China, Russland und der Westen: Was folgt aus dieser Konstellation, wenn China die Entwicklung seines »Sozialismus mit chinesischem Gesicht« mit dem Rückgriff auf seine traditionelle Kultur verbindet und sich in dieser Weise in das Weltgeschehen einbringt? Bleibt dieser Impuls auf China beschränkt oder wirkt er als Herausforderung an die übrige Welt, sich in den Zeiten des »Großen Umbruchs« in gleicher Weise auf ihre Traditionen zu besinnen? Und welchen Charakter könnte diese Besinnung tragen? Hieße Rückbesinnung nur, die westlichen »Werte«, die in den letzten Jahrhunderten das Weltgeschehen bestimmt haben, gegen die chinesische, die asiatische Herausforderung zu behaupten?
Kommen wir gleich zum Kern: Mit Chinas Eintritt in den Kreis der führenden Modernisten wird die Dynamik der Technisierung des Lebens rasant beschleunigt. Dazu muss man sich nur die aktuelle Entwicklung der Digitalisierung anschauen. Verschärfung der Konkurrenz ist angesagt, bei der China als treibende Kraft vorandrängt. Klar ist, dass im »Sozialismus mit chinesischem Gesicht«, der Chinas 5000jährige Kulturgeschichte ins Gepäck nimmt, eine geistige Herausforderung auf den »Westen« zukommt, die nach Antworten verlangt. Klar ist auch, dass mit Chinas »Renaissance«, die aus dem letzten Jahrhundert stammende politische Ordnung auf dem Globus neu justiert wird. Der bipolaren, danach unipolaren folgt nach dem kurzen multipolaren Übergang jetzt eine tripolare Weltordnung, gebildet von Euro-Amerika, Russland/Eurasien, China-Südostasien. Um diese drei Schwerpunkte herum bilden sich zurzeit die neuen globalen Kraftlinien.
Damit entsteht eine neue Realität: Ablösung des Dualismus des Kalten Krieges, ebenso wie der unipolaren US-Hegemonie durch die Dreipoligkeit dieser sich neu herausbildenden Kraftzentren. Hierin liegt die Gefahr neuer Konfrontationen, aber auch die Chance, über die bisherige prekäre Stagnation hinauszukommen. Dem politischen Tagesgeschehen allein ist allerdings noch nicht zu entnehmen, ob die Chance auch wahrgenommen wird. Zurzeit sind die drei Hauptakteure damit beschäftigt, ihre Einflusszonen mit Sanktionierungen gegeneinander abzustecken und ihre Aggressions-Potentiale aufzurüsten.
Längerfristig liegen die Chancen aber in der gegenseitigen Durchdringung, Anregung und Förderung der historisch gewachsenen Mentalitäten der drei genannten Kulturräume. In Stichworte gefasst sind das: Der individualisierte, vom selbstbewussten Ich getriebene Pioniergeist des Westens, die pragmatische Einordnung des Ich in die kosmische Ordnung im chinesischen, die intuitive Spontaneität des Ich zwischen diesen Extremen im russisch-eurasischen Raum.
Damit sind die Stärken der drei Kulturräume skizziert, die man im Detail noch weiter anschauen muss, um zu den geistigen Wurzeln zu kommen, aus denen sie ihre Kraft beziehen – das alte taoistische und konfuzianische Erbe Chinas, das ägyptisch-griechisch-römische Erbe Euro-Amerikas, das spirituelle und schamanische Erbe Russlands als Herzland Eurasiens zwischen Osten und Westen, um hier nur anzudeuten, wohin genauer zu schauen sein wird. Am Ende der Skizze werden dann aber auch die vereinseitigten Extreme sichtbar, die immer wieder aus der Geschichte hervortreten: Da wird der Pionier des Westens zum Eroberer, die kosmische Einordnung in China zur Unterordnung, die russisch-eurasische Spontaneität zur Unberechenbarkeit. Diese Liste endet beim imperialen Ego des Westens, im autoritären Kontrollstaat Chinas, im russisch-eurasischen Chaos.
