorkämpfer.« Ich poche nicht auf Zustimmung, ich möchte eine Diskussion eröffnen, die bislang unterblieben ist.
Das Volk
»Die Staatsgewalt geht vom Volke aus«, heißt es im Artikel 1 der Verfassung der Weimarer Republik. Was war das für ein Volk, und wie nahm Ossietzky es wahr? Um das näher darzulegen, beginne ich mit einem längeren Zitat aus einem Artikel, den er schon im Kaiserreich anlässlich der sich damals mehrenden Kirchenaustritte schrieb:
»Die Kirchenherrscher haben als Erklärung für die Kirchenflucht eine seichte Formel gefunden: der Materialismus ist daran schuld; die zunehmende Vergnügungssucht des Volkes entfremdet es der Religion. Die Moralphilosophen und Wissenschaftler äußern sich ähnlich: das Niveau der breiten Masse sinke tiefer und tiefer; das Ringen um einen geistigen Lebensinhalt werde seltener und seltener. – Seien wir ehrlich. Auch wir Demokraten haben schon oft geseufzt, wenn unsere feurigsten Reden ungehört verhallten, wenn die Ergebnisse unserer Arbeit, an unserem Eifer und unseren Opfern gemessen, klein erschienen. Ohne Zweifel, eine gewisse Verflachung des äußeren Lebens und ein Mangel an Innenkultur macht sich überall bemerkbar. Sollen wir aber deswegen zu Bußpredigern werden? Gehen wir lieber den Ursachen nach! Jene Erscheinungen, die Übereifrige […] als Symptome des Verfalles ansprechen, sind in Wahrheit Folgeerscheinungen eines forcierten Kapitalismus. […] Die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen hört mehr und mehr auf. Der Kleinbürger von ehedem ist längst Arbeitnehmer geworden, hat seine Arbeitskraft verkauft. Für ihn ist das Dasein nicht viel mehr als eine Hetzjagd. […] Dazu tritt die Sorge um die Existenz. In die kargen Mußestunden drängt sich das Gespenst der Arbeitslosigkeit. […] Da sprechen die Neunmalweisen von einer ›Vergnügungs’sucht des Volkes. Eher könnte man von einer Betäubungssucht sprechen. Wie verständlich ist es, wenn die Menschen sich in den paar freien Stunden über das Eintönige ihres Daseins hinwegzutäuschen suchen. Wer daran etwas ändern will, der muß die Axt an die Wurzeln dieser ›gottgewollten‹ Ordnung legen. Da machen aber die Bußprediger nicht mehr mit.« [1] Ossietzky begegnet den Menschen nicht als Moralist. Er denkt nicht doktrinär, er sucht zu verstehen und sieht die Ursachen eines auch in seinen Augen anstößigen Verhaltens in den Verhältnissen. Überhaupt missfällt ihm der Blick von oben herab, vor allem selbstverständlich bei Demokraten. Theodor Heuß, in der Weimarer Republik Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Demokratische Partei, bezeichnete einmal von Pazifisten geäußerte Kritik an der Reichswehr als »subaltern«. Die Haltung, die sich in der Wortwahl zeigt, erregte Ossietzkys Zorn:
»Dieses Kaliber Demokraten kennt immer nur ganz, ganz hohe Gesichtspunkte. […] Das ist die Blaue Stunde des republikanischen Parlamentariers, wo er sich lässig auf die andre Seite träumt […] und wie aus Wolkenhöhen herabblickt auf Flachland, wo sich tief unten das kleine Kroppzeug abmüht, demokratisch, republikanisch, sozialistisch, ganz ohne Horizont und Niveau, und so gräßlich subaltern.« [2] In dem Flachland tief unten schrieb Ossietzky seine gar nicht subalternen Artikel. Nicht nur mit seinen Gedanken war er dort. Er lebte in beschränkten, materiell ungesicherten Verhältnissen.
1911 schloss sich Ossietzky der Demokratischen Vereinigung an, einer wenige Jahre zuvor gegründeten politischen Partei. Ihr Ziel war es, »das Bürgertum wieder in demokratische Bahnen zu lenken« und dabei mit der Sozialdemokratie, also der Partei der klassenbewussten Arbeiter, zusammenzugehen, die als »vaterlandslose Gesellen« diffamiert wurden. Anlass ihrer Gründung war der Protest gegen einen »Bürgerblock«, den liberale und konservative Parteien mit Stoßrichtung gegen die Sozialdemokraten eingingen. An sie richtete der Vorsitzende und später führende SPD-Politiker Rudolf Breitscheid die Worte:
»Wer das parlamentarische System anzustreben behauptet und dabei von einem Einvernehmen mit der Arbeiterschaft, die nun einmal zum größten Teil in der Sozialdemokratie organisiert ist, nichts wissen will, verdient ebenso wenig Glauben wie der, der sich als Anhänger des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ausgibt und gleichzeitig die Regierung und die Rechte seiner Unterstützung im Kampfe gegen die äußerste Linke versichert.« [3]
Für Ossietzky, der sich wie alle Mitglieder der Demokratischen Vereinigung als Bürger verstand, war ein »Bürgerblock« eine Horrorvorstellung, die bis in die Weimarer Republik nachwirkte. Er widersprach seinem Verständnis von Demokratie, wonach Bürger und Arbeiter den zwischen ihnen bestehenden Klassengegensatz aufheben und so einer demokratischen Verfassung die notwendige soziale Basis verschaffen: ein Volk, das zur Ausübung seiner Souveränität einen Gemeinwillen ausbildet. Die vereinzelten Wähler treffen ihre Entscheidung nicht allein nach ihrem materiellen Interesse.
