»Es war sechs Uhr zweiunddreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k. u. k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.«
Manchmal sind es erste Sätze, Buchanfänge wie dieser, die jenen Zauber erzeugen, der die weitere Lektüre beflügelt.
Hans war zehn Jahre alt, als er seinen Vater verlor, ein Stapel niederfallender Tannenstämme hatte diesen erschlagen; nach der Totenmesse war er von dem Prokuristen der Holzfirma »wie eine widerspenstige Ware verladen« und aus dem Städtchen Imst am Inn auf einen Hof ins Unterland im Osten Tirols »deportiert« worden. »Düstere Gesichter an den Heuwendern und Ackerwalzen starrten ihn an, als ihm ohne ein einziges Wort – allein durch Gesten und das Zeigen einer Pritsche – sein Schicksal verkündet worden war. Er war zehn Jahre alt gewesen und war dem Hof nicht für einen einzigen Tag entkommen.« Bis zum 30. Juli 1914, als er in Wien ankam.
Das Attentat von Sarajewo war erst vier Wochen her, die Kriegserklärung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie an Serbien war gerade mal zwei Tage alt, und die ersten Gestellungsbefehle waren bei den – man darf es so sagen – »geneigten Adressaten« eingetroffen. Wien stand Kopf, und in den Straßen brach sich die Kriegsbegeisterung der jungen Generation Bahn.
In diesen Taumel entlässt Raphaela Edelbauer in ihrem neuen Roman »Die Inkommensurablen« den arglosen Hans, so wie Johann Christoffel Grimmelshausen 300 Jahre zuvor seinen jugendlichen Abenteurer Simplicissimus in den Wahn des Dreißigjährigen Krieges geschickt hat. »Bäurisch Herkommen und gleichförmige Auferziehung«, wie es im ersten Kapitel des Simplicissimus heißt, kennzeichnen beide. Aber Hans war auch auf dem Bauernhof von einer »ununterdrückbaren Leidenschaft angetrieben [worden], das, was er in der Schule gelernt hatte, nicht zu verlieren«. Zur Winterszeit hatte er aus den Stiefeln die zum Trocknen hineingestopften Zeitungen herausgezogen, diese geglättet, gelesen und später »beim Dungumwälzen die neu gelernten Worte wiederholt«.
Nun ist Hans also nach durchreister Nacht in Wien aufgewacht, von einem Eisenbahner aus dem Schlaf gerissen: eine Szene, die sich auch als Initiation lesen lässt, als Eintritt des Burschen vom Land in eine neue Umgebung, eine neue Gemeinschaft, in ein anderes Leben.
In der unbekannten Großstadt wird dem jungen Mann ganz schwindelig von dem Durcheinander der hin und her hastenden Menschen, von der Vielfalt der aufgehängten Magazine, »die mit ihren Überschriften auf ihn eindrangen«, von den klingelnden Gespannen, die »in unersättlichem Hunger die Menschen fraßen, die durch die Schlünde des Südbahnhofs aus allen Kronländern erbrochen wurden«. Und er schämte sich »zwischen all diesen weltgewandten Leuten mit seinen groben Stiefeln, der Leinenhose und den braunen Hosenträgern«.
Hans ist auf dem Weg zu einer Psychoanalytikerin, deren Fachgebiet Massenhysterie und parapsychologische Affekte sind und deren Annonce er in einer der Zeitungen entdeckt hatte, die er auf dem Bauernhof in den Stiefeln fand. Er trägt ein Geheimnis mit sich. Seine »Gabe«, derentwegen er heimlich zu dieser Reise aufbrach, offenbart er der Psychoanalytikerin: Vor Jahren habe er bemerkt, dass andere Menschen, meist solche, die er gar nicht kenne, manchmal seine Gedanken aussprechen würden. So habe er einmal im Bett gelegen und zu schlafen versucht, nach 16 Stunden Feldarbeit, doch die Knechte und Mägde hätten noch unter lautem Geschrei Karten gespielt. Da sei ihm der Gedanke gekommen, dass er ihnen »am liebsten (…) ihre Karten in den Hals stecken würde, dass sie ersticken mögen«. Und kurze Zeit später habe einer der Spieler gesagt: »Am liebsten würde ich euch eure Karten in den Hals stecken, dass ihr ersticken mögt.« Als Hans noch weitere Beispiele anführt, ist die Psychoanalytikerin elektrisiert und gibt ihm für den Folgetag einen ersten Termin. Analyse und Therapie seiner Träume und Visionen können beginnen.
