In der Lokalredaktion der überregionalen Tageszeitung, in der ich in den 1960er Jahren gearbeitet habe, wurde eines Tages ein neuer Volontär angestellt, den wir Redakteure abwechselnd unter unsere Fittiche nahmen. Sein Auftritt war korrekt-zackig, sein Verhalten dienstbeflissen. Meine Haare waren doppelt so lang wie seine. Man merkte ihm sofort an, dass er »gedient« hatte.
Damals hatte der Kalte Krieg Hochsaison. Ebenso die Ostermärsche, zu denen alljährlich die verschiedenen Strömungen der außerparlamentarischen Opposition aufriefen, vereint hinter der gemeinsamen Forderung nach einem Ende der atomaren Bewaffnung und des nuklearen Wettrüstens sowie in der Ablehnung der noch von der Adenauer-Regierung begonnenen und dann von der ersten Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, dem »Kabinett Kiesinger«, weiterbetriebenen Notstandsgesetzgebung.
Kam in der Redaktion das Gespräch auf diese Demonstrationen, denen sich 1968 schätzungsweise 300.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bundesweit anschlossen, so bespöttelte unser Volontär die, wie er sie nannte, willig-arglosen Helfer der Roten. Sie hätten sich blauäugig vom Weltkommunismus vereinnahmen lassen, ihre Reihen seien östlich infiltriert. Halt eine Art »fünfter Kolonne«.
Und er berichtete freimütig, wie sie bei der Bundeswehr den damals allgegenwärtigen Slogan »Dein Päckchen nach drüben« umgewidmet hatten, mit anderen Angeboten als üblich: Es gab Propagandabroschüren statt Lebensmittel für die Brüder und Schwestern in der »Ostzone«. Die Päckchen hätten sie bei gutem Wind mit Ballons und den besten Wünschen an der Zonengrenze aufsteigen lassen.
Es waren »kleinformatige Schriften, Flugblätter und miniaturisierte Bücher«, produziert von der Politischen Kampfführung der Bundeswehr, schreibt der Hamburger Politikwissenschaftler und Buchhistoriker Klaus Körner in seinem neu erschienenen Fachbuch »Trojanische Pferde – Politische Verlage im Kalten Krieg«, das er in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg vorstellte. Die Veröffentlichung ist die Quintessenz einer akribischen wissenschaftlichen Spurensuche nach dem Anteil bundesdeutscher Verlage an den scharfen politischen Auseinandersetzungen der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die 20 Aufsätze des Bandes erheben zwar nicht »den Anspruch, ein vollständiges Bild der im Kalten Krieg politisch engagierten westdeutschen Verlage zu zeichnen«, sie bieten aber dennoch »ein Panorama der Schriften«. Zusammen mit dem extra für das Buch zusammengestellten Teil »Der Kalte Bücher-Krieg in Bildern«, der ausgewählte Buchumschläge vorstellt, vermittelt die Darstellung auch einen Eindruck von der buchkünstlerischen Umsetzung der teilweise erbittert und mit harten Bandagen geführten damaligen politischen Auseinandersetzungen.
Die Aufsätze sind zwischen 1988 und 2022 entstanden und wurden vorab zumeist in der von der Arbeitsgemeinschaft Antiquariat und Versandbuchhandel im Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgegebenen Zeitschrift Aus dem Antiquariat veröffentlicht. Der Leipziger Verleger Max Lehmstedt hat sie jetzt als Band 3 in der anspruchsvollen Verlagsreihe »Buchgeschichte(n)« zusammengefasst, die »Bücher und Leser in drei Jahrhunderten« vorstellt.
Klaus Körner hat mit seiner Kärrnerarbeit den Fokus auf ein heute weitgehend vergessenes und allgemein unbekanntes Kapitel der Nachkriegszeit gerichtet und dabei ebenfalls die heute zumeist vergessenen Akteure, die willigen Helfer in der einstigen Systemauseinandersetzung, aus dem Dunkel der Geschichte ans Tageslicht geholt. So wird das Buch zu einer Fundgrube, ja, zu einem Standardwerk, an dem bei zukünftiger zeitgeschichtlicher Beschäftigung mit der Thematik kein Weg vorbeiführen wird.