Im Ersten Weltkrieg war Ossietzky Armierungssoldat an der Westfront. Was er erlebte, belastete ihn schwer. Schon deswegen begrüßte er den Ausbruch der Novemberrevolution, aber er nahm keinen aktiven Anteil an ihr. Er wurde Lektor in einem kleinen pazifistischen Verlag, der sich Pfadweiser-Verlag nannte, der Pfade weisen wollte, die vom Krieg weg zu neuen Ufern führen:
»Mitten im Grauen des Krieges haben wir neues Menschentum geahnt. Können wir es erklären? Nein, wir wissen nur eines: es war der Gegensatz zu unserm ganzen Tun und Treiben. Wir müssen den Menschen schaffen, der über keine Tradition mehr stolpert. Wir müssen den Menschen schaffen, dem kein Staat, keine Partei mehr befehlen darf: Du sollst töten! oder: Du sollst dich töten lassen! […] Wir müssen den autonomen Menschen schaffen, durch nichts gebunden als durch das Bewußtsein, daß Millionen sein Schicksal teilen.« [4] Die Mehrheit der Deutschen wollte nicht zu neuen Ufern aufbrechen. Der Fiktion einer »nationalen Identität« folgend, stolperte sie über Traditionen aus dem Kaiserreich, statt mit ihnen zu brechen. Mit seinem nationenübergreifenden und damit zukunftweisenden Denken hielt Ossietzky dagegen. Das zeigt sich in seiner Einstellung zum Versailler Friedensvertrag.
Deutschland wurde bekanntlich zu Reparationen verpflichtet, mit denen es die von ihm im Krieg angerichteten Schäden ersetzen sollte. Begründet wurde die Forderung damit, dass Deutschland den Krieg erklärt hatte. In einem emotional aufgeheizten Klima wurde die Kriegserklärung als Kriegsschuld diskutiert. Kurz vor Annahme des Vertrags schrieb Ossietzky:
»Wir stehen in diesen Tagen vor Entscheidungen schwerster Art. Wird das Schmachdokument von Versailles Grundlage unserer Zukunft werden? […] Ich fordere mit vielen andern Deutschen ein Bekenntnis zu unserm Schuldanteil. Auch in dieser Stunde. Gerade in dieser Stunde. Es muß ein großes Beispiel zeigen, wie ein Volk mit seiner Vergangenheit bricht. Wir wollen Bekenntnis. Nicht in reuiger Zerknirschung, nicht in Hundedemut. Nicht um den Imperialisten an der Seine, den Pfeffersäcken in der City zu gefallen. Wir wollen es als Anfang.« [5]
Das Wort »Schmachdokument« irritiert. Es stammt aus dem Sprachschatz »national« denkender Revanchisten. Aber Ossietzky macht gleich klar, dass er nicht andere Völker angreift. Statt Franzosen nennt er »Imperialisten an der Seine« und statt Engländer »Pfeffersäcke in der City«. Sein Wunsch nach Versöhnung der Völker, der nicht nur die Schuldfrage entgegenstand, wird in einer Resolution zum Versailler Vertrag deutlich, die er auf einer Generalversammlung der Deutschen Friedensgesellschaft einbrachte und die mit großer Mehrheit angenommen wurde:
»Die Deutsche Friedensgesellschaft weiß sich in der Verurteilung wesentlicher Bestandteile der Friedensschlüsse von 1919 eins mit den Pazifisten aller Länder. Eine Revision scheint ihr nicht mit leeren Protesten zu erreichen zu sein, sondern nur im Rahmen des Völkerbundes und in engster Zusammenarbeit mit den ausländischen Gesinnungsfreunden. Sie hält es für ihre Pflicht, über das Wesen des Völkerbundes aufzuklären und dafür zu kämpfen, daß die alte Politik der Hinterhältigkeit durch eine solche der Aufrichtigkeit ersetzt werde. Die Deutsche Friedensgesellschaft ist sich bewußt, daß nichts besser geeignet ist, das Ansehen Deutschlands wieder zu heben als ein unzweideutiger Sieg des pazifistischen Geistes.« [6]
Noch heute wird die Auffassung vertreten, der Versailler Vertrag habe die Deutschen in eine nationale Empörung getrieben, was zum Untergang der Republik beigetragen habe. Auch Ossietzky war ein Deutscher, auch er kritisierte den Vertrag, aber er geriet nicht in revanchistisches Fahrwasser. Doch richtig ist, dass nationales Selbstmitleid und Beleidigtsein in Deutschland fortwucherten. Sie hatten eine gesellschaftliche Funktion. Im November 1928, es regierte eine von der SPD geführte Große Koalition, schrieb Ossietzky:
»In Deutschland hat sich seit 1920 die Sprache seiner Politiker kaum verändert. Noch immer das alte Elendslied, die Verwünschung des Gewaltfriedens. Kein Politiker irgend einer Partei verschmäht, von der Verarmung und Verelendung zu sprechen, und zwar nicht von der durch die eignen Kapitalisten bewirkte, sondern von der Pauperisierung durch Versailles und Dawes, und niemand spricht mehr von der Inflation, diesem gigantischen Raubzug der Schwerindustrie durch die Ersparnisse der kleinen Leute. Es gibt kein Bankett mit Kapaun und Rotspon, wo nicht irgendein Schmerbauch feierlich versichert, daß wir nunmehr ein armes Volk sind. […] Wenn die herrschende Klasse über die Niederlage lamentiert und sich nicht beruhigen kann, weil es ihr versagt ist, Siegesmale zu errichten, so muß ihr gröblich klar gemacht werden, daß ihre schönen Häuser, ihre Vergnügungsstätten, die glanzvollen Fassaden ihrer Industriepaläste die Monumente eines viel beweiskräftigeren Sieges sind: des Sieges über das eigne Volk.« [7]
Zu Feindseligkeit und Revanchismus kam als weiteres destruktives Potential eine aus dem Kaiserreich mitgeschleppte Untertanenmentalität. Schon zu Beginn des Jahres 1920 vermerkte Ossietzky mit großer Sorge die Wiederkehr eines Bürgers, der seinen demokratischen Vorstellungen in keiner Weise entsprach:
