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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Herrschaftszeiten

Es war mehr als das übli­che poli­ti­sche Som­mer­thea­ter, was sich in die­sen Tagen in Süd­ti­rol abspiel­te. Es erin­ner­te mich an Ray Brad­bu­rys fan­ta­sti­schen Roman aus dem Jahr 1963 mit dem Titel Some­thing Wicked This Way Comes, was wie­der­um ein Zitat aus der ersten Sze­ne des vier­ten Aktes des Dra­mas Mac­beth von Wil­liam Shake­speare ist und in der deut­schen Erst­aus­ga­be 1969 mit Das Böse kommt auf lei­sen Soh­len so tref­fend über­setzt wurde.

Ist es in dem Roman ein Jahr­markt, der bei Nacht und Nebel plötz­lich in einer klei­nen ame­ri­ka­ni­schen Stadt auf­taucht, der die Men­schen in sei­nen Bann zieht, ohne dass sie Böses ahnen oder die von ihm aus­ge­hen­de geheim­nis­vol­le Bedro­hung spü­ren, so ist es auf der Süd­sei­te des Alpen-Haupt­kamms in der poli­ti­schen Rea­li­tät eine Son­der­brief­mar­ke der Kate­go­rie B mit einem Wert von 1,25 Euro und einer Auf­la­ge von 250.020 Exemplaren.

Zu die­ser Brief­mar­ke schreibt die »Poste Ita­lia­ne« auf ihrer Web­sei­te: »Die Vignet­te zeigt ein Por­trät von Gio­van­ni Gen­ti­le, einem bedeu­ten­den euro­päi­schen Phi­lo­so­phen des 20. Jahr­hun­derts und einem der füh­ren­den Ver­tre­ter des ita­lie­ni­schen Idea­lis­mus; als Bil­dungs­mi­ni­ster (Okto­ber 1922 – Juni 1924) führ­te er 1923 die als Gen­ti­le-Reform bekann­te ita­lie­ni­sche Schul­re­form durch.«

Der Geehr­te war mir bis­her noch nicht unter­ge­kom­men, und daher zog ich mei­ne Brock­haus-Enzy­klo­pä­die zu Rate und erfuhr: »G. war neben sei­nem Freund B. Cro­ce der wich­tig­ste Ver­tre­ter der vom deut­schen Idea­lis­mus stark beein­fluss­ten neu­idea­li­sti­schen Strö­mung in Ita­li­en. Er ver­trat einen ›aktua­li­sti­schen Idea­lis­mus‹, dem­zu­fol­ge das Bewusst­sein nur als Voll­zug exi­stiert und somit eine rei­ne Aktua­li­tät dar­stellt.« So weit so unver­fäng­lich (ohne dass ich sagen könn­te, ich hät­te den Sinn ganz ver­stan­den). Des Wei­te­ren lese ich, dass Gen­ti­le auch als Poli­ti­ker tätig war und vor 80 Jah­ren – daher die Ehrung durch den ita­lie­ni­schen Staat in die­sem Früh­jahr – von anti­fa­schi­sti­schen Par­ti­sa­nen ermor­det wor­den ist. Für wel­che Poli­tik Gen­ti­le stand, ver­schweigt die Enzy­klo­pä­die. Wiki­pe­dia und Nach­rich­ten­por­ta­le aus Süd­ti­rol hel­fen mir wei­ter (stol.it und suedtirolnews.it).

Was der Brock­haus ver­schweigt: Gen­ti­le war der erste faschi­sti­sche Unter­richts­mi­ni­ster Beni­to Mus­so­li­nis, nach­dem der Duce del Fascis­mo, der Füh­rer der faschi­sti­schen Par­tei, Ende Okto­ber 1922 von König Ema­nu­el III. zum neu­en ita­lie­ni­schen Mini­ster­prä­si­den­ten ernannt wor­den war. Gen­ti­le trug als intel­lek­tu­el­les Aus­hän­ge­schild sei­nen Teil zu der faschi­sti­schen Ideo­lo­gie bei – nach­zu­le­sen in den im Inter­net ver­öf­fent­lich­ten Zita­ten aus sei­nen Schrif­ten – und blieb bis zu sei­nem gewalt­sa­men Tod im Jahr 1944 ein glü­hen­der Anhän­ger des Duces.