Eine umfassende Rückschau, die Handhabung für den bewussten Austausch gibt, kann hier nur als Aufgabe benannt werden. So viel aber ist sicher: Eine lebensförderliche Zukunft, die die Ödnis einer vereinheitlichten, weltumgreifenden, technischen, genauer bio-digitalen Zivilisation überwinden könnte, kann sich nur dann eröffnen, wenn nicht nur China sich auf seine geistigen Wurzeln besinnt und sie ins Weltgeschehen einbringt, sondern Euro-Amerika und Russland/Eurasien ebenso, ohne dass gegenseitige Herrschaftsansprüche gestellt werden.
Selbstverständlich sind mit den genannten Charakterisierungen keine Individuen festgelegt, noch ist damit ausgesagt, dass alle Menschen unter dasselbe Muster der jeweils genannten Kulturräume fallen. Es gibt selbstverständlich Pioniere, Pragmatiker, seelenvolle Menschen in jedem der drei Kulturräume wie auch in anderen Teilen der Welt. Auch die Räume selbst, also Westen, China, Russland/Eurasien, sind in sich widersprüchlich und die in ihnen wirkenden Kräfte sind nicht auf sie beschränkt; die Räume durchdringen sich gegenseitig und beziehen die globale Wirklichkeit um sich herum mit ein.
Sehr wohl aber treffen in der Begegnung zwischen dem »Westen«, China und Russland/Eurasien nicht nur politische Blöcke, sondern die heute einflussreichsten drei Kultur- und Geschichtsströme aufeinander. Solches Aufeinandertreffen kann zur Herausbildung eines neuen, über bisherige kulturelle und nationale Einseitigkeiten hinausgehenden Zeitgeistes führen. In ihm können sich Impulse der Selbstbestimmung nach westlicher Tradition, pragmatische Einfügung in die Gemeinschaft nach chinesischer Art und die intuitive Spontaneität nach Art der russisch-eurasischen Menschen gegenseitig ergänzen, fördern und, wo nötig, in ihren Einseitigkeiten relativieren. Das kann einen geistigen und sozialen Raum öffnen, in dem sich der einzelne Mensch in der Dreiheit von Ich, Gemeinschaft und kosmischer Intuition selbstbestimmt finden kann – wenn die drei jetzt aufeinandertreffenden Kulturen, das heißt, wenn die Menschen, die von diesen Kulturen geprägt sind, einander in Achtung begegnen, voneinander lernen und nicht in die Konfrontation gehen.
Anders gesagt, was sich in dieser tripolaren Konstellation als mögliche zukünftige Entwicklung andeutet, ist eine Welt, die monopolistische und dualistische Denk- und Handlungsmuster bis in die sozialen Strukturen hinein weltweit in Bewegung bringen kann – wenn der Impuls als Signal für die Zukunft verstanden und ergriffen wird.
Was geschehen könnte, wenn die USA, China und Russland nicht in den lebendigen Austausch treten, sondern sich nur gegenseitig belauern, kann in George Orwells »1984« nachgelesen werden, in dem Ozeanien, Eurasien und Ostasien einen nicht gewinnbaren Dauerkrieg führen, für den sie die Bevölkerung im Dauerkriegszustand halten. Orwells Albtraum kann als Mahnung gelesen werden, wohin wir heute nicht kommen wollen.
Von Kai Ehlers (www.kai-ehlers.de) ist zum Thema erschienen: Asiens Sprung in die Gegenwart: Russland, China, Mongolei. Entwicklung eines Kulturraums, Pforte/Entwürfe, April 2006, ISBN 3-85636-189-8, 10,00 € (https://kai-ehlers.de/buch/asiens-sprung-in-die-gegenwart-russland-china-mongolei-die-entwicklung-eines-kultur).