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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Handke allein im Krieg

Die bis­wei­len hass­erfüll­te Debat­te um Peter Hand­ke hat vor allem eins offen­bart: das unauf­ge­ar­bei­te­te Geschichts­bild des ver­meid­bar gewe­se­nen Krie­ges auf dem Bal­kan. Hand­kes ein­sa­me Par­tei­nah­me für einen Fort­be­stand Jugo­sla­wi­ens und einen gerech­ten Umgang mit den als »Täter­volk« denun­zier­ten Ser­ben hat auf­ge­stau­te Emo­tio­nen auf­wal­len las­sen. Aggres­sio­nen, die der demü­ti­gen­de Kotau vor einem poli­tisch moti­vier­ten Trug­bild aus­löst. Die angeb­li­chen Grün­de, die das Bom­bar­die­ren recht­fer­ti­gen soll­ten, waren genau­so erlo­gen wie spä­ter die behaup­te­ten Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen im Irak. Den­noch ist es den Ver­ant­wort­li­chen gelun­gen, die­sen Krieg ohne UN-Man­dat, der völ­ker­recht­lich ein Angriffs­krieg war, als gerech­ten, ja berech­tig­ten Krieg in die jüng­ste Histo­rie ein­ge­hen zu las­sen. Als ein Krieg, in dem, ver­kürzt gesagt, die nach Frei­heit stre­ben­den Tei­le des zer­fal­len­den Jugo­sla­wi­ens vor den natio­na­li­sti­schen, völ­ker­mor­den­den Ser­ben und ihrem Des­po­ten Miloše­vić geschützt wer­den muss­ten. Und die mei­sten Juri­sten und Intel­lek­tu­el­len haben sich die­ses Zerr­bild gefal­len lassen.

Da hat Hand­ke gestört, weni­ger mit sei­nen ganz ihm eige­nen Ant­wor­ten als mit sei­nen Fra­gen vor Ort und vor dem Welt­ge­wis­sen. Fra­gen, die all die ver­meint­lich Ein­sich­ti­gen unter­las­sen hat­ten. Sei­ne publi­zi­sti­sche Hin­rich­tung erfolg­te damals vor jour­na­li­sti­schen Stand­ge­rich­ten und wur­de nun unter nobe­ler Beleuch­tung zum zwei­ten Mal exekutiert.

Der­weil hat­ten sich die Grün­de für Fra­gen nicht erle­digt: Der nor­we­gi­sche Nestor der Frie­dens­for­schung, Johan Gal­tung, nann­te als wirk­li­chen Kriegs­grund die Dis­zi­pli­nie­rung des »Fremd­kör­pers« Ser­bi­en als letz­tes mit Russ­land und Chi­na ver­bun­de­nes Land in Euro­pa, das sich der neo­li­be­ra­len Ver­ein­nah­mung wider­setz­te. Jugo­sla­wi­en stand auch Anfang der 90er Jah­re noch für den Ver­such eines drit­ten Weges, der dann schnel­ler zer­bombt war als ana­ly­siert. Es gehe, so zitier­te Die Zeit am 8. März 1996 einen Mit­ar­bei­ter des Aus­wär­ti­gen Amtes, um den Kampf der Markt­wirt­schaft gegen die Kom­man­do­wirt­schaft. (Also um die System­fra­ge.) »Wir soll­ten uns des­halb Ver­än­de­run­gen der heu­te bestehen­den Gren­zen im öst­li­chen Euro­pa nicht kate­go­risch entgegenstellen.«

Als Beleg für Miloše­vićs natio­na­li­sti­sches Stre­ben nach einem Groß­ser­bi­en galt ab sofort sei­ne Rede im Juni 1989 auf dem Amsel­feld, aus der nun abschrecken­de Zita­te kur­sier­ten. Nach dem Krieg hat der Ermitt­ler Greg Ehr­lich eine US-Regie­rungs­nie­der­schrift der Rede ver­öf­fent­licht, die alle jene Zita­te als frei erfun­den aus­wies. Dafür ent­hielt sie nun die weg­ge­las­se­nen Pas­sa­gen, in denen es um die not­wen­di­ge Ver­stän­di­gung zwi­schen den Völ­kern ging. Plötz­lich klang die Rede recht ver­nünf­tig, inter­es­sier­te aber nie­man­den mehr.