Eine sei­ner ersten Amts­hand­lun­gen als Mini­ster war im Jahr 1923 die Reform der ita­lie­ni­schen Bil­dungs­po­li­tik, »um über die Schu­le ihre gesell­schafts­po­li­ti­schen Visio­nen nach­hal­tig zu ver­an­kern«. Dazu gehör­te die Ita­lia­ni­sie­rung der sprach­li­chen Min­der­hei­ten im Staat, der deutsch­spra­chi­gen in Süd­ti­rol, der sla­wisch­spra­chi­gen im Fri­aul sowie um Tri­est und der fran­zö­sisch­spra­chi­gen in der Aosta-Regi­on. Fol­ge­rich­tig wur­de in Süd­ti­rol der deut­sche mut­ter­sprach­li­che Unter­richt aus den Schu­len ver­bannt, alles gemäß der Devi­se: »Eine Nati­on, eine Spra­che, eine Kul­tur«. Wei­ter nörd­lich in Euro­pa hieß das ein Jahr­zehnt spä­ter »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«.

Die Behör­den ver­folg­ten jedes Auf­be­geh­ren gegen die Ver­ord­nung oder jeg­li­ches Unter­lau­fen »mit tota­li­tä­ren Mit­teln gegen Orga­ni­sa­to­ren, Lehr­per­so­nen und Schü­ler­el­tern«: trau­ma­ti­sche Erfah­run­gen, die, so heißt es in Süd­ti­rol, »teil­wei­se bis heu­te nach­wir­ken«. Der Beschluss hat­te über vie­le Jah­re hin Bestand, und ent­spre­chend groß ist die Empö­rung über das heu­ti­ge offi­zi­el­le Geden­ken an sei­nen gei­sti­gen Urhe­ber in der poli­ti­schen Land­schaft Südtirols.

Ich zitie­re den Süd­ti­ro­ler Schul­lan­des­rat Phil­ipp Acham­mer aus einem digi­ta­len Post: »Eine Brief­mar­ke ›zu Ehren‹ jenes faschi­sti­schen Unter­richts­mi­ni­sters, der mit Dekret vom Okto­ber 1923 unter ande­rem das Ver­bot der deut­schen Schu­le zu ver­ant­wor­ten hat? Ja sag mal, geht’s noch? Immer noch nichts aus der Geschich­te gelernt? Unglaublich!«

Und Lan­des­haupt­mann Arno Kom­patscher (SVP), der Prä­si­dent der Auto­no­men Pro­vinz Bozen-Süd­ti­rol, sekun­dier­te auf einer Pres­se­kon­fe­renz: »Wir sind abso­lut dage­gen und auch wütend. Ita­li­en ist ein selt­sa­mes Land, in dem Brief­mar­ken für Per­so­nen her­aus­ge­ge­ben wer­den, die eng mit der Tätig­keit einer faschi­sti­schen Regie­rung ver­bun­den waren, von der wir wis­sen, wel­chen Scha­den sie ange­rich­tet hat.« Die dama­li­ge Unter­drückung der Min­der­hei­ten­spra­chen nann­te er »ein typi­sches Merk­mal einer Diktatur«.

Nun darf man getrost davon aus­ge­hen, dass im fer­nen Rom im Palaz­zo Pia­cen­ti­ni, dem Sitz des Mini­ste­ri­ums für Unter­neh­men und Made in Ita­ly (vor­mals: Mini­ste­ri­um für wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung), in des­sen Auf­trag die ita­lie­ni­sche Post die Son­der­mar­ke her­aus­gab, die Rol­le Gen­ti­les in der Mus­so­li­ni-Bewe­gung bekannt ist – und auch sein »Mani­fest der Faschi­sti­schen Intel­lek­tu­el­len« aus dem Jah­re 1925, eine poli­ti­sche und ideo­lo­gi­sche Begrün­dung des ita­lie­ni­schen Faschismus.

Ver­ant­wort­li­cher Wirt­schafts­mi­ni­ster ist seit Ende 2022 Adol­fo Urso, lang­jäh­ri­ges Mit­glied der Melo­ni-Par­tei Fra­tel­li d’Italia. Die Hand­ha­bung der Ehrung durch sein Mini­ste­ri­um ist mehr als sym­pto­ma­tisch für eine »auf lei­sen Soh­len« daher­kom­men­de Ideo­lo­gi­sie­rung in Herr­schafts­zei­ten einer Regie­rung, wie sie Geor­gia Melo­ni als Mini­ster­prä­si­den­tin seit dem 22. Okto­ber 2022 führt. Einer Regie­rung, in der die als post­fa­schi­stisch klas­si­fi­zier­te Melo­ni-Par­tei FdI stärk­ste Kraft ist, die sich bis heu­te nicht vom Faschis­mus distan­ziert hat. Viel­leicht, weil für sie der Fascis­mo eben­falls »nur ein Vogel­schiss in der Geschich­te« ist?

»Ils sont fous, ces Romains«, hät­te Obe­lix zu dem gan­zen Vor­gang gesagt und hät­te mit sei­ner Bemer­kung wie­der ein­mal Recht gehabt: Die spin­nen, die Römer.