Heimat, ja! Was denn sonst? Das ist doch, wonach wir uns alle sehnen. Lasst uns Volkslieder singen und unsere Hymne schmettern, lasst uns um den Mai-Baum tanzen, lasst uns Würstchen und Sauerkraut, Schnitzel und Spätzle essen, lasst uns Bier trinken, lasst uns Fahnen schwenken! Das eint uns, das schützt uns vor den von außen überall anbrandenden Gefahren, vor verderblichen Einflüssen, die uns verwirren, die uns zu Fremden im eigenen Land machen, die unsere »Identität« untergraben. Damit Schluss zu machen, steht nun endlich ganz oben auf der politischen Agenda. Wurde auch Zeit.
Eine beispielhafte Aufzählung: Die CDU möchte unserem lädierten Heimatgefühl durch eine verstärkte Pflege des deutschen Liedguts neue Kraft einhauchen, die NPD hat beschlossen, dass die Partei künftig den Namen »Die Heimat« trägt, die AfD, die das Land den Deutschen zurückgeben will, stürmt von einem Umfragehoch zum nächsten, Kommentatoren fordern gebetsmühlenartig, dass die deutsche Außenpolitik die »nationalen Interessen« (damit sind in der Regel die wirtschaftlichen Interessen von Privatunternehmen und Aktiengesellschaften gemeint) stärker in den Fokus rücken solle, in Italien wird von der Regierungspartei ein Gesetzesentwurf eingebracht, wonach künftig die Verwendung ausländischer Begriffe unter Strafe gestellt werden soll (siehe Ossietzky Nr. 9/2023), in Schweden sind die »Schwedendemokraten«, die aus der rassistischen Bewegung »Schweden soll schwedisch bleiben« hervorgingen, seit 2022 zweitstärkste Kraft im Parlament, in vielen Ländern gibt es inzwischen »Heimatschutzministerien«, ohne dass genau angegeben werden könnte, was da wogegen oder gegen wen geschützt werden muss, »America first!«, der »Brexit«, der »Rassemblement National« in Frankreich – die Reihe ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Hier findet eine weltweite Re-Nationalisierung statt, die nicht Gutes erahnen lässt. Die einstmals erträumte Weltgesellschaft ist auf dem Rückweg in die Barbarei, in die Zersplitterung lokaler, gegeneinander konkurrierender »Gemeinschaften«. Wie das ausgeht, könnten wir wissen!
»Back tot he roots!«, heißt es allerorten. (Diese »Wurzeln« liegen übrigens, nebenbei erwähnt, eher in Äthiopien als in Sachsen, Thüringen, Bayern, Schleswig-Holstein oder Schweden.) Als ließen sich die kalten, überall blinkenden Displays durch ein Lagerfeuer, die undurchschaubaren und schon längst nicht mehr verstehbaren Finanz-, Daten- und Menschenströme durch Volkslieder und eine patriotische Gesinnung bannen – statt durch Aufklärung und politische Regulierung.
Was aber ist das, was da immer lautstärker beschworen wird, was jedoch angesichts weiter zunehmender, durch Kriege, Armut, Hunger und extreme Wetterlagen erzwungener »Mobilität« (nach neuestem UN-Report haben die Flüchtlingszahlen Ende 2022 mit weltweit 110 Millionen einen neuen Höchststand erreicht) immer antiquierter anmutet? Welches Problem wird durch die Beschwörung des je »Eigenen« gelöst? Und was soll das sein, das »Eigene«, das uns angeblich landesweit zu einer irgendwie homogenen Einheit macht, die so anders ist als die Einheiten anderswo?
Heimat! Natürlich. Damit verbinden wir den Ort der Kindheit, der familiären Geborgenheit und des Vertrauens, der Sprache und der Kultur, der Zugehörigkeit und der Verwurzelung. Klingt schön! Seltsam aber ist, dass diese Heimat immer erst zum Leben erwacht, wenn all die ihr zugeschriebenen Bestandteile »irgendwie« bedroht erscheinen. Häufig beginnt die Heimat überhaupt erst aus der Ferne zu glänzen, entsteht aus zeitlicher und räumlicher Distanz, ist nur mehr »alte Heimat«, das Land der Seele und der Imagination. Erweist sich Heimat damit am Ende nicht in Wahrheit als eine Chimäre, als die Sehnsucht nach einer, wie es Ernst Bloch genannt hat, »Landschaft der Kindheit, worin noch niemand war«?
