Etwas für die Post-Merkel-Ära schon jetzt Eigentümliches ist die Politisierung von Begriffen und Konzepten. Nach 16 Jahren der politischen Biedermeierei wird wieder politisch gedacht und geschrieben. Das ist wichtig. Geschlecht, Frieden und Pazifismus, Sicherheit und Gesundheit, Gerechtigkeit und nun also auch die Freiheit werden als Konzepte diskutiert und erörtert. Solche Debatten, die sowohl moralisch wirkmächtig werden als auch eine realitätsbildende Kraft haben, sind für eine Demokratie unentbehrlich und zuweilen aufklärerischer als so manche Diskussion über die genaue Höhe des Mindestlohnes oder den Energiemix des Südsaarlandes. An der Debatte rund um die Freiheit beteiligen sich akademische Denker wie Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, Springer Journalisten wie Anna Schneider und Ulf Poschardt, dem öffentlichen Denken zugeneigte Politiker wie Robert Habeck, Wolfgang Kubicki und Karl Lauterbach. Es ist die wohl spannendste Debatte der letzten Jahre.
Die dabei besonders aktiven Liberalen und Libertären der Springer Presse und einige besonders lautstarke Hinterbänkler der FDP propagieren dabei eine klassische Idee von Freiheit. Offensichtlich nehmen sie an, nur ihre Denkweise kann Freiheit wirklich wollen können. Der Staat tritt in ihrer Erzählung mit seiner vermeintlichen Überregulierung als großer Gegenspieler der Freiheit auf, als diejenige Macht, die uns als Individuen die Autonomie, also die Selbstgesetzgebung, verunmöglicht. Doch sind Verbote und Vorschriften wirklich gegen die Freiheit gerichtet? Existiert dieser Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung?
Zuerst eine kleine Einordnung. Über Freiheit wurde historisch nicht nur aus dem Bauch heraus gedacht. Sozialisten und Liberale betrachten beide die Freiheit als den vielleicht wichtigsten zu verwirklichenden Wert einer politischen Ordnung. Nur, was Freiheit ist und wie sie zu erlangen ist, da scheiden sich die Geister. Die Liberalen berufen sich auf die Tradition des »klassischen Liberalismus«. Dessen Gedankenwelt wird allerdings von der Springerpresse regelmäßig stark verkürzt. Klassische Liberale wie John Stuart Mill und Friedrich von Hayek werden oft als Staatsgegner eingeordnet. Das stimmt natürlich zum Teil, denn Mill z. B. sah auch die nicht regulierte Gesellschaft und ihre Kräfte als eine Gefahr für die Freiheit an, und auch Hayek mahnte, die Freiheit nicht als Produkt der Schöpfung zu sehen, sondern als ein Produkt der Ordnung.
Auf der anderen Seite stehen Denker linker oder konservativer Traditionen wie Friedrich Wilhelm Hegel, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx, Niklas Luhmann, Karl Mannheim oder Thomas Hobbes. Mannheim spricht von der notwendigen Planung der Freiheit, Proudhon von der Herstellung einer Ordnung ohne Herrschaft, Hegel vom Widerspruch der vielen freien Ichs, Luhmann begreift Markt und Staat als im gleichen Maße potenziell Autonomie-einschränkende Mächte, und Marx erläutert die Freiheits-einschränkende Macht von Eigentum und Lohnarbeit. Kurzum, Freiheit ist für die letztgenannten nicht automatisch durch ein Zurückdrängen des Staates zu gewinnen.