Körner kann bei seiner Darstellung aus dem Vollen schöpfen. Seine Sammlung umfasst, wie er schreibt, 5000 politischer Kleinschriften der Adenauer-Zeit. Den Grundstock bilden die Schriften, »die ich Ende der fünfziger Jahre als Schülerzeitungsredakteur zugesandt bekam, vor allem vom Volksbund für Frieden und Freiheit«. Grob geschätzt seien zwischen 1945 und 1967 in der Bundesrepublik und Westberlin etwa 25 000 politische Kleinschriften erschienen, in einfacher Ausstattung, mit geringem Umfang und ohne festen Einband, nicht zum Verkauf produziert, geeignet zur Verteilung auf der Straße, zum Massenversand als Postwurfsendung oder zum Abwurf mit Ballons oder aus dem Flugzeug.
Zitat: »Wurde dem Buch von den Besatzungsmächten zunächst ein hoher Stellenwert für die Umerziehung der Deutschen zugemessen, erhielt es bald auch eine große Bedeutung im Kalten Krieg zwischen Ost und West. Vor allem in der Gestalt politischer Kleinschriften sollten Bücher der ›Aufklärung‹ des jeweiligen Gegners dienen, fungierten aber tatsächlich allzu oft nur als Mittel raffinierter oder plumper Propaganda. Dass man sich dabei im Westen ungeniert der speziellen Fähigkeiten alter Nazis bediente, die den Kampf gegen den ›jüdischen Bolschewismus‹ unter neuen Vorzeichen als Kampf gegen den Kommunismus fortsetzten, wurde lange Zeit bewusst toleriert. Westliche wie östliche Agitatoren waren fest eingebunden in staatliche Förderstrukturen, und in beiden Fällen zogen die Geheimdienste aus dem Hintergrund die Fäden.«
Den alternative Vertriebsweg von Schriften mit Ballons vom Westen aus nutzte die PSK-Einheit der Bundeswehr zum Beispiel für die Verschickung der der bei Rowohlt unter dem Titel Marschroute eines Lebens erschienenen Erinnerungen von Jewgenia Ginsburg. Über die Frage, ob sich der Verlag an solchen Ballonaktionen beteiligen sollte, kam es 1969 bei Rowohlt zu einer Auseinandersetzung, die Körner allerdings nur erwähnt, ohne näher darauf einzugehen. Kurz vor der Frankfurter Buchmesse war bekannt geworden, dass Rowohlt 50.000 Exemplare der antistalinistischen Ginsburg-Erinnerungen als Tarnschrift hatte drucken lassen. Den Abwurf über der DDR besorgte die Bundeswehr. Als Folge dieser »Ballonaffäre« verließ Fritz J. Raddatz, Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter, gewissermaßen aus Protest den Verlag.
Mit den Kleinschriften befassen sich die ersten 50 Seiten des Buches unter den Kapitel-Überschriften die »Politische Kleinschriften in der Adenauer-Zeit (1945 – 1967)«, »Kalter Krieg und Kleine Schriften« und »Der innerdeutsche Broschürenkrieg«. Auf den dann folgenden 300 Seiten untersucht Körner die Rolle bundesdeutscher Verlage und ihrer Macher, die sich in die Systemauseinandersetzung hatten einspannen lassen. Manche Unternehmen waren auch eigens zu diesem Zweck gegründet worden. Im Einzelnen rückt Körner folgende Verlage und Personen mit ihren Propagandaaktivitäten in den Mittelpunkt: Eberhard Taubert und den Nibelungen-Verlag; den Junker und Dünnhaupt Verlag und den Athenäum Verlag; den Dr. Heinrich Seewald Verlag; Eugen Kogon als Verleger; Axel Springer als Buchverleger; Kurt Desch und seinen Verlag; Arno Scholz, den Telegraf und den Arani Verlag; die Europäische Verlagsanstalt; Otto H. Hess und den Colloquium Verlag; Karl Ludwig Leonhard, Lektor und Verleger.
