Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Herausgeforderte Demokratie

»Demo­kra­tie ist im Grun­de die Aner­ken­nung, dass wir, sozi­al genom­men, alle für­ein­an­der ver­ant­wort­lich sind«, kon­sta­tier­te Hein­rich Mann in den 20er Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts in »Der tie­fe­re Sinn der Repu­blik«. In ande­ren Wor­ten: Demo­kra­tie ist nicht nur als Staats­form, son­dern auch als Lebens­form zu ver­ste­hen, die von klein auf gelernt wer­den muss. Unse­re demo­kra­ti­schen Wer­te las­sen sich auf die Ach­tung der Men­schen­rech­te zurück­füh­ren, wie zum Bei­spiel Frei­heit, Gleich­heit, Soli­da­ri­tät und Gerech­tig­keit. Demo­kra­tie lebt von Men­schen, die sich betei­li­gen und geht über das Wäh­len-gehen weit hin­aus: Im Fokus ste­hen Fra­gen der Legi­ti­mi­tät, des Dis­kur­ses und Konsenses.

Je län­ger unse­re Demo­kra­tie und unse­re damit ver­bun­de­nen Wer­te wäh­ren, desto stär­ker schei­nen sie als selbst­ver­ständ­lich gege­ben ver­stan­den zu wer­den. Wes­halb sonst soll­ten 44 Pro­zent der befrag­ten Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen laut der gera­de her­aus­ge­kom­me­nen Shell-Jugend­stu­die der auto­ri­tär gefärb­ten Aus­sa­ge »eine star­ke Hand müss­te mal wie­der Ord­nung in unse­ren Staat brin­gen« zustim­men? War­um sonst wird eine vom Ver­fas­sungs­schutz in Sach­sen und Thü­rin­gen als rechts­extre­mi­stisch ein­ge­stuf­te Par­tei für vie­le wählbar?

Grund­la­ge der demo­kra­ti­schen Gemein­schaft sind ihre demo­kra­tisch den­ken­den und han­deln­den Mit­glie­der. Die Mit­te-Stu­die hat einen deut­li­chen Anstieg an rechts­extre­men Ein­stel­lun­gen auf­ge­zeigt und erge­ben, dass sich Tei­le der gesell­schaft­li­chen Mit­te von der Demo­kra­tie distan­zie­ren und das Ver­trau­en in staat­li­che Insti­tu­tio­nen abge­nom­men hat. Ein erheb­li­cher Anteil der dort Befrag­ten ver­tritt ver­schwö­rungs­gläu­bi­ge, popu­li­sti­sche, völ­ki­sche und auto­ri­tär rebel­li­sche Anschauungen.

Im Ver­gleich zum Jahr 2022 stieg die Gesamt­zahl der rechts­extre­mi­sti­schen Straf- und Gewalt­ta­ten im Jahr 2023 deut­lich um 22,4 Pro­zent auf 25.660 Delik­te. Ein mas­si­ver Anstieg poli­zei­lich erfass­ter anti­se­mi­ti­scher Delik­te fällt eben­falls ins Jahr 2023. Die Gren­zen des Sag­ba­ren ver­schie­ben sich immer wei­ter nach rechts, geschichts­re­vi­sio­ni­sti­sche Aus­sa­gen, natio­na­li­sti­sche und popu­li­sti­sche Aus­gren­zungs- und Abgren­zungs­rhe­to­ri­ken neh­men zu und Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien ver­brei­ten sich über moder­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le rasant.

Laut des Sta­ti­sti­schen Bun­des­am­tes sind über 20 Pro­zent der Men­schen von Armut oder sozia­ler Aus­gren­zung gefähr­det. Men­schen mit einem nied­ri­gen sozio­öko­no­mi­schen Sta­tus gehen sel­te­ner wäh­len und betei­li­gen sich auch ander­wei­tig weni­ger als Per­so­nen mit einem höhe­ren. In den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten fand eine Aka­de­mi­sie­rung der Par­tei­en und Par­la­men­te statt. Tei­le der Gesell­schaft sehen sich immer weni­ger poli­tisch ver­tre­ten. In eini­gen Fami­li­en wird seit Gene­ra­tio­nen nicht mehr gewählt. Die Par­tei­en erle­ben – ähn­lich wie vie­le ande­re Orga­ni­sa­tio­nen und Ver­ei­ne – seit Jah­ren einen erheb­li­chen Mit­glie­der­rück­gang. Das Betei­li­gungs­ver­hal­ten trans­for­miert sich von orga­ni­sa­ti­ons­be­zo­ge­nen hin zu the­men­zen­trier­ten Formen.

Trotz der schwie­ri­gen Lage gibt es frucht­ba­re Ansät­ze der Demo­kra­tie­stär­kung. Da Demo­kra­tie gelernt wer­den muss, kommt der Poli­ti­schen Bil­dung eine zen­tra­le Rol­le zu, die im schu­li­schen und außer­schu­li­schen Rah­men an Bedeu­tung gewin­nen muss. Ziel ist hier, die För­de­rung von poli­ti­scher Ana­ly­se-, Urteils- und Hand­lungs­kom­pe­ten­zen. Erfah­rungs­räu­me müs­sen geschaf­fen wer­den, in denen Men­schen erle­ben, dass sie tat­säch­lich etwas bewe­gen kön­nen; denn eine Betei­li­gung ohne Ver­än­de­rungs­mög­lich­kei­ten ist wir­kungs­los und demo­ti­vie­rend. Fahr­läs­sig erscheint es da, wenn in die­sem Bereich finan­zi­el­le Kür­zun­gen dis­ku­tiert wer­den und in der Schu­le nicht mehr durch­gän­gig Poli­tik­un­ter­richt erteilt wird.

Ein Abbau von sozia­len Par­ti­zi­pa­ti­ons­asym­me­trien kann den sozia­len Zusam­men­halt stär­ken und die sozia­le Ver­zer­rung der poli­ti­schen Betei­li­gung redu­zie­ren. Je nied­ri­ger die Hür­den für eine Betei­li­gung sind, desto grö­ßer ist die Wahr­schein­lich­keit, dass sich Men­schen, auch unab­hän­gig von ihrem sozia­len Hin­ter­grund, betei­li­gen. Viel­leicht braucht es auch ver­än­der­te Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­kei­ten, die der stär­ker the­men­be­zo­ge­nen Betei­li­gung Rech­nung tra­gen. Dis­ku­tiert wer­den neben direkt­de­mo­kra­ti­schen auch ver­stärkt inter­net­ba­sier­te Ver­fah­ren und neue For­men der Akti­vie­rung für eine Bür­ger­be­tei­li­gung, wie zum Bei­spiel per Losverfahren.

Nicht zuletzt braucht es Men­schen, die poli­tisch sind, die poli­tisch klar Posi­ti­on bezie­hen und Gren­zen den­je­ni­gen gegen­über auf­zei­gen, die unse­re demo­kra­ti­schen Wer­te miss­ach­ten. Demo­kra­tie lässt sich nicht ver­ord­nen: Sie muss immer wie­der neu aus­ge­han­delt und geschützt wer­den – und das jeden Tag aufs Neue.