Wer dieses Buch liest, sollte sich nicht täuschen lassen: Zum einen vom Cover, das die Rückansicht einer Frau im Badeanzug zeigt – wirksamer Blickfang vielleicht, aber es geht im Buch nicht um Freizeitspaß. Zum anderen nicht von der überschwappenden Beredsamkeit, ja Redseligkeit seiner Autorin, die Schwachpunkte des Textes verursachen. Stringenter erzählt – wir hätten es mit einer Geschichte zu tun, die ganz und gar in den Bann schlägt. Dass man trotz der Weitschweifigkeit, vieler Nebengeschichten, dem dauernden Teetrinken (zunehmend allerdings Whisky), der Esszeremonien und ständig wiederholter Floskeln gefesselt bleibt und weiterlesen will, hat mit der Geschichte zu tun, die kalt und klar diese ist: Bei der Putzfrau Frances Delaney, 58 Jahre alt, wird ein aggressiver Hirntumor diagnostiziert. »Glioblastoma multiforme«, sagt sie laut zur Ärztin. Und sie fügt, nach innen sprechend, hinzu: »Ich wusste, dass ich es richtig ausgesprochen hatte, und war zufrieden.« Was vielleicht ein wenig rotzig klingt, zeichnet aber diese vom Leben nicht verwöhnte Frau für den Leser ganz scharf. Sie ist so: Mit scharfem Verstand begabt, belesen, schüchtern, einsam, von ihrer Putzarbeit wirklich erfüllt, bescheiden, einverstanden mit dem Platz, auf den das Leben sie gestellt hat. Der Autorin, der ehemaligen Psychiaterin Bobbi French, gelingt es, und das ist ein Vorzug des Buches, die Figur Frances Delaney glaubhaft vorzuführen – auch wenn diese Gestalt gewiss aus mehreren Biografien entstanden ist.
Frances lehnt die möglichen Therapien ab, die ihre Lebenszeit von vielleicht noch zehn bis zwölf Monaten etwas verlängern würden: »Monate, die ich krank, verängstigt, allein und, was vielleicht am wichtigsten war, ohne Einkommen verbringen würde.« Sterben liege in ihrem Budget, resümiert sie, das Dahinsiechen nicht. Es sei nicht einfach, einen Staubsauger vor sich her zu schieben, mit einem Fuß im Grabe.
Die Szene dieses Dramas – die von Dialogen geprägte Erzählweise legt die Bezeichnung ebenfalls nahe – spielt im kanadischen Neufundland, hauptsächlich in der Provinzhauptstadt St. John’s und im, nach Versicherung der Autorin, fiktiven Safe Harbour, weil es nämlich einen Ort gleichen Namens gibt.
In Kanada praktiziert man einen liberalen Umgang mit dem ärztlich assistierten Suizid. Wer den Roman liest, sollte sich begleitend ein paar Informationen darüber verschaffen, denn als Frances sich dazu entschließt, liest sich das bei Bobbi French so: »Sie müssen einen offiziellen, schriftlichen Antrag stellen, und Sie brauchen eine unabhängige Person, die alles bezeugen kann. Nehmen Sie sich Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken. Sie können Ihre Meinung jederzeit ändern.«
Frances tut das nicht und lebt gewissermaßen unter Volldampf auf ihr nahes Ende zu, dessen Termin sie selbst festlegt. Die »unabhängige Person«, die Zeugin, ist die ehemalige Nonne Schwester Barb, die aber nicht Gott den Rücken gekehrt hat, wie sie sagt. Sie ist, obwohl sie nur wenige »Auftritte« im Buch hat, eine der Figuren, die mit ihrer zurückhaltenden Menschlichkeit, ihrer Fähigkeit zur Zuwendung und verständnisvollen Hilfsbereitschaft im Gedächtnis bleiben. Vielleicht auch, weil die Autorin sie nicht mit der sprachlich ruppigen Attitüde auftreten lässt, die den meisten anderen Romanfiguren eignet. Freilich ist im Umgang mit Frances eine harsche Ausdrucksweise auch Schutzschild.
Die Begegnung Frances‘ mit Schwester Barb ist ein Wiedersehen. Denn sie wirkte einst in einem katholischen »Heim«, in dem ungewollt schwanger gewordene Frauen, hier besser Mädchen, ihre Kinder zur Welt bringen konnten, die dann zur Adoption freigegeben wurden.
Das weggenommene Kind heißt nach Frances‘ Mutter Georgina, deren Leben durch Selbstmord endet. Frances‘ Vater ist auf See umgekommen.
Mit all diesen Defiziten und Verlusten lebt Frances Delaney nun einmal rückwärts und gleichzeitig, fast rauschhaft, vorwärts. Denn in den wenigen Wochen, die ihr zum ohnehin eingeschränkten Leben bleiben, wird ihr geschenkt, wonach sie ein Leben lang vergeblich gesucht hat: Liebe. Eine Jugendliche wird ihr zur Freundin und eigentlich zur Tochter, sie lernt die Welt der Frisiersalons und Bars kennen, sie begegnet in Safe Harbour ihrer Jugendfreundin Annie wieder, nach Jahren der Missverständnisse und des gegenseitigen Meidens. Frances und Annie beginnen sogar ein Liebesverhältnis, das beiden Frauen die Erfüllung gibt, die sie vorher nie gefunden haben.
Das Leben prasselt also zuletzt in seinem Überfluss auf Frances nieder, und das wird durchaus fesselnd vorgeführt. Auch wird überzeugend gezeigt, wie man sich angesichts der »letzten Dinge« selbst verstehen und annehmen, mit sich Frieden machen kann. Wenn die Autorin auch manchmal etwas zu viel des Guten tut und alle großen und kleinen Probleme und Banalitäten der Gegenwart in die Handlung hineinpresst, so wird das Leben Frances‘ doch konsequent zu Ende erzählt. Dass man sie lesend unbedingt begleiten, gar nichts anderen tun kann und will, zeigt ganz klar, dass mit diesem Buch etwas thematisiert wird, worüber wir in unserem Land endlich einmal sprechen sollten, ohne uns der Sprachhülsen unserer »Standpunkte« zu bedienen. Denn wichtig ist doch, dass, wie in diesem Falle Frances Delaney, Menschen heimkehren können, wenn sie es wollen.
Bobbi French, Die guten Frauen von Safe Harbour, Roman, aus dem Englischen von Carina Tessari, Diederichs 2022, 352 S., 22 €.