Ob es nun der auf dem Waschzettel versprochene »Metaroman« ist oder nicht – dieses Buch Maria Stepanovas ist etwas ganz Besonderes. Nicht deswegen, weil das Gedächtnis zum Protagonisten eines Romans gemacht wird, sondern weil die Autorin, unaufdringlich zwar, aber doch mit Nachdruck, Lehrstunden in »Erinnerungskunde« erteilt. Ist solche Nachhilfe nötig in Zeiten des ständigen Fotografierens, der Selfies, des Internets, das nichts »vergisst«? Ja. Gerade in unserer bilderüberfluteten Gegenwart, in der Vergangenheit schnell versinkt. In einer fast grotesken Episode erzählt Stepanova, wie ein Bekannter sie zu einer Fahrt nach Saratow animiert, sie dort das Haus ihres Urgroßvaters »untrüglich« erkennt. Nach ein paar Tagen ruft der Bekannte an und sagt verschämt, er habe sich in der Adresse geirrt, die Straße sei zwar richtig, die Hausnummer aber falsch gewesen. Die Autorin resümiert: »Und das ist in etwa alles, was ich über Erinnerung weiß.«
In der Hausnummer kann man sich irren, doch sind Briefe, Bücher, Fotos, Porzellanfigürchen, viele Relikte der Vergangenheit möglicherweise zuverlässiger. Die große, hier in der Übersetzung von Olga Radetzkaja vorliegende Schreibkunst Stepanovas erweist sich daran, dass sie anhand der »Gegenstände«, die zu Erklärungen, Bildbeschreibungen, Exkursen, philosophischen Traktaten, Zitaten zwingen, einen Raum des Gedächtnisses erschafft, den der Leser unbedingt betreten will, weil er etwas erfährt, auch über sich.
In den Gedächtnishallen der Autorin aber bleibt er nicht allein, sondern wird an die Hand genommen, weil er Vertrautes liest, das als »Allzu-Menschliches« oft schnell abgewertet ist. Doch das ist das Leben – das die meisten leben wollen, zumal in Zeiten, die seit mehr als hundert Jahren von Gewalt beherrscht sind: »Bei allen anderen bestand die Familie aus Protagonisten der Geschichte, bei mir nur aus ihren Untermietern« – der weitverzweigten russisch-jüdischen Familie der Autorin. Es sind meistens Tote, von denen erzählt wird: »Die Dahingegangenen aber sind, anders als die Natur, unendlich fügsam. Keine Interpretation, gegen die sie sich wehren, keine Demütigung, gegen die sie aufbegehren würden …« Das Wunderbare ist, dass den Toten, da sie gewissermaßen am Buch mitschreiben, Gerechtigkeit widerfährt. Besonders ergreifend geschieht das mit Leonid Himmelfarb, dem Cousin des Großvaters Maria Stepanovas, der 1942, neunzehnjährig, während der Blockade Leningrads, den »Heldentod« stirbt. Seine stets mit »Ljodik« unterzeichneten Briefe an seine »Mamotschka« sind beredt, indem sie verschweigen. Er sei wohlauf, gesund, betont er stereotyp, er brauche nichts. Wahrscheinlich schwer verwundet, begründet er einen Krankenhausaufenthalt mit »Angina«.
Maria Stepanovas Buch ist ein Kunst-Gebilde: des Wortes, der Philosophie, und Kunstinterpretation, der Lebensbetrachtung und vor allem des Vermögens der Erinnerung. Man sollte es lesen.
Maria Stepanova: »Nach dem Gedächtnis«, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp Verlag, 527 Seiten, 24 €