»Das Gezeter wider die Revolution könnte wirklich humoristisch aufgefaßt werden, würde sich dahinter nicht eine neue Denkweise verbergen. […] Da findet sich alles: Abneigung gegen das Ungewöhnliche, Scheu vor dem Erlebnis, Autoritätsdusel, Servilität, Verlangen nach geruhiger Verdauung. Das ist nicht der Citoyen der großen Revolution, nicht der wortreiche aber echt begeisterte Mann der Paulskirche, das ist jenes Lebewesen, das die zahlungsfähige Moral erfunden hat, das nur schwelen kann und niemals glühen, das die Ehrfurcht vor der Leistung nicht kennt, sondern nur das Ducken, wenn eine kräftige Faust droht. Niemals schlägt das Herz höher vor geistiger Tat, aber vor möglichst massiver Entfaltung äußerer Macht, da biegt sich der Rücken. So sieht unser neuer Beherrscher aus, verehrte Freunde, der Tonangebende nach einem Jahr Republik. […] Ob es so bleiben muß? Das hängt ganz davon ab, ob endlich erkannt wird, daß dieser Bürger nicht der Repräsentant einer bestimmten Klasse, sondern einer bestimmten Denkart ist. Daß er nicht mit irgendeiner Wirtschaftsweise, wohl aber mit einer ganz bestimmten Erziehungsweise zusammenhängt. Das gibt ihm seine Macht. Deshalb ist er bodenständig und die einzige wirkliche Gefahr, die die deutsche Republik kennt. Wir müssen eilen, schon wächst er von Tag zu Tag. Schwächer wird die Flamme, die jäh aufloderte, und bald wird sie erloschen sein.« [8] Die Flamme erlosch, wenn auch nicht bald; erstickt von dem Verlangen, sich einem »Führer« hinzugeben, einem Menschen zu folgen, ihn zu glorifizieren, dessen Taten von niedrigen Emotionen statt von Geist durchdrungen waren. Ossietzky säumte nicht. Er engagierte sich in verschiedenen Organisationen, die sich zum Ziel setzten, demokratische Denkart ins Volk zu tragen. Sie wurden von jungen Leuten gegründet, die einem politischen Establishment, das noch aus dem Kaiserreich stammte, nicht zutrauten, die Republik mit Geist und Leben zu füllen. Eine solche Organisation war das von Sozialdemokraten geführte Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Ossietzky sah in ihm eine »nützliche und notwendige Gründung«, doch rasch erkannte er, dass die Parteiführung diese »Parteirebellion« in Kanäle ableitete, wo sie keinen Schaden anrichtete:
»Reichsbanner zelebriert Verfassungsfeiern, Reichsbanner macht Stechschritt, Reichsbanner drapiert Potsdam schwarzrotgold, Reichsbanner prügelt sich mit Kommunisten. […] Derweilen aber werden weiter Einheitswindjacken vertrieben und Militärbrotbeutel und Satinschärpen, einfache Ausführung, do. bessere Ausführung, gefüttert, do. Seidenmoiré, mit Goldfransen. Frei Heil! Wer auf den ewigen Korporal im Deutschen spekuliert hat, der hat noch niemals falsch spekuliert. Auch der Stahlhelm, auch die Bismarckbünde vertreiben Kokarden und Brotbeutel. Zwischen Schwarzweißrot und Schwarzrotgold soll eine Welt liegen. Wirklich, wirklich?!« [9]
Die wichtigste und bald auch einzige Organisation, in der sich Ossietzky dauerhaft engagierte, war die Deutsche Liga für Menschenrechte. Von den Grundsätzen »echter Demokratie« ausgehend, bekundete sie in ihrem Programm von 1922 ihren Willen, »an dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage und darüber hinaus an dem großen Werke der Völkerversöhnung« mitzuarbeiten. [10] Als Vorbild diente ihr die englische Fabian Society, die mit der Demokratisierung der Wirtschaft und sozialen Reformen die klassenlose Gesellschaft verwirklichen wollte. Sie erlangte in England erheblichen politischen Einfluss. So war sie an der Gründung der Labour Party und der berühmten London School of Economics and Political Science beteiligt. Mit ihrer doppelten Zielsetzung: Demokratie im vollen sozialen Sinne und Völkerversöhnung durch dauerhaften Frieden war das Feld umrissen, das Ossietzky als politischer Publizist bestellte. Wohl und Ergehen der demokratischen Republik rückten in den Vordergrund seines Schaffens. Das führt uns nun zu der Frage, welche Haltung Ossietzky zur Verfassung der Republik als einer parlamentarischen Demokratie einnahm.
Die Verfassung
Wie jede Verfassung war für Ossietzky auch die Weimarer »doppelgesichtig«: »Erfüllung und Ansporn«, schrieb er, »machen beide einträchtiglich ihr Wesen aus.« Erfüllung mochte er im ersten Hauptteil »Aufbau und Aufgaben des Reiches« sehen: die parlamentarische Demokratie als Vollendung einer hundert Jahre langen Verfassungsentwicklung. Ansporn sah er in den »Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen«, dem zweiten Hauptteil, gegeben. In Ergänzung der herkömmlichen liberalen Rechte der »Einzelperson« traf die verfassunggebende Nationalversammlung wirtschaftliche und soziale Bestimmungen, die dem sein Eigeninteresse verfolgenden Bürger zugunsten des sozialen Gemeinwesens Pflichten auferlegten. Ossietzky verwies aber nur auf die Artikel 109 bis 118, die die Freiheit des Einzelnen garantierten, wenn er in der Verfassung »ein Programm politischer Pädagogik für Jahrzehnte« enthalten sah, das »die besten sozialsittlichen Tendenzen der modernen Gesellschaft in kurze prägnante Sätze« bringt. [11] Ossietzky dachte bei »sozialsittlichen Tendenzen« an eine voranschreitende Aufhebung der Klassengegensätze, an die demokratische Gestaltung der Gesellschaft; doch das Gegenteil war der Fall.