Die Frage nach der Legitimation staatlicher Ordnung und nach der Möglichkeit und dem Imperativ der Manifestation von Freiheit könnte man als die Grundfrage der Politischen Theorie bezeichnen. Warum darf der Staat sein? Warum darf er handeln? Etliche Denker haben sich diese Fragen gestellt. Einer der wichtigsten war Thomas Hobbes. In seinem berühmten Werk »Leviathan« kehrt er die Legitimationsfrage aber um: Was legitimiert den Naturzustand? Das Leben im Naturzustand ist, so Hobbes, einsam, arm, hässlich, brutal und kurz. Ein solches Leben kann man wohl kaum als frei und selbstbestimmt bezeichnen, ohne dabei, wie der neue (Vulgär-)Liberalismus, in einen problematischen Zynismus zu verfallen, wonach also nur der ausgebeutete, geknechtete und notdürftige Mensch als frei gilt. Diese Annahme beruht auf großen Irrtümern.
Der erste Irrtum des libertären Freiheitsbegriffs ist es, den Staat als zentralen Gegenspieler der Freiheit zu sehen. Das ergäbe vielleicht Sinn, wenn der Staat Nordkorea, Saudi-Arabien oder Iran heißt, aber wenn es sich um einen demokratischen Rechtsstaat handelt, dann muss hier anders gedacht werden. Michel Foucault – mit anderer Intention – beschrieb den Unterscheid zwischen dem vormodernen und dem modernen Staat als den Unterscheid zwischen sterben machen und leben lassen und sterben lassen und leben machen. Die Macht wurde im liberalen Staat produktiver und demokratischer. Sie hörte auf, bloße Repression zu sein, und wurde eine im Sinne der Freiheit ordnende Kraft. Der moderne Staat ist nicht der Feind der Freiheit, sondern der Versuch, sie zu ermöglichen.
Natürlich kann auch ein moderner Staat gegen die Freiheit handeln, aber das ist nicht notwendigerweise der Fall. Es gibt keinen immerwährenden Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung. Es gibt viele Institutionen, die die Handlungsoptionen des Einzelnen einschränken: Staat, Arbeitsorganisation, Familie, Sitte, Markt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Staat der einzige oder gar dominierende »Einschränker« wäre. Wem etwas an der Freiheit liegt, der muss die Rolle aller »Einschränker« zurückdrängen. Denn Freiheit kann nur herrschen, wenn niemand das Recht hat, sie einzuschränken. Ohne kritischen Blick auf die Macht der Arbeitgeber über ihre Angestellten, der Väter über ihre Kinder, der Sitte und des Marktes forderte man nur die Befreiung von demjenigen »Einschränker« der die anderen »Einschränker« im Zaum hält. Der »Einschränker« Staat tritt hier als Metaeinschränker auf. Der Staat verbietet es z. B. dem Vater, sein Kind zu züchtigen, dem Arbeitgeber, vom Arbeitnehmer mehr als eine gewisse Anzahl an Stunden Arbeit zu verlangen. Am Ende der Regulierung steht hier ein Mehr an Freiheit – etwas, das »Vulgärliberalen« durchaus klar ist, wenn es um den Schutz des Eigentums geht.
