Der deutsche Strafprozess lebt von festen Regeln. Manche von ihnen bestehen schon seit über 100 Jahren. Teilweise sind sie inzwischen zu Ritualen geworden, deren Veränderung vor allem in Kreisen der Richterschaft nicht erwünscht ist. Eingefahrene Gleise sind mitunter bequem, und gern hört man das Argument, was sich »bewährt« habe, müsse man doch nicht ändern.
Seit einiger Zeit bestehen Bestrebungen, den Inhalt von Hauptverhandlungen vor den Landgerichten besser zu dokumentieren. Bislang ist es so, dass in Verfahren, wo in erster Instanz vor dem Landgericht angeklagt wird (das sind zum Beispiel Mord- oder Totschlagsdelikte und andere Verbrechen, die mit fünf Jahren Freiheitsstrafe aufwärts bedroht sind) oder über eine Berufung gegen ein Urteil eines Amtsgerichts zu entscheiden ist, das zu führende Protokoll nur die wesentlichen Förmlichkeiten wiedergibt. Das sind die Personalien der Angeklagten und der Zeugen sowie die Verlesung von bestimmten Dokumenten oder die Verkündung des Urteils. Nicht wiedergegeben wird beispielsweise, was der Angeklagte zu den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen vorgebracht hat, und auch nicht, was Zeugen, die zur Sache befragt wurden, ausgesagt haben. Das führt zu der eher makabren Situation, dass mindestens einer der beteiligten Richterinnen oder Richter eigene Aufzeichnungen über den Inhalt dieser Aussagen anfertigen muss, während die Protokollantin Pause hat. Diese richterlichen Aufzeichnungen werden aber nicht Bestandteil der Verfahrensakte und verschwinden nach der Verkündung eines Urteils im nirgendwo. Nicht selten kommt es dann vor, dass sich Verfahrensbeteiligte nach Erhalt des schriftlichen Urteils mitunter wundern, wie subjektiv die Aussagen darin wiedergegeben und dementsprechend richterlich gewürdigt werden.
Um dem zu begegnen. besteht schon seit langem – vor allem aus Kreisen der Anwaltschaft – die Forderung, den Inhalt der Angeklagten- und Zeugenaussagen förmlich festzuhalten, entweder durch Führung eines wesentlichen Wortprotokolls oder durch Videoaufzeichnung, die späterhin verschriftet werden kann. Das brächte Rechtssicherheit für alle Beteiligten, weil der Inhalt von Aussagen damit jederzeit auch nach durchgeführter Hauptverhandlung noch eindeutig nachzuvollziehen ist.
Auf einem vor wenigen Jahren durchgeführten Expertenseminar, welches vom Deutschen Anwaltverein organisiert wurde, ist die Thematik heftig diskutiert worden, und nahezu alle Anwesenden waren sich einig, dass es allerhöchste Zeit ist, die Dokumentation der Aussagen zu verbessern. Ein dort gehaltenes Referat einer Kollegin, die die Art der Dokumentation der Hauptverhandlung in allen europäischen Ländern untersucht hatte, brachte zum Vorschein, dass die Bundesrepublik nahezu an letzter Stelle steht und so wohl heute kaum Chancen hätte, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Das lässt aufhorchen. Andere Länder, die erst viel später einen demokratischen Weg eingeschlagen haben, sind diesbezüglich sehr viel weiter.
Inzwischen ist die Thematik auch bei der Bundesregierung angekommen, und es wurde erkannt, dass es notwendig ist, hier Veränderungen herbeizuführen. Der gegenwärtig amtierende Bundesjustizminister hat dazu auch Pläne für eine Videoaufzeichnung von Hauptverhandlungen im Strafprozess entwickelt. Das rief jetzt zahlreiche Richter auf den Plan, die er gegen sich aufbrachte. Angeblich gefährde das Vorhaben alle drei Maximen des Strafprozesses, die Wahrheitsfindung, die Gerechtigkeit und den Rechtsfrieden, wie einem aktuellen Beschluss der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Berliner Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs zu entnehmen ist. Die Argumentation vermag wenig zu überzeugen, da gerade durch eine bessere Dokumentation Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit verbessert werden können. Der Referentenentwurf des Justizministeriums beinhaltet, dass die Hauptverhandlung künftig in Bild und Ton aufgezeichnet werden soll und späterhin mittels einer Transkriptionssoftware in ein Textdokument umgewandelt wird. Dadurch bräuchten Mitschriften von Richtern, die immer nur subjektiv sein können, nicht mehr für die Urteilsbegründung herangezogen zu werden, weil dann eindeutige Zitate der Aussagen von Angeklagten und Zeugen möglich sind. Warum dies der Rechtssicherheit schaden soll, erschließt sich dem Betrachter nicht. Oder geht es am Ende doch darum, die bisherigen Spielräume weiter beizubehalten, mitunter auch aus Bequemlichkeit? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.