Die Verfassung war gerade ein Jahr alt, als Ossietzky sich genötigt sah, warnend an die gescheiterte Revolution von 1848 zu erinnern. »Formal« seien zwar die Forderungen der Paulskirche erfüllt, aber zu ihrer »Verlebendigung« sei noch eine weite Strecke zurückzulegen. Er mahnte die bürgerlichen Demokraten, die »mit dem gefährlichen Gedanken eines ›Bürgerblocks‹ spielen und damit Deutschland in zwei Teile zu zerreißen drohen«, und rief ihnen in Erinnerung: »Die Überwindung der Klasse war die beste Tradition der bürgerlichen Demokratie.« Gebe sie das Ziel preis, würde sie beweisen, dass sie »den Tod im Leibe« trage. [12]
Der Gedanke, dass Bürger und Arbeiter als Demokraten sich daranmachen, gemeinsam den zwischen ihnen bestehenden Klassengegensatz zu überwinden, schien in den frühen Anfängen der Weimarer Republik nicht abwegig zu sein. Auf regierungsamtlichen Plakaten wurden Arbeiter, Bürger, Bauern und Soldaten aufgerufen, sich zu der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung zu vereinigen. Es wurde sogar der Sozialismus verheißen. Selbst die Unternehmer schienen Einsicht zu zeigen. Als seien sie Sozialpartner, setzten sie sich in einer Zentralarbeitsgemeinschaft mit Gewerkschaftern an einen Tisch. Betriebsräte wurden gebildet und in der Verfassung verankert wie auch eine Dachorganisation, der Reichsarbeiterrat, der zur Ausführung von Sozialisierungsgesetzen gemeinsam mit Vertretern der Unternehmer einen Reichswirtschaftsrat bilden sollte. Diese beiden Verfassungsinstitutionen existierten nur in den Anfangsjahren der Republik. Schon früh wurden die Befugnisse der Betriebsräte in einem eigenen Gesetz zurückgefahren. 1924 löste sich schließlich auch die Zentralarbeitsgemeinschaft auf. Nach heute herrschender Meinung stabilisierte sich in diesem Jahr die Republik.
Auch die Parteienlandschaft entwickelte sich entgegen Ossietzkys Erwartungen. Anfangs dominierte die von der Mehrheitssozialdemokratie, der bürgerlichen Deutschen Demokratischen Partei und dem katholischen Zentrum gebildete Weimarer Koalition. In der verfassunggebenden Nationalversammlung, die im Januar 1919 gewählt wurde, stellten die drei Parteien über drei Viertel der Abgeordneten. Ein Jahr später, bei der Wahl zum ersten Reichstag, erreichten sie nicht einmal mehr die einfache Mehrheit. Ende 1922 kam das Aus. Abgesehen von ein paar Wochen Großer Koalition im Krisenjahr 1923 blieb die SPD für viele Jahre in der Opposition.
Ossietzky trug dieser Entwicklung Rechnung. Seine demokratische Idee einer Gesellschaft ohne Klassengegensätze sah er nun allein bei der politischen Linken aufgehoben. Sein Vorbild dafür fand er in Frankreich: »Verteidigung der republikanischen Institutionen, Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten, unbedingtes Bekenntnis zum sozialen Fortschritt. Aus diesen drei Elementen ward immer ein cartel de gauche, Bürgerliche und Sozialisten einend.« Das in seiner Zusammensetzung der Weimarer Koalition vergleichbare Linkskartell in Frankreich hatte 1924 einen Wahlsieg errungen. Das gab Hoffnung. Doch in Deutschland waren die Gegner stärker. Ossietzky beschreibt sie mit Worten, die merkwürdig aktuell anmuten: »Die verabscheuen die Linke und kultivieren den verschwommenen, maskierenden Begriff der ›Politik der Mitte‹, einen Begriff, den noch niemand ganz klar präzisiert hat, bei dem sich aber jeder etwas Verwaschenes, etwas Molluskenhaftes, mit einem Wort: etwas Nationalliberales denken kann.« Warnend fügte er hinzu: »Die Rechte und ihre Hilfsvölker in den angrenzenden Flügeln der ›Mitte‹ arbeiten für den Bürgerblock.« [13]
»Nationalliberal« nannte sich im Kaiserreich eine große bürgerliche Partei, deren Nachfolge in der Republik die von Gustav Stresemann geführte Deutsche Volkspartei antrat. Diese Partei der Mitte zeigte Bereitschaft, mit Extremisten der Rechten zusammenzugehen, erkannte sie doch die bestehenden Besitzverhältnisse an, während sie zu den Radikalen der Linken eine feste Grenze zog. In gravierender Weise zeigte sich ihre Schlagseite bei Stresemanns Vorgehen gegen die Landesregierungen in Sachsen und Thüringen. In den beiden Ländern waren Sozialdemokraten und Kommunisten Koalitionsregierungen eingegangen. Um sie zu stürzen, ließ Ebert als Reichspräsident, unterstützt von Reichskanzler Stresemann, in Sachsen die Reichswehr einmarschieren. Gegen Thüringen genügte die Androhung.
Ebert stützte sein Vorgehen auf den Artikel 48 Abs. 1 der Verfassung, der eine Reichsexekution gegen ein unbotmäßiges Land erlaubte. Doch die Voraussetzungen dafür waren nicht gegeben. Die beiden parlamentarischen Regierungen hatten weder gegen die Verfassung noch gegen ein Reichsgesetz verstoßen. Ossietzky war über das Vorgehen Eberts und Stresemanns entsetzt. Wiederholt erinnerte er sich in der Folgezeit sarkastisch an den »Siegeszug [des Militärs] gegen die republikanische Konstitution«. [14] Die Rechtslastigkeit der Reichsregierung zeigte sich zur gleichen Zeit auch darin, dass gegen Bayern die Reichswehr nicht in Marsch gesetzt wurde, obwohl die dort ansässigen paramilitärischen Vaterländischen Verbände, deren politischer Sprecher Adolf Hitler war, an den Grenzen zu Sachsen und Thüringen aufmarschiert waren, bereit, nach einem Vorbild Mussolinis den Marsch nach Berlin anzutreten.
