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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Herausforderung China

Chi­na, Russ­land und der Westen: Was folgt aus die­ser Kon­stel­la­ti­on, wenn Chi­na die Ent­wick­lung sei­nes »Sozia­lis­mus mit chi­ne­si­schem Gesicht« mit dem Rück­griff auf sei­ne tra­di­tio­nel­le Kul­tur ver­bin­det und sich in die­ser Wei­se in das Welt­ge­sche­hen ein­bringt? Bleibt die­ser Impuls auf Chi­na beschränkt oder wirkt er als Her­aus­for­de­rung an die übri­ge Welt, sich in den Zei­ten des »Gro­ßen Umbruchs« in glei­cher Wei­se auf ihre Tra­di­tio­nen zu besin­nen? Und wel­chen Cha­rak­ter könn­te die­se Besin­nung tra­gen? Hie­ße Rück­be­sin­nung nur, die west­li­chen »Wer­te«, die in den letz­ten Jahr­hun­der­ten das Welt­ge­sche­hen bestimmt haben, gegen die chi­ne­si­sche, die asia­ti­sche Her­aus­for­de­rung zu behaupten?

Kom­men wir gleich zum Kern: Mit Chi­nas Ein­tritt in den Kreis der füh­ren­den Moder­ni­sten wird die Dyna­mik der Tech­ni­sie­rung des Lebens rasant beschleu­nigt. Dazu muss man sich nur die aktu­el­le Ent­wick­lung der Digi­ta­li­sie­rung anschau­en. Ver­schär­fung der Kon­kur­renz ist ange­sagt, bei der Chi­na als trei­ben­de Kraft vor­an­drängt. Klar ist, dass im »Sozia­lis­mus mit chi­ne­si­schem Gesicht«, der Chi­nas 5000jährige Kul­tur­ge­schich­te ins Gepäck nimmt, eine gei­sti­ge Her­aus­for­de­rung auf den »Westen« zukommt, die nach Ant­wor­ten ver­langt. Klar ist auch, dass mit Chi­nas »Renais­sance«, die aus dem letz­ten Jahr­hun­dert stam­men­de poli­ti­sche Ord­nung auf dem Glo­bus neu justiert wird. Der bipo­la­ren, danach uni­po­la­ren folgt nach dem kur­zen mul­ti­po­la­ren Über­gang jetzt eine tri­po­la­re Welt­ord­nung, gebil­det von Euro-Ame­ri­ka, Russland/​Eurasien, Chi­na-Süd­ost­asi­en. Um die­se drei Schwer­punk­te her­um bil­den sich zur­zeit die neu­en glo­ba­len Kraftlinien.

Damit ent­steht eine neue Rea­li­tät: Ablö­sung des Dua­lis­mus des Kal­ten Krie­ges, eben­so wie der uni­po­la­ren US-Hege­mo­nie durch die Drei­po­lig­keit die­ser sich neu her­aus­bil­den­den Kraft­zen­tren. Hier­in liegt die Gefahr neu­er Kon­fron­ta­tio­nen, aber auch die Chan­ce, über die bis­he­ri­ge pre­kä­re Sta­gna­ti­on hin­aus­zu­kom­men. Dem poli­ti­schen Tages­ge­sche­hen allein ist aller­dings noch nicht zu ent­neh­men, ob die Chan­ce auch wahr­ge­nom­men wird. Zur­zeit sind die drei Haupt­ak­teu­re damit beschäf­tigt, ihre Ein­fluss­zo­nen mit Sank­tio­nie­run­gen gegen­ein­an­der abzu­stecken und ihre Aggres­si­ons-Poten­tia­le aufzurüsten.

Län­ger­fri­stig lie­gen die Chan­cen aber in der gegen­sei­ti­gen Durch­drin­gung, Anre­gung und För­de­rung der histo­risch gewach­se­nen Men­ta­li­tä­ten der drei genann­ten Kul­tur­räu­me. In Stich­wor­te gefasst sind das: Der indi­vi­dua­li­sier­te, vom selbst­be­wuss­ten Ich getrie­be­ne Pio­nier­geist des Westens, die prag­ma­ti­sche Ein­ord­nung des Ich in die kos­mi­sche Ord­nung im chi­ne­si­schen, die intui­ti­ve Spon­ta­nei­tät des Ich zwi­schen die­sen Extre­men im rus­sisch-eura­si­schen Raum.

Damit sind die Stär­ken der drei Kul­tur­räu­me skiz­ziert, die man im Detail noch wei­ter anschau­en muss, um zu den gei­sti­gen Wur­zeln zu kom­men, aus denen sie ihre Kraft bezie­hen – das alte tao­isti­sche und kon­fu­zia­ni­sche Erbe Chi­nas, das ägyp­tisch-grie­chisch-römi­sche Erbe Euro-Ame­ri­kas, das spi­ri­tu­el­le und scha­ma­ni­sche Erbe Russ­lands als Herz­land Eura­si­ens zwi­schen Osten und Westen, um hier nur anzu­deu­ten, wohin genau­er zu schau­en sein wird. Am Ende der Skiz­ze wer­den dann aber auch die ver­ein­sei­tig­ten Extre­me sicht­bar, die immer wie­der aus der Geschich­te her­vor­tre­ten: Da wird der Pio­nier des Westens zum Erobe­rer, die kos­mi­sche Ein­ord­nung in Chi­na zur Unter­ord­nung, die rus­sisch-eura­si­sche Spon­ta­nei­tät zur Unbe­re­chen­bar­keit. Die­se Liste endet beim impe­ria­len Ego des Westens, im auto­ri­tä­ren Kon­troll­staat Chi­nas, im rus­sisch-eura­si­schen Chaos.