Im letzten Kapitel beschäftigt sich Körner mit dem »Kampfbund gegen die Unmenschlichkeit« unter der Leitung von Berend von Nottbeck, in dessen Dunstkreis die Aktivitäten verschiedener Verlage gehören, so auch die von Kiepenheuer & Witsch, der bis Ende der fünfziger Jahre zum Hausverlag des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen aufgestiegen war, u. a. mit Bestsellern von Renegaten wie Die Revolution entlässt ihre Kinder von Wolfgang Leonhard oder Wie eine Träne im Ozean von Manès Sperber, Büchern, denen in jener Zeit kein politisch Interessierter entging.
Die Systemauseinandersetzung mit Schriften und Büchern sowie per Rundfunk und Fernsehen wurde aber nicht nur vom Westen aus geführt – hier zumeist mit finanzieller Unterstützung amerikanischer Geheimdienste, nach Gründung der Bundesrepublik mit Mitteln mehrerer Bundesministerien oder auch vom Ostbüro der SPD –, sondern auch aus dem Osten. Aus der DDR kamen »Unmengen von Offenen Briefen, Reden, Erklärungen und Beschlüssen«. SPD-Funktionäre erhielten die Zeitschrift Sozialistische Briefe, »fortschrittliche Kulturschaffende« waren die Adressaten verkleinerter, ungehefteter und nicht mit dem markanten roten Umschlag versehener Sonderausgaben der Weltbühne. Hinzu kam die finanzielle Unterstützung der KPD und anderer Organisationen sowie Verlagen.
In mehreren Kapiteln (S. 363 bis S. 475) beschäftigt sich Körner mit »linken« Verlagen und Buchhandlungen, von denen einige bis zur Auflösung der DDR tätig waren. Genannt werden u. a. Johann Fladung und sein Progress-Verlag (1950-1972; »Fortleben des politischen Exils in der Bundesrepublik«), der Röderberg-Verlag (1950-1990; »Verlagsprogramm: Antifaschismus«), die Internationale Buchhandlung und der Brücken-Verlag (1956-1990; »Das fortschrittliche Buch – eine wichtige Waffe im Kampf für den Fortschritt«). Des Weiteren beleuchtet Körner die Rolle von konkret in der Röhl-Zeit (»Von Blitz zu konkret«), des Spartacus-Buchversands und des Verlags Assoziation (1968-1979) sowie des Trikont Verlags.
Zurück zu den »Kleinen Schriften«. Körner beschreibt, wie und wann in Ost und West das Umdenken begann. Die Anfänge der Entspannungspolitik nach der Kubakrise von 1962 und das Vordringen des Fernsehens hätten die Bedeutung des Mediums Schrift im Kalten Krieg relativiert. Jetzt kam der Klassenfeind abends mit dem Fernsehen in die DDR. In der Großen Koalition ab 1966 habe der neue Gesamtdeutsche Minister Herbert Wehner für die Einstellung der von seinem Ministerium bislang geförderten Kampfliteratur gesorgt. Und in einem gesonderten Briefwechsel zum Grundlagenvertrag von 1972 habe sich die DDR verpflichtet, den Deutschen Freiheitssender 904 und den Soldatensender abzuschalten. Die Bundesrepublik verpflichtete sich im Gegenzug, den Abwurf von Ballonschriften zu beenden. Die SPD löste 1971 ihr Ostbüro auf.
Das alles ist nachzulesen in diesem über ein Kilo schweren, sehr lesbar geschriebenen Konvolut, ein Wälzer, der sicherlich demnächst auch in wissenschaftlichen und Universitäts-Bibliotheken seinen Platz haben wird.
Klaus Körner: Trojanische Pferde – Politische Verlage im Kalten Krieg, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2023, 544 S., 60 farbige Abb., 58 €.