Zum Jahresbeginn 1927, mitten in den vermeintlich besten Jahren der Republik, lieferte Ossietzky eine Bestandsaufnahme ihres politischen Systems. Sie stand vor der Bildung einer Reichsregierung, der auch die Deutschnationale Volkspartei angehörte, der spätere Bündnispartner der NSDAP. In der demokratischen Presse hätten die Alarmglocken schrillen müssen. Doch die Kommentatoren legten sich die Dinge auf ihre Weise zurecht. Sie vertraten die Auffassung, dass sich die Deutschnationale Volkspartei mit ihrem Eintritt in die Regierung auf den Boden der Republik begeben habe, und viele Historiker sehen es heute noch so. Das aber ist ein Irrtum. Er beruht auf einem verkürzten Verständnis von Demokratie. Deutlich erkannte Ossietzky, was eine rechtslastige Bürgerblockregierung über den wirklichen Verfassungszustand der Republik aussagt:
»Der liberale Demokratismus, in dessen Zeichen sich die sogenannte Stabilisierung vollzieht, erschöpft sich in der breiten Lobpreisung des Parlamentsstaates. Er sieht nichts Werdendes, verbeugt sich pietätvoll vor Vergangnem, ahnt nichts von einem Problem der Köpfe, geschweige denn von denen des Magens. Der böse Satz von Anatole France: ›Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen‹, kennzeichnet für immer die hohle sittliche Attitüde einer Demokratie, die nur in ihren Institutionen und für ihre Institutionen lebt. Hier aber ist die Grundlage der fortschreitenden Einigung zwischen Reaktion und mittelparteilichem Bürgertum. Sie finden sich auf dem Verfassungspapier der Republik.« [15]
Ossietzky kritisiert ein Verständnis der demokratischen Verfassung, als sei sie von Besitzenden für Besitzende geschrieben. Handlungen von Armen, die versuchen, ihr Leben zu fristen, verbietet sie, um das Eigentum der Besitzenden zu schützen, und um ihnen ein ruhiges Gewissen zu verschaffen, sorgt sie dafür, dass Armut nicht sichtbar wird. In einem solchen Verfassungsverständnis zeigt sich für Ossietzky eine Attitüde, die sittlich hohl ist. Demokratische Denkart ist dem »liberalen Demokratismus« fern. Folgerichtig, so führt er weiter aus, finden sich Reaktion und Mitte in der unbedingten Ablehnung des revolutionären Ursprungs der Verfassung. Stattdessen verankern sie die »Weimarer Demokratie im Sumpfe des Juste milieu«. [16]
Ossietzkys Kritik am »liberalen Demokratismus« und an dessen Auswirkungen auf eine demokratische Verfassung geht über das hinaus, was ein reiner Verfassungsjurist leistet. Er legt dar, dass nicht isoliertes Fachwissen, sondern nur eine gesellschaftskritische Gesamtschau die Verfassungswirklichkeit erkennen lässt und so politische Bildung ermöglicht, die heute angesichts von Rassismus und Rechtspopulismus schmerzlich vermisst wird. Institutionen, die von Emanzipationsbewegungen geschaffen wurden, werden mit deren Rückgang zu einem leeren Gehäuse. Jeder kann sich in sie einnisten und sie für seine Zwecke nutzen. Auch heute ist das herrschende Verständnis von Demokratie vornehmlich auf die Institutionen und deren Bewahrung ausgerichtet. Sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen unterliegen, wie etwa die neoliberale Austeritätspolitik zeigt, nicht dem Demokratiegebot. Statt die ihnen zugrundeliegenden Interessen offenzulegen, werden sie mit vermeintlich bestehenden »Sachzwängen« begründet und womöglich als »alternativlos« ausgegeben. Nur ihre Auswirkungen auf das politische System geraten in den Blick. Statt Verfassungsinstitutionen mit demokratischem Leben zu füllen, will man sie notfalls mit repressiven Maßnahmen verteidigen – man spricht dann von »wehrhafter Demokratie«. Wenn sich aber wieder wirtschaftliches Wachstum einstellt, der ersehnte Heilsbringer, der die Armen besänftigt und den Mittelstand beruhigt, stabilisieren sich die Institutionen.
Mit Ossietzky lesen wir eine demokratische Verfassung anders. Wir lesen sie aus der Sicht der Armen, aus der Sicht derer, deren Arbeitskraft nicht oder nur zu prekären Bedingungen nachgefragt ist, aus der Sicht derer, die politische Verfolgung oder wirtschaftliche Not in die Flucht treiben. Wir entdecken, wo emanzipatorisches Potential brachliegt, das doch nötig ist, um demokratische Prozesse voranzutreiben. »Mehr Demokratie wagen« ist ein geflügeltes Wort von Willy Brandt – ist es wirklich ein Wagnis, Demokratie zu mehren?
Die Reichstagswahl im Mai 1928 ließ Ossietzky noch einmal Hoffnung schöpfen. Der Wahlsieg der SPD führte unter ihrer Führung zur Bildung einer Großen Koalition. Ossietzky erwartete nicht eine sozialistische Politik, aber doch eine Politik, in der eine kräftige sozialdemokratische Handschrift erkennbar war. Es kam anders. Als ersten Akt genehmigte die Regierung den Bau eines Panzerkreuzers, den ihre rechtsbürgerliche Vorgängerin eingeleitet hatte. Die sozialdemokratischen Minister waren dafür, sie wollten wohl staatsmännische Verantwortung zeigen, die Fraktion war dagegen, sie hielt an ihrer parteipolitischen Gesinnung fest. Heraus kam ein absurdes Spiel mit dem parlamentarischen System: Die Minister beschlossen im Kabinett den Bau des Panzerkreuzers und stimmten als Abgeordnete im Parlament dagegen – in der Gewissheit, dass sie ohne Unterstützung ihrer bürgerlichen Koalitionspartner in der Minderheit blieben. Sie boten ein Schauspiel, mit dem sie nicht nur ihre Partei, sondern auch das parlamentarische System der Lächerlichkeit preisgaben.
1930 zerbrach in der Weltwirtschaftskrise die Große Koalition, und mit ihr zerbrach das parlamentarische System. Es konnte keine Einigung über die Versicherung der Arbeitslosen erzielt werden. Die sozialdemokratischen Minister blieben diesmal unter dem Druck der Gewerkschaften ihrer Überzeugung treu. Ohne sie war eine neue parlamentarische Regierung schwer zu bilden. Doch das war auch nicht beabsichtigt. Der Reichspräsident beschritt zielstrebig einen Weg, der vom parlamentarischen System wegführte, um eine Sparpolitik durchzusetzen, die nach Ossietzkys Worten nichts anderes war als ein »rücksichtsloser Auspowerungsprozeß des akkumulierten Kapitals gegen die restlichen deutschen Bürgerschichten, die aus der Inflation noch eben heil herausgekommen waren«. [17] Das verfassungsrechtliche Instrument dafür war der Artikel 48, »das Giftfläschchen in der innern Rocktasche der Verfassung«, wie Ossietzky treffend formulierte. Hindenburg ernannte Brüning zum Reichskanzler und stellte einer bürgerlichen Minderheitsregierung das Giftfläschchen zur Verfügung.