Der Staat tritt in einer echten Demokratie als machtbegrenzende Macht auf. Als power to limit power. Diese Metamacht nimmt die notwendige Planung der Freiheit erst vor. Diese Planung ist notwendig, weil in der Nichtordnung die einschränkende Macht etwa des Arbeitgebers oder des Vaters so stark wirken kann, dass sie die Freiheit der weniger Mächtigen zu sehr einschränkt. Hier muss der Staat also begrenzen und, wo nötig, verbieten. Den Mächtigen die Ausübung ihrer auf Kosten anderer gehende Freiheit zu verbieten, ist kein gegen die Freiheit gerichtetes Verbot. Es ist im Sinne der Freiheit, die Autonomie aller im Blick zu haben und zu schützen oder, wie es Friedrich Ebert formulierte: »Jede Freiheit, an der mehrere teilnehmen, braucht eine Ordnung.«
Der zweite Irrtum des Libertarismus ist es, den inneren Widerspruch der Freiheit nicht zu beachten. Freiheit heißt gleichzeitig Handlungsoptionsvielfalt und Recht auf Nicht-Einmischung; es kann also vorkommen – und kommt vor –, dass die Handlungsoptionsvielfalt eines Einzelnen das Recht auf Nicht-Einmischung eines anderen verletzt. Diese Interdependenz der Freiheit muss dahingehend gelöst werden, dass man nur so frei sein darf, wie die Freiheitsrechte der anderen nicht darunter leiden. Das ist die Begründung des Mordverbots oder der Ruhestörung. Wenn wir alle unsere Handlungsoptionen vollends ausschöpfen, verletzen wir zwangsläufig die Freiheitsrechte anderer. Freiheit ist im Kern also politisch. Ein anschauliches Beispiel ist der Straßenverkehr: Für Vulgärliberale ist jede Einschränkung der Handlungsoptionen der Autofahrenden ein gegen die Freiheit gerichtetes Verbot. Ein Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung. In Wahrheit handelt es sich aber um einen Zielkonflikt zwischen Freiheit und Freiheit. Dort, wo kein Auto fahren oder parken darf, da wird ein Rad- oder Fußgängerraum entstehen. Das Verlangen des Radfahrers und des Fußgängers nach mehr Raum in der Öffentlichkeit ist der Kampf um mehr Freiheit. Die Freiheit des Fußgängers und des Radfahrers nicht als legitim zu sehen, sollte kaum als liberal gelten dürfen.
Der vielleicht größte Irrtum, und hier handelt es sich um eine stumme Präposition, ist die Ansicht, dass es sich bei der Freiheit um ein Produkt der Natur handle. In der analytischen Philosophie nennt man das den naturalistischen Fehlschluss, die logische Fehlannahme, etwas sei richtig, weil es natürlich ist. Die viel kompliziertere Ansicht, dass Freiheit erst geschaffen werden muss und sich nicht naturwüchsig einstellt, widerspricht all jenen Versuchen, die Freiheit als das Gegenstück der Ordnung zu definieren. Das Zebra im Mund des Löwen als frei zu betrachten, ist der große Denkfehler des Vulgärliberalen. Wofür der Libertäre streitet – ob gewollt oder ungewollt –, ist nicht die Freiheit, sondern die Herrschaft derer, die mehr Macht haben, beziehungsweise die sich im freien Spiel der Kräfte manifestierende Herrschaft. Eine ordnungslose Herrschaft – im Gegensatz zu Proudhons Ambition der Herstellung einer Ordnung ohne Herrschaft, der sich Anarchie, Sozialismus und Sozialdemokratie verschrieben haben.
Die Bilder des übereifrigen, überregulierenden, gegen die Freiheit handelnden Verbotsstaates sind einfach und gängig, sie insinuieren, dass die Freiheit mit weniger Ordnung größer wäre und Freiheit keiner Planung bedürfe. Das ist mehr als nur ein Irrtum. Freiheit bedarf der Planung, der Abwägung konkurrierender Freiheiten. Denn ohne Macht-einschränkende Ordnung sind wir ordnungslos, aber nicht minder, unterworfen. Nicht ohne Grund wird in linken Traditionen oft die Emanzipation als Begriff genutzt. Emanzipation, die Entlassung aus der Gewalt des Vaters setzt als Begriff erst den positiven Akt voraus. Nicht das Loslassen des Libertären, sondern das Befreien des Emanzipatorischen ist die Freiheit. Oft wird Freiheit als eine Art Trotzdem verwendet. Das trotzdem der Freiheit, dass sich durchaus zu Recht aus der Vernunft erhebt, kann nicht ein trotzdem der Freiheit der anderen sein. Es kann und muss der Macht und der Herrschaft in all seinen Formen trotzen, aber es kann nicht der Freiheit trotzen. Ein an der Freiheit aller interessierter Liberalismus, der mehr will als ein freies Spiel der Mächte, an dessen Ende die Herrschaft ohne Ordnung steht, muss alle Einschränker in die Pflicht der Freiheit nehmen – sei es den Staat, den Markt oder den Vater.