Eine umfas­sen­de Rück­schau, die Hand­ha­bung für den bewuss­ten Aus­tausch gibt, kann hier nur als Auf­ga­be benannt wer­den. So viel aber ist sicher: Eine lebens­för­der­li­che Zukunft, die die Ödnis einer ver­ein­heit­lich­ten, welt­um­grei­fen­den, tech­ni­schen, genau­er bio-digi­ta­len Zivi­li­sa­ti­on über­win­den könn­te, kann sich nur dann eröff­nen, wenn nicht nur Chi­na sich auf sei­ne gei­sti­gen Wur­zeln besinnt und sie ins Welt­ge­sche­hen ein­bringt, son­dern Euro-Ame­ri­ka und Russland/​Eurasien eben­so, ohne dass gegen­sei­ti­ge Herr­schafts­an­sprü­che gestellt werden.

Selbst­ver­ständ­lich sind mit den genann­ten Cha­rak­te­ri­sie­run­gen kei­ne Indi­vi­du­en fest­ge­legt, noch ist damit aus­ge­sagt, dass alle Men­schen unter das­sel­be Muster der jeweils genann­ten Kul­tur­räu­me fal­len. Es gibt selbst­ver­ständ­lich Pio­nie­re, Prag­ma­ti­ker, see­len­vol­le Men­schen in jedem der drei Kul­tur­räu­me wie auch in ande­ren Tei­len der Welt. Auch die Räu­me selbst, also Westen, Chi­na, Russland/​Eurasien, sind in sich wider­sprüch­lich und die in ihnen wir­ken­den Kräf­te sind nicht auf sie beschränkt; die Räu­me durch­drin­gen sich gegen­sei­tig und bezie­hen die glo­ba­le Wirk­lich­keit um sich her­um mit ein.

Sehr wohl aber tref­fen in der Begeg­nung zwi­schen dem »Westen«, Chi­na und Russland/​Eurasien nicht nur poli­ti­sche Blöcke, son­dern die heu­te ein­fluss­reich­sten drei Kul­tur- und Geschichts­strö­me auf­ein­an­der. Sol­ches Auf­ein­an­der­tref­fen kann zur Her­aus­bil­dung eines neu­en, über bis­he­ri­ge kul­tu­rel­le und natio­na­le Ein­sei­tig­kei­ten hin­aus­ge­hen­den Zeit­gei­stes füh­ren. In ihm kön­nen sich Impul­se der Selbst­be­stim­mung nach west­li­cher Tra­di­ti­on, prag­ma­ti­sche Ein­fü­gung in die Gemein­schaft nach chi­ne­si­scher Art und die intui­ti­ve Spon­ta­nei­tät nach Art der rus­sisch-eura­si­schen Men­schen gegen­sei­tig ergän­zen, för­dern und, wo nötig, in ihren Ein­sei­tig­kei­ten rela­ti­vie­ren. Das kann einen gei­sti­gen und sozia­len Raum öff­nen, in dem sich der ein­zel­ne Mensch in der Drei­heit von Ich, Gemein­schaft und kos­mi­scher Intui­ti­on selbst­be­stimmt fin­den kann – wenn die drei jetzt auf­ein­an­der­tref­fen­den Kul­tu­ren, das heißt, wenn die Men­schen, die von die­sen Kul­tu­ren geprägt sind, ein­an­der in Ach­tung begeg­nen, von­ein­an­der ler­nen und nicht in die Kon­fron­ta­ti­on gehen.

Anders gesagt, was sich in die­ser tri­po­la­ren Kon­stel­la­ti­on als mög­li­che zukünf­ti­ge Ent­wick­lung andeu­tet, ist eine Welt, die mono­po­li­sti­sche und dua­li­sti­sche Denk- und Hand­lungs­mu­ster bis in die sozia­len Struk­tu­ren hin­ein welt­weit in Bewe­gung brin­gen kann – wenn der Impuls als Signal für die Zukunft ver­stan­den und ergrif­fen wird.

Was gesche­hen könn­te, wenn die USA, Chi­na und Russ­land nicht in den leben­di­gen Aus­tausch tre­ten, son­dern sich nur gegen­sei­tig belau­ern, kann in Geor­ge Orwells »1984« nach­ge­le­sen wer­den, in dem Ozea­ni­en, Eura­si­en und Ost­asi­en einen nicht gewinn­ba­ren Dau­er­krieg füh­ren, für den sie die Bevöl­ke­rung im Dau­er­kriegs­zu­stand hal­ten. Orwells Alb­traum kann als Mah­nung gele­sen wer­den, wohin wir heu­te nicht kom­men wollen.

Von Kai Ehlers (www.kai-ehlers.de) ist zum The­ma erschie­nen: Asi­ens Sprung in die Gegen­wart: Russ­land, Chi­na, Mon­go­lei. Ent­wick­lung eines Kul­tur­raums, Pforte/​Entwürfe, April 2006, ISBN 3-85636-189-8, 10,00 € (https://kai-ehlers.de/buch/asiens-sprung-in-die-gegenwart-russland-china-mongolei-die-entwicklung-eines-kultur).