Die Präsidialdiktatur
Der zweite Absatz des Artikels 48 erlaubte dem Reichspräsidenten, bei erheblicher Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die zu deren Wiederherstellung nötigen »Maßnahmen« zu treffen. Zu dem Zweck durfte er vorübergehend auch Grundrechte außer Kraft setzen. Die »Maßnahmen« wurden als Notverordnungen verstanden, denen Gesetzeskraft zukommt. Sie durchbrachen also das System der Gewaltenteilung, wonach das Parlament Gesetze beschließt und die Regierung auf deren Basis Verordnungen erlässt. Ursprünglich dem Monarchen zugestanden, wenn im Falle eines Notstandes die gesetzgebenden Körperschaften verhindert waren, zusammenzutreten, wurden nach dem Scheitern der 1848er Revolution mit zunehmender Verschärfung der Klassengegensätze im Zuge der voranschreitenden Industrialisierung »Notverordnungen« nicht nur als ein Hilfsmittel eingesetzt, wenn das Parlament ausfiel, sondern auch als ein Kampfmittel gegen diese Institution. Erst in jener Zeit entstand das Wort »Notverordnung«, das in der Weimarer Republik trotz der ihm innewohnenden antiparlamentarischen Tendenz auf den Artikel 48 angewandt wurde, obwohl es dort nicht vorkam. Der antiparlamentarische Gebrauch des Artikels wurde durch eine Unterlassungssünde des Reichstags ermöglicht. Um zu verhindern, dass der Artikel zum Verfassungsbruch benutzt wird, hatte die verfassunggebende Nationalversammlung dem künftigen Reichstag den Auftrag erteilt, in einem Reichsgesetz das Nähere zu bestimmen. Ein solches Gesetz hat der Reichstag nicht erlassen, obwohl der deutsche Juristentag schon 1924 in klarer Vorausschau künftigen Unheils anmahnte: »Der Erlaß des in Art. 48 angekündigten Reichsgesetzes kann ohne schwere Gefahren für den Bestand der verfassungsmäßigen Rechtsordnung nicht länger verzögert werden.« [18]
Das neue, gegen das Parlament gerichtete System wird in der Literatur wertfrei als Präsidialkabinett oder unpräzise als Präsidialregime bezeichnet. Ich bevorzuge den Begriff Präsidialdiktatur, womit ich mich der verfassunggebenden Nationalversammlung anschließe, die den zweiten Absatz des Artikels unter dem Titel »Diktaturgewalt« diskutierte. Ossietzky sprach von einem »Kabinett der Diktatur«. [19]
Sehen wir uns näher an, wie Reichspräsident und Reichsregierung mit dem Giftfläschchen dem Reichstag zu Leibe rückten. Es ging Schlag auf Schlag. Brüning brachte im Reichstag eine Sparvorlage zur Deckung des Staatshaushalts ein. Der Reichstag lehnte ab. Daraufhin erließ Hindenburg sie als Notverordnung. Das war der erste Verfassungsbruch. Der Artikel 48 verlieh dem Reichspräsidenten die Befugnis, Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu ergreifen, aber nicht eine Wirtschaftspolitik gegen das Parlament durchzudrücken, schon gar nicht eine solche, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erst gefährdete. Der Reichstag machte nun von seinem Recht Gebrauch, die Notverordnung aufzuheben. Daraufhin löste der Reichspräsident ihn auf und setzte einen Termin für Neuwahlen fest. Nach dem Wortlaut der Verfassung, in dem Falle aber nicht nach ihrem Geist, war ihm das gestattet. Doch beging er einen weiteren Verfassungsbruch, indem er die abgelehnte Notverordnung erneut erließ, ohne sie, wie es der Artikel 48 verlangte, dem Reichstag »unverzüglich« vorzulegen. Dazu fehlte ihm nun freilich die Möglichkeit, hatte er ihn doch selber aufgelöst.
Die Wähler zogen aus dem unverantwortlichen Spiel mit der Verfassung und dem Parlament ihre eigenen Schlüsse. Sie entschieden sich für das Angebot der Partei, die am lautstärksten als Gegner des parlamentarischen Systems auftrat. Die Mandate der NSDAP schnellten von 12 auf 107 hoch. Eine bislang kaum ins Gewicht fallende Minderheit war schlagartig zur zweitstärksten Fraktion nach der SPD angewachsen. Ossietzky schrieb dazu:
»Das eröffnet abenteuerliche Aspekte. Die Demokratie verschwindet tief unten. Der Aufstieg in die Stratosphäre beginnt. […] Nicht eine bürgerliche Partei nur, der bürgerliche Gedanke überhaupt hat sein Waterloo gefunden. […] Das deutsche Bürgertum hat für seine Entrechtung und Erniedrigung, für den Fascismus Adolf Hitlers optiert. […] Die tragische Stunde der Republik hat begonnen. Es geht darum, Menschen zu sammeln, die bei der Abwehr der weißen Diktatur zum höchsten Einsatz bereit sind.« [20] – Den höchsten Einsatz sollte er selber bringen, doch daran dachte er sicher nicht, als er dies schrieb.
Was die Literatur zur Präsidialdiktatur Hindenburg/Brüning betrifft, so lesen wir viel von Sparpolitik und wachsender Massenarbeitslosigkeit, was vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise verständlich ist. Aber wenig lesen wir von Einschränkungen der Pressefreiheit bis hin zu Verboten, die zwar nur als vorübergehend gedacht waren, tatsächlich aber die Existenz bedrohten. Diese zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung folgerichtigen Begleitmaßnahmen einer asozialen Wirtschaftspolitik zeigten durchaus Wirkung. Sie verleiteten die Presse zu Vorsicht, gar Anpassung. Als Leiter der Weltbühne musste auch Ossietzky vorsichtig sein. Angepasst hat er sich nicht.
In einem funktionierenden parlamentarischen System hätte Ossietzky an den Reichstag appellieren können, für die Pressefreiheit einzutreten. Doch das war ihm nicht möglich. Als der Reichspräsident zwei einschlägige Notverordnungen im März und Juli 1931 erließ, war der Reichstag nicht ansprechbar. Er hatte sich nach Verabschiedung des Osthilfegesetzes, einer großzügigen finanziellen Unterstützung des ostelbischen Großgrundbesitzes, vertagt. Nur zweimal trat er unter Brüning zusammen, einmal für drei und einmal für vier Tage.