Kurz nach dem Gespräch mit der Psychotherapeutin trifft Hans auf einen musisch begabten jungen Adligen, der auf Betreiben des Vaters und gegen seinen Willen am übernächsten Tag zu den Kürassieren eingezogen werden soll. Zu ihnen gesellt sich eine Studentin, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren und mit ihrem Rigorosum, wie man in Österreich das mündliche Examen nennt, am nächsten Tag ihr Studium beenden will. Sie forscht zu Beweisen von Irrationalzahlen, den »Inkommensurablen«, und zu besonderen Verhältnissen dieser Zahlen. (Anm. K.N., unter Mithilfe des Mathematikers in der Familie: Irrationale Zahlen können nicht als Bruch zweier ganzer Zahlen dargestellt werden; bekannte irrationale Zahlen sind die Kreiszahl Pi, das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts und die Wurzel aus 2.)
Gemeinsam verbringen die jungen Leute die letzten 24 Stunden zwischen Frieden und Kriegsbeginn, diskutierend, philosophierend. Gemeinsam erleben sie den Wahnsinn, in den Wien versinkt. Edelbauer lässt sie wie im Rausch die österreichische Metropole und deren Lokalitäten durchstreifen, auch die im Untergrund. Bekanntschaften werden geschlossen und ebenso schnell wieder vergessen. Und immer wieder stößt die Dreiergruppe auf die Kriegsbegeisterten, die die Wiener Straßen füllen. Euphorischer Taumel allerorten, denn: »Sie dachten, sie kämen im Herbst schon zurück / und zogen mit Fahnen hinaus. / Sie dachten, es gäbe für sie einen Sieg, / den brächten sie bald schon nach Haus!«
Die Massen glaubten, der kommende Krieg könnte geführt werden wie einst zu Zeiten Prinz Eugens. Doch diese Hoffnung wurde schon bald zu einer Illusion, starb auf den Schlachtfeldern. In kürzester Zeit entwickelte sich der Balkankrieg zu einem Kontinentalkrieg und dieser zum Ersten Weltkrieg, zu einer neuen Form von Krieg, der ganz anders werden sollte als alle bisher geführten. Vier Jahre, drei Monate und millionenfaches Sterben später gab es keine Österreichisch-Ungarische Monarchie mehr. Wir Nachgeborenen wissen es.
Auch wenn der Titel des Buches auf den ersten Blick etwas sperrig daherkommen mag, so verdeutlicht die Lektüre schnell den Kunstgriff der Autorin und damit auch ihre Könnerschaft: So irrational und nicht nachvollziehbar wie sich die Inkommensurablen verhalten, so verhalten sich auch die Menschen. Unsere Dreiergruppe ist ebenfalls inkommensurabel – zur Kriegstreiberstimmung in weiten Teilen der Wiener Gesellschaft.
Raphaela Edelbauer lebt in ihrer Geburtsstadt Wien, ist aber in Niederösterreich aufgewachsen. Unverkennbar drängen daher österreichische und speziell wienerische Idiome oder Eigentümlichkeiten in ihren Text, machen ihn hier und da vielleicht etwas manieristisch: Aber warum nicht? Dem Erfolg jedenfalls stand der Stil nicht im Weg. Der Debütroman »Das flüssige Land« (2019) fand auf die Shortlist des Deutschen und des Österreichischen Buchpreises, für ihre zweiten Roman »DAVE« erhielt Edelbauer den Österreichischen Buchpreis 2021. »Die Inkommensurablen« ist ihr bisher bestes Werk.
Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen, Klett-Cotta 2023, 351 S., 25 €. Die zitierten Liedzeilen stammen aus dem Protestsong »Die Felder von Verdun«, den uns die Hamburger Folkgruppe »Die City Preachers« 1966 in die Ohren wurmte. Bei YouTube abrufbar. Und leider immer noch aktuell. Zu dem Roman »DAVE« siehe Ossietzky 4/2022.