Vergessen oder Erinnern? Schlussstrich oder Aufarbeitung? Strafverfolgung oder Amnestierung? Reue oder Rechtfertigung des Unrechts? Jahrzehntelang blieben diese Fragen strittig in der Bundesrepublik Deutschland. Mächtige Interessen arbeiteten mit großer Energie und unter skrupellosem Einsatz ihres juristischen Sachverstands im Dienste des Vergessens. Ehemalige NS-Militärrichter – und nicht nur sie – bogen in unserem Lande das Recht, so wie sie es zuvor schon im NS-Staat getan hatten. Aber 1996, also mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Unrechtsstaat, beichtete der – personell verjüngte – Bundesgerichtshof: Die Kriegsrichter hätten als »Terrorjustiz« gehandelt. Sie seien »Blutrichter« gewesen, die sich eigentlich »wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen«. Kurz davor hatte die »Wehrmachtsausstellung« mit der Legende von der »sauberen« Wehrmacht aufgeräumt.
Das war endlich einmal eine Zeit der Genugtuung für Juristen wie Helmut Kramer, Otto Gritschneder und Manfred Messerschmidt, die sich seit Jahrzehnten kritisch mit der NS-Justiz auseinandergesetzt hatten. Gegen große Widerstände – man denke an Filbinger noch 1978 – durchleuchteten sie vor allem die Militärjustiz, die sich am braunen Durchhalteterror mit etwa 30.000 schändlichen Todesurteilen gegen deutsche Soldaten beteiligt hatte. Zur Rechenschaft gezogen wurde sie dafür nie.
Beruflich arbeitete Dr. Helmut Kramer als Richter am Oberlandesgericht Braunschweig. Zusammen mit Gleichgesinnten gründete er das Forum Justizgeschichte e. V., das er lange Zeit auch leitete. Mit dem Forum veranstaltete er wissenschaftliche Fachtagungen in der Richterakademie Wustrau. Zugleich wirkte er als Vorsitzender der Fachgruppe Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. 2010 erhielt er den Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union. Seine justizgeschichtlichen Fachkenntnisse stellte Kramer auch den Ausschüssen des Deutschen Bundestages zur Verfügung, die an der gesetzlichen Rehabilitierung der Opfer der NS-Justiz arbeiteten. In seiner Heimatstadt kämpft Kramer noch immer hartnäckig, ja verbissen darum, dass in der Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel – das Strafgefängnis diente in der NS-Zeit als »Zentrale Hinrichtungsstätte« – nicht nur an die Opfer erinnert wird, sondern auch die Täter und das von ihnen begangene Unrecht angemessen dargestellt werden.
Ebenso wie seine 2014 verstorbene Frau Barbara, die als Juristin Kriegsdienstverweigerern zur Seite stand und Vorstandsarbeit im Braunschweiger Friedenszentrum leistete, ist Helmut Kramer Pazifist. Zeitlebens beschäftigte ihn die Frage, weshalb sich deutsche Juristen immer wieder in den Dienst des militärischen Machtstaates stellten, statt gegen Krieg, Kriegsverbrechen, Geheimrüstungen und Menschenrechtsverstöße aller Art mit den Mitteln der Justiz zu opponieren und Kriegsgegnern beizustehen. Die Antwort gibt der Band »Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert«, den Helmut Kramer und ich herausgegeben haben (Aufbau Verlag 2004, Vorwort von Hans Jochen Vogel).
Helmut Kramer hat als kritischer Jurist eine beachtliche Lebensleistung vollbracht. Mit Engagement, Hartnäckigkeit und Zivilcourage kämpfte er gegen das Vergessen des Unrechts – und tut es noch heute. Zu seinem 90. Geburtstag würdigen ihn Freunde und Wegbegleiter in Braunschweig mit einem Festkolloquium als »Richter – Mahner – Streiter«.