Die Weltbühne wurde nicht verboten, doch ihrem Leiter wurde im November 1931 der Prozess gemacht. In einem vom Reichswehrministerium initiierten Verfahren vor dem Reichsgericht wurde Ossietzky wegen Landesverrats zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Corpus delicti war ein Artikel, in dem der mitangeklagte und mitverurteilte Walter Kreiser, ein sozialdemokratischer Militärexperte und Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte, enthüllte, dass vom Parlament für die zivile Luftfahrt bewilligte Gelder militärischen Zwecken zugeführt wurden. Das verstieß nicht nur gegen den Versailler Vertrag, sondern unterlief auch das Budgetrecht des Reichstags, dem Ossietzky Geltung verschaffen wollte. In seinem Urteil ließ sich das Reichsgericht zu einer moralischen Verdammung hinreißen:
»Eine Kritik des Heeresetats ist der Presse keineswegs verwehrt, auch nicht gegenüber unserer kleinen Reichswehr, die Grenzen zwischen sachlicher Kritik einerseits und Hetze und Verrat andererseits muß auch die Presse innehalten. Die Straftat der Angeklagten, die ihre Treupflicht als Staatsbürger verletzt haben, ist als eine staatsschädliche anzusprechen: Unbekümmert um die Interessen ihres Vaterlandes in schwerer Zeit und unter deren bewußter Nichtachtung haben sie aus Sensationsbedürfnis das Maß einer sachlichen Kritik weit überschritten.« [21] Nach den Richtern von damals ein Historiker von heute, Hans-Ulrich Wehler:
»Auch radikale publizistische Kritik muss jede Demokratie vertragen können. Aber die Verantwortungsethik demokratischer Journalisten darf sie die Grenze zur prinzipiellen Staatsfeindlichkeit nicht überschreiten lassen. Auf seine Art hat Carl von Ossietzky mit der Weltbühne jedoch dazu beigetraten, die tief angeschlagene Republik noch weiter zu schwächen, ja durch seine von links aus geübte Kritik, ohne Pardon zu geben, aktiv zu diskreditieren.« [22]
Ossietzky selbst suchte seine Richter zu verstehen. Einen aktuellen Fall aufgreifend, beurteilte er sie so: »Im Grunde sind diese Herren Reichsrichter unsicher gewordene Menschen, die ihr Schicksal in eine Zeit gestellt hat, wo alles aus den Fugen geht. Besitz, Familie, Namen, alles ist fragwürdig geworden. Was diese Herren Reichsrichter leisten, wenn sie unpolitische Rechtsfälle vor sich haben, kann ich nicht beurteilen. Aber in politischen Fällen sind sie […] Träger eines verkniffenen Provinzpatriotismus, der mit dieser Welt, wo Konzerne verkrachen und die Jugend nackt baden geht, nicht mehr fertig wird. Der Globus tanzt nach einem Jazz-orchester, alte Familiengrundstücke sinken auf Pfennigwert. Ein Landgerichtsrat erschießt seine ganze Familie. Die Frau will ein neues Abendkleid und quält den Gatten mit bürgerlichen Vorkriegsansprüchen. Die Tochter hat ein Verhältnis mit einem Monteur. Eine Autorität muß es doch geben! Diese Autorität ist wirklich da. In dem Weltbild der Richter gibt es doch einen starken, ruhenden Punkt. Auf diesem Filmband, wo alles durcheinander geht, ist ein großer gespornter Offiziersstiefel überkopiert. Das ist die letzte Autorität, an die sie glauben.« [23]
Und was machte das Volk? Es wählte im Februar 1932 den Reichspräsidenten. Außer einem unbeachteten Sonderling standen vier Kandidaten zur Wahl: Hitler, ein Demagoge in brauner Uniform und lupenreiner Faschist; Duesterberg, zweiter Bundesführer des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten; Hindenburg, der amtierende Präsident der Republik, umgeben vom Glanz eines Generalfeldmarschalls des Kaisers und Ehrenmitglied des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten; schließlich der Kommunist Thälmann. Die drei Erstgenannten waren von militaristischer Denkart und Mentalität durchdrungen. Daran hatte der Krieg nichts geändert; im Gegenteil, er war ihnen ein großes Erlebnis gewesen. Noch im Frieden verlieh es ihrem Leben Glanz, gab es ihrem Dasein einen höheren Sinn – Ossietzky wählte Thälmann. Er hätte seine Stimme gern einem akzeptablen Sozialdemokraten gegeben, aber es kandidierte keiner; auch kein bürgerlicher Demokrat.
Mit der Wahl Thälmanns verband er die Hoffnung, dass der einzige Kandidat der Linken eine überraschend hohe Stimmenzahl erzielen werde, womit demonstriert werde, »welch einen Erfolg eine sozialistische Einheitskandidatur hätte haben können, was für Möglichkeiten noch immer bestehen«. [24] Die Demonstration blieb aus, aber die Hoffnung starb nicht. Nach der Wiederwahl Hindenburgs appellierte Ossietzky an die beiden Arbeiterparteien, sich an einen runden Tisch zu setzen, um sich über »ein operatives Zusammengehen zur Verteidigung der Arbeiterklasse« zu verständigen, gehe es doch darum, »sämtliche Teile der sozialistisch organisierten Arbeiterschaft vor der Vernichtung zu retten«. [25]
Im Mai 1932 trat Ossietzky seine Gefängnisstrafe an. Er musste sie aber nicht die vorgesehene Zeit absitzen. Dank des Einsatzes der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion wurde er in eine Weihnachtsamnestie für politische Straftäter einbezogen, obwohl er als ein simpler Krimineller verurteilt worden war. Nach seiner Entlassung traf er auf eine gründlich veränderte politische Lage. An die Stelle politischer Kontroversen und Mehrheitsbildungen im Reichstag, vorausgesetzt, er tagte, war ein Gerangel von Personen um die Gunst des Reichspräsidenten getreten. Brüning war passé. Nach einem missglückten Zwischenspiel Papens versuchte jetzt der General Schleicher sein Glück als Reichskanzler. Es wurden weitere Namen gehandelt, darunter Hugenberg, Hitler und dessen innerparteilicher Abweichler Gregor Strasser. In dem intriganten Treiben erkannte Ossietzky ein politisches Prinzip:
»Ob sich Schleicher mit Adolf verträgt oder mit Gregor gegen Adolf, ob er mit Hugenberg regiert oder ihn an die Wand quetscht – das Prinzip ist immer das gleiche. Es heißt immer Autorität und Militarismus gegen Demokratie, Sozialismus, Republik, es heißt immer Herrenschicht gegen Volk, einerlei ob diese offen durch Agrar- und Industriefeudalismus repräsentiert oder von Hitler- und Seldte-Kohorten maskiert wird. Alle diese Männer, die durch persönlichen Ehrgeiz oder reale Gruppeninteressen getrennt sind, bilden doch Stücke einer ideologischen Front.« [26]
Autorität gegen Demokratie, Herrenschicht gegen Volk: Das ist nicht die Sprache des Klassenkampfs, sondern die Sprache der Demokraten in der Zeit der bürgerlichen Revolutionen. Ossietzky wandte sich nicht mehr an die beiden Arbeiterparteien, doch hoffte er noch auf die Arbeiterschaft. Am Streik der Berliner Verkehrsarbeiter vom November 1932, den er im Gefängnis verfolgt hatte, machte er aus, dass »ein eigner Wille der Arbeiterschaft wieder manifest wird«, dass »diese sich zum ersten Mal seit der unseligen Tolerierungsepoche wieder in sicher durchgeführten Streiks der Sozialreaktion erwehrt«. [27] Tatsächlich hatte der Streik, der freilich nicht spontan ausgebrochen, sondern von der KPD initiiert war, wenigstens den Nazis schwer geschadet.
