»Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind«, konstatierte Heinrich Mann in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in »Der tiefere Sinn der Republik«. In anderen Worten: Demokratie ist nicht nur als Staatsform, sondern auch als Lebensform zu verstehen, die von klein auf gelernt werden muss. Unsere demokratischen Werte lassen sich auf die Achtung der Menschenrechte zurückführen, wie zum Beispiel Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Demokratie lebt von Menschen, die sich beteiligen und geht über das Wählen-gehen weit hinaus: Im Fokus stehen Fragen der Legitimität, des Diskurses und Konsenses.
Je länger unsere Demokratie und unsere damit verbundenen Werte währen, desto stärker scheinen sie als selbstverständlich gegeben verstanden zu werden. Weshalb sonst sollten 44 Prozent der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen laut der gerade herausgekommenen Shell-Jugendstudie der autoritär gefärbten Aussage »eine starke Hand müsste mal wieder Ordnung in unseren Staat bringen« zustimmen? Warum sonst wird eine vom Verfassungsschutz in Sachsen und Thüringen als rechtsextremistisch eingestufte Partei für viele wählbar?
Grundlage der demokratischen Gemeinschaft sind ihre demokratisch denkenden und handelnden Mitglieder. Die Mitte-Studie hat einen deutlichen Anstieg an rechtsextremen Einstellungen aufgezeigt und ergeben, dass sich Teile der gesellschaftlichen Mitte von der Demokratie distanzieren und das Vertrauen in staatliche Institutionen abgenommen hat. Ein erheblicher Anteil der dort Befragten vertritt verschwörungsgläubige, populistische, völkische und autoritär rebellische Anschauungen.
Im Vergleich zum Jahr 2022 stieg die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten im Jahr 2023 deutlich um 22,4 Prozent auf 25.660 Delikte. Ein massiver Anstieg polizeilich erfasster antisemitischer Delikte fällt ebenfalls ins Jahr 2023. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich immer weiter nach rechts, geschichtsrevisionistische Aussagen, nationalistische und populistische Ausgrenzungs- und Abgrenzungsrhetoriken nehmen zu und Verschwörungsideologien verbreiten sich über moderne Kommunikationskanäle rasant.
Laut des Statistischen Bundesamtes sind über 20 Prozent der Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdet. Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status gehen seltener wählen und beteiligen sich auch anderweitig weniger als Personen mit einem höheren. In den vergangenen Jahrzehnten fand eine Akademisierung der Parteien und Parlamente statt. Teile der Gesellschaft sehen sich immer weniger politisch vertreten. In einigen Familien wird seit Generationen nicht mehr gewählt. Die Parteien erleben – ähnlich wie viele andere Organisationen und Vereine – seit Jahren einen erheblichen Mitgliederrückgang. Das Beteiligungsverhalten transformiert sich von organisationsbezogenen hin zu themenzentrierten Formen.
Trotz der schwierigen Lage gibt es fruchtbare Ansätze der Demokratiestärkung. Da Demokratie gelernt werden muss, kommt der Politischen Bildung eine zentrale Rolle zu, die im schulischen und außerschulischen Rahmen an Bedeutung gewinnen muss. Ziel ist hier, die Förderung von politischer Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenzen. Erfahrungsräume müssen geschaffen werden, in denen Menschen erleben, dass sie tatsächlich etwas bewegen können; denn eine Beteiligung ohne Veränderungsmöglichkeiten ist wirkungslos und demotivierend. Fahrlässig erscheint es da, wenn in diesem Bereich finanzielle Kürzungen diskutiert werden und in der Schule nicht mehr durchgängig Politikunterricht erteilt wird.
Ein Abbau von sozialen Partizipationsasymmetrien kann den sozialen Zusammenhalt stärken und die soziale Verzerrung der politischen Beteiligung reduzieren. Je niedriger die Hürden für eine Beteiligung sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen, auch unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund, beteiligen. Vielleicht braucht es auch veränderte Partizipationsmöglichkeiten, die der stärker themenbezogenen Beteiligung Rechnung tragen. Diskutiert werden neben direktdemokratischen auch verstärkt internetbasierte Verfahren und neue Formen der Aktivierung für eine Bürgerbeteiligung, wie zum Beispiel per Losverfahren.
Nicht zuletzt braucht es Menschen, die politisch sind, die politisch klar Position beziehen und Grenzen denjenigen gegenüber aufzeigen, die unsere demokratischen Werte missachten. Demokratie lässt sich nicht verordnen: Sie muss immer wieder neu ausgehandelt und geschützt werden – und das jeden Tag aufs Neue.