Ich halte die Bloch’sche Einschätzung für absolut zutreffend. Allerdings klingt sie weitaus harmloser, als sie ist. Eine auf Heimat gründende, kollektive »Identität« ist im Wesentlichen Ressentiment, ist exklusiv, nicht inklusiv, sie sucht in erster Linie Abgrenzung und betreibt Ausgrenzung – und mündet, historisch gesehen, immer in Gewalt. Gerade in Europa sowie in Afrika und Teilen Asiens, wo in den vergangenen Jahrhunderten durch Kriege und willkürliche Grenzziehungen so viel Heimat geraubt und verloren und der Heimatbegriff durch wechselnde Ideologien missbraucht wurde, ist die Frage nach der je eigenen Verortung immer schon prekär.
Wo gehöre ich hin? Wo bin ich in dieser globalisierten, immer einförmiger werdenden Welt zu Hause? Nirgends? Nein, überall! Überall dort, wo ich mich wohlfühle, wo meine Rechte garantiert sind, wo ich in meinem »Sosein« akzeptiert werde, wo ich frei bin. Gerade letzteres ist entscheidend. Das wusste schon einer der frühen deutschen Demokraten, der Philosoph und Revolutionär Arnold Ruge: »Die Freiheit ist nicht national«, sie verträgt sich nicht mit landsmannschaftlicher, lokaler und regionaler Verhaftung, ebenso wenig mit patriotischem Getöse. Unter diesen – leider den üblichen – Bedingungen wird Heimat zum Kampfbegriff. Dabei kann sie sich erst jenseits solcher »Verhärtungen« wirklich entfalten.
Nur im Erleben von Vielfalt und Unterschiedlichkeit können meine »Heimatsinne« nach und nach wachsen und am Ende in Gesten, Landschaften und Lebensgeschichten, in Begegnungen und menschlichen Beziehungen ihr selbst gewähltes zuhause finden. An jedem Ort. Natürlich können hierbei auch feste Gemeinschaften entstehen, können sich Gruppen, Mannschaften, Parteien bilden, deren Angehörige einige oder viele (Identitäts-)Merkmale – Sprachen, Überzeugungen, Leidenschaften, Vorlieben, Marotten, Abneigungen – teilen. Auch solche sozialen (Ver-)Bindungen können »Heimat« sein, Zusammenhalt stiften und Sicherheit geben, bewegen sich aber stets auf einem schmalen Grat. Sobald die Einhegung des Gemeinsamen zur Wagenburg wird – und wann und wo wäre das jemals nicht passiert? –, um sich von anderen Gruppen abzugrenzen und zu schützen, ist es zur »Feindstellung« und Kampfbereitschaft nicht mehr weit. Das Soziale schlägt in Asoziales um und wird konfrontativ – und am Ende zum Weg in die Sartre’sche Hölle: »Die Hölle, das sind die anderen.«
Jede und jeder wird – auch aus privaten Erfahrungen – bestätigen können, dass das einer die liebsten Irrwege von uns Menschen ist: Neues, Fremdes, Anderes ablehnen und bekämpfen! Dabei sollten wir – ebenfalls auch wieder aus privaten Erfahrungen – wissen, dass das Gegenteil richtig ist: Das Neue ist nicht der Feind des Alten, so wenig wie das Fremde der Feind des Eigenen ist. Aber die Spannung zwischen diesen beiden Polen prägt das gesellschaftliche Leben seit jeher. Historisch gesehen waren dabei immer jene Gesellschaften am erfolgreichsten, die auf Integration statt auf Ausgrenzung gesetzt haben, die also bereit waren, fremde Einflüsse und neue Impulse verändernd wirksam werden zu lassen. Genau darauf käme es jetzt an. Integration ist etwas anderes und ist mehr als Assimilation. Es geht nicht um die Anpassung an das je Gegebene, sozialer und humaner Fortschritt bestand und besteht immer in der Überwindung des Bestehenden, nicht in dessen Erhalt. Es geht darum, Mischungsverhältnisse zu finden, in denen das Eine durch das Andere erweitert, bereichert wird. Hierbei könnten wir uns durchaus die Kinder zum Vorbild nehmen, deren Weltaneignung genauso funktioniert. Solche Offenheit, wie sie den Kindern noch eigen ist, brauchen wir gegenwärtig mehr denn je. Denn wir sind derzeit mit Veränderungstendenzen konfrontiert, wie sie in der Menschheitsgeschichte ihresgleichen suchen. Irgendein Rückbezug auf einen romantisch verbrämten, traditionellen, rückwärtsgewandten Heimatbegriff wird uns dabei ganz sicher nicht helfen. Russland und die Ukraine zeigen gerade, wohin das führt.