Schleicher suchte einen anderen Weg. Er hatte den Plan, »bis zur Wiederkehr geordneter Verhältnisse« den Reichstag aufzulösen und – um die Wiederkehr geordneter Verhältnisse zu ermöglichen – die NSDAP und die KPD als »staatsfeindlich« zu verbieten. Die zu erwartende Auflehnung gedachte er unter Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes niederzuschlagen. Zu einem solchen Abenteuer war Hindenburg nicht bereit. Außerdem drängte die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Veruntreuung von Geldern der »Osthilfe« zu einem raschen Handeln. Er berief den »böhmischen Gefreiten«, Adolf Hitler, den er als hoher preußischer Militär zwar wenig schätzte, für dessen Wohlverhalten aber der Herrenreiter Papen bürgte.
Um der Bildung dieser Regierung vorzubeugen, hatte Ossietzky Überlegungen angestellt, die wegen ihrer Verfassungstreue unrealistisch waren: »Das erste Kabinett Papen endete mit Gelächter, ein zweiter Versuch würde mit Tränen enden. Wird nicht sofort und bedingungslos der Weg zur Verfassung wieder angetreten – und dazu gehört vor allem der Rücktritt des Reichspräsidenten –, so wird die außerparlamentarische Regierungsweise von oben mit außerparlamentarischen Abwehrmethoden von unten beantwortet werden. Denn es gibt auch ein Notrecht des Volkes gegen abenteuerliche experimentierende Obrigkeiten. […] Die Generalstreikparole geht um.« [28] Die Parole ging um, aber der Streik blieb aus.
Ossietzky gehörte zu den ersten, die in der Nacht des Reichstagsbrandes von der Verhaftungswelle erfasst wurden. Am folgenden Tag erließ der Reichspräsident eine Notverordnung, die als das Gründungsdokument der NS-Diktatur gilt. »Zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« wurden allen Bürgern die Grundrechte genommen. Doch der staatliche Terror schreckte weder die Wähler noch die Volksvertreter. Im neu gewählten Reichstag stimmten nur die Sozialdemokraten gegen das Ermächtigungsgesetz. Die Kommunisten waren schon verhaftet. Otto Wels, der für die SPD sprach, schlug Hitler vor, parlamentarisch zu regieren, er habe ja nun die Mehrheit. Erregt wies Hitler in einer Philippika gegen die »Novemberverbrecher« das Ansinnen zurück. Vielleicht befürchtete er, dass bürgerliche Parlamentarier den Vorschlag von Otto Wels aufgreifen würden. Aber das war unbegründet. Alle bürgerlichen Parteien standen gegen die Arbeiterparteien: Deutlicher kann sich die Spaltung einer Gesellschaft auf politischer Ebene nicht widerspiegeln.
Zum Schluss gekommen, muss ich meine Ausgangsthese einschränken. Ossietzky war nur anfangs ein Vorkämpfer der Demokratie, in ihrer Endphase war er »bloß« ihr Verteidiger. Mehr ließen die politischen Verhältnisse nicht zu. Totengräber war er nicht.
[1] Carl von Ossietzky: »Sämtliche Schriften«, Rowohlt 1994, Art. 17, Z. 45-84; [2] Art. 675, Z. 111-121; [3] Zitate nach »Lexikon zur Parteiengeschichte« (LzPG), herausgegeben von Dieter Fricke et alii, Leipzig und Nachdruck Köln 1983 ff., Bd. I, S. 498 f.; [4] Wie Anm. 1, Art. 36, Z. 240-254; [5] Art. 41, Z. 262-289; [6] Art. 43, Z. 145-156; [7] Art. 817, Z. 48-77; [8] Art. 49, Z. 45-90; [9] Art. 470, Z. 53-93; [10] LzPg, Bd. I, S. 750; [11] Art. 238, Z. 44-54; [12] Art. 238, Z. 96-100; [13] Art. 472, Z. 16-32; [14] Art. 670, Z. 67 f.; [15] Art. 680, Z. 18-30; [16] Art. 680, Z. 39 f.; [17] Art. 1009, Z. 30 ff.; [18] 28 E. R. Huber: »Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte«, Bd. 3, Stuttgart 1966, S. 137; [19] Art. 916, Z. 25 f.; [20] Art. 949, Z. 68-145; [21] Dokument D 269, Z. 1052-1061; [22] Hans-Ulrich Wehler: »Preußen ist wieder chic«, Frankfurt/Main 1983, S. 77 ff.; [23]; Art. 1058, Z. 547-565; [24] Art. 1047, Z. 231-237; [25] Art. 1056, Z. 124 f. u. 156 f.; [26] Art. 1073, Z. 64-73; [27] Art. 1068, Z. 201-204; [28] Art. 1076, Z. 86-100