Es war mehr als das übliche politische Sommertheater, was sich in diesen Tagen in Südtirol abspielte. Es erinnerte mich an Ray Bradburys fantastischen Roman aus dem Jahr 1963 mit dem Titel Something Wicked This Way Comes, was wiederum ein Zitat aus der ersten Szene des vierten Aktes des Dramas Macbeth von William Shakespeare ist und in der deutschen Erstausgabe 1969 mit Das Böse kommt auf leisen Sohlen so treffend übersetzt wurde.
Ist es in dem Roman ein Jahrmarkt, der bei Nacht und Nebel plötzlich in einer kleinen amerikanischen Stadt auftaucht, der die Menschen in seinen Bann zieht, ohne dass sie Böses ahnen oder die von ihm ausgehende geheimnisvolle Bedrohung spüren, so ist es auf der Südseite des Alpen-Hauptkamms in der politischen Realität eine Sonderbriefmarke der Kategorie B mit einem Wert von 1,25 Euro und einer Auflage von 250.020 Exemplaren.
Zu dieser Briefmarke schreibt die »Poste Italiane« auf ihrer Webseite: »Die Vignette zeigt ein Porträt von Giovanni Gentile, einem bedeutenden europäischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und einem der führenden Vertreter des italienischen Idealismus; als Bildungsminister (Oktober 1922 – Juni 1924) führte er 1923 die als Gentile-Reform bekannte italienische Schulreform durch.«
Der Geehrte war mir bisher noch nicht untergekommen, und daher zog ich meine Brockhaus-Enzyklopädie zu Rate und erfuhr: »G. war neben seinem Freund B. Croce der wichtigste Vertreter der vom deutschen Idealismus stark beeinflussten neuidealistischen Strömung in Italien. Er vertrat einen ›aktualistischen Idealismus‹, demzufolge das Bewusstsein nur als Vollzug existiert und somit eine reine Aktualität darstellt.« So weit so unverfänglich (ohne dass ich sagen könnte, ich hätte den Sinn ganz verstanden). Des Weiteren lese ich, dass Gentile auch als Politiker tätig war und vor 80 Jahren – daher die Ehrung durch den italienischen Staat in diesem Frühjahr – von antifaschistischen Partisanen ermordet worden ist. Für welche Politik Gentile stand, verschweigt die Enzyklopädie. Wikipedia und Nachrichtenportale aus Südtirol helfen mir weiter (stol.it und suedtirolnews.it).
Was der Brockhaus verschweigt: Gentile war der erste faschistische Unterrichtsminister Benito Mussolinis, nachdem der Duce del Fascismo, der Führer der faschistischen Partei, Ende Oktober 1922 von König Emanuel III. zum neuen italienischen Ministerpräsidenten ernannt worden war. Gentile trug als intellektuelles Aushängeschild seinen Teil zu der faschistischen Ideologie bei – nachzulesen in den im Internet veröffentlichten Zitaten aus seinen Schriften – und blieb bis zu seinem gewaltsamen Tod im Jahr 1944 ein glühender Anhänger des Duces.
Eine seiner ersten Amtshandlungen als Minister war im Jahr 1923 die Reform der italienischen Bildungspolitik, »um über die Schule ihre gesellschaftspolitischen Visionen nachhaltig zu verankern«. Dazu gehörte die Italianisierung der sprachlichen Minderheiten im Staat, der deutschsprachigen in Südtirol, der slawischsprachigen im Friaul sowie um Triest und der französischsprachigen in der Aosta-Region. Folgerichtig wurde in Südtirol der deutsche muttersprachliche Unterricht aus den Schulen verbannt, alles gemäß der Devise: »Eine Nation, eine Sprache, eine Kultur«. Weiter nördlich in Europa hieß das ein Jahrzehnt später »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«.
Die Behörden verfolgten jedes Aufbegehren gegen die Verordnung oder jegliches Unterlaufen »mit totalitären Mitteln gegen Organisatoren, Lehrpersonen und Schülereltern«: traumatische Erfahrungen, die, so heißt es in Südtirol, »teilweise bis heute nachwirken«. Der Beschluss hatte über viele Jahre hin Bestand, und entsprechend groß ist die Empörung über das heutige offizielle Gedenken an seinen geistigen Urheber in der politischen Landschaft Südtirols.
Ich zitiere den Südtiroler Schullandesrat Philipp Achammer aus einem digitalen Post: »Eine Briefmarke ›zu Ehren‹ jenes faschistischen Unterrichtsministers, der mit Dekret vom Oktober 1923 unter anderem das Verbot der deutschen Schule zu verantworten hat? Ja sag mal, geht’s noch? Immer noch nichts aus der Geschichte gelernt? Unglaublich!«
Und Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP), der Präsident der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, sekundierte auf einer Pressekonferenz: »Wir sind absolut dagegen und auch wütend. Italien ist ein seltsames Land, in dem Briefmarken für Personen herausgegeben werden, die eng mit der Tätigkeit einer faschistischen Regierung verbunden waren, von der wir wissen, welchen Schaden sie angerichtet hat.« Die damalige Unterdrückung der Minderheitensprachen nannte er »ein typisches Merkmal einer Diktatur«.
Nun darf man getrost davon ausgehen, dass im fernen Rom im Palazzo Piacentini, dem Sitz des Ministeriums für Unternehmen und Made in Italy (vormals: Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung), in dessen Auftrag die italienische Post die Sondermarke herausgab, die Rolle Gentiles in der Mussolini-Bewegung bekannt ist – und auch sein »Manifest der Faschistischen Intellektuellen« aus dem Jahre 1925, eine politische und ideologische Begründung des italienischen Faschismus.
Verantwortlicher Wirtschaftsminister ist seit Ende 2022 Adolfo Urso, langjähriges Mitglied der Meloni-Partei Fratelli d’Italia. Die Handhabung der Ehrung durch sein Ministerium ist mehr als symptomatisch für eine »auf leisen Sohlen« daherkommende Ideologisierung in Herrschaftszeiten einer Regierung, wie sie Georgia Meloni als Ministerpräsidentin seit dem 22. Oktober 2022 führt. Einer Regierung, in der die als postfaschistisch klassifizierte Meloni-Partei FdI stärkste Kraft ist, die sich bis heute nicht vom Faschismus distanziert hat. Vielleicht, weil für sie der Fascismo ebenfalls »nur ein Vogelschiss in der Geschichte« ist?
»Ils sont fous, ces Romains«, hätte Obelix zu dem ganzen Vorgang gesagt und hätte mit seiner Bemerkung wieder einmal Recht gehabt: Die spinnen, die Römer.