Noch bevor der Bür­ger­krieg aus­brach, plä­dier­ten im Bun­des­tag Abge­ord­ne­te aller Frak­tio­nen (außer der PDS) für eine schnel­le Aner­ken­nung Kroa­ti­ens und Slo­we­ni­ens und damit für den Zer­fall Jugo­sla­wi­ens. Kei­ner von ihnen frag­te, ob der­ar­ti­ge Abspal­tun­gen ohne Refe­ren­dum von der jugo­sla­wi­schen Ver­fas­sung vor­ge­se­hen sei­en. Das Selbst­be­stim­mungs­recht der schon unter Hit­ler ver­bün­de­ten, katho­li­schen Kroa­ten wur­de aner­kannt, nicht aber das der damals zur Ver­nich­tung im KZ Jasen­o­vac frei­ge­ge­be­nen, ortho­do­xen Kra­ji­na-Ser­ben, die jetzt eben­falls auto­no­mes Gebiet bean­spruch­ten. Erst nach die­sen Signa­len dop­pel­ten Stan­dards ging die jugo­sla­wi­sche Bun­des­ar­mee äußerst gewalt­sam gegen die Abtrün­ni­gen vor, zunächst in Dubrov­nik, dann in Vuko­var. Der Prä­si­dent der Teil­re­pu­blik Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­nas, Izet­be­go­vić, warn­te, sein Land wer­de in den Bür­ger­krieg hin­ein­ge­zo­gen, wenn die EU die Abspal­tun­gen aner­ken­ne. Doch Ende 1991 erfüll­te der dama­li­ge Außen­mi­ni­ster Gen­scher als euro­päi­scher Vor­rei­ter Slo­we­ni­en und Kroa­ti­en den auch west­li­chen Wunsch.

Abseh­bar folg­te die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­nas, die der Westen 1992 eben­falls schnell aner­kann­te. Zwei Tage spä­ter begann die erbar­mungs­lo­se Bela­ge­rung Sara­je­vos durch ser­bi­sche Trup­pen. Im Süden Euro­pas setz­ten nicht mehr für mög­lich gehal­te­ne Ver­trei­bun­gen und Mor­de der so neu ver­fein­de­ten Volks­grup­pen ein. Die CIA ver­brei­te­te, dass 70 Pro­zent der Kriegs­ver­bre­chen von Ser­ben aus­ge­gan­gen sei­en. Die NATO ergriff ein­sei­tig Par­tei und bom­bar­dier­te mili­tä­ri­sche Zie­le und Infra­struk­tur der bos­ni­schen Serben.

Der ange­heiz­te Bür­ger­krieg gip­fel­te schließ­lich in den Mas­sa­kern von Sre­bre­ni­ca. Wo immer die Müt­ter der Opfer heu­te demon­strie­ren, steht alles Recht der Welt auf der Sei­te ihres Schmer­zes. Wer immer was davon erzählt, ihre Söh­ne erweckt kei­ne Deu­tung zum Leben. Aller­dings soll­te auch nie­mand den Ein­druck erwecken, sie sei­en durch dich­te­ri­sches Erzäh­len umge­kom­men. Und ver­schwei­gen, dass die Ermitt­lun­gen, ein­schließ­lich derer in Den Haag, immer noch umstrit­ten sind. Phil­ip Cor­win, höch­ster UN-Ver­tre­ter in Bos­ni­en bis 1995, schrieb in sei­nem Buch »Dubio­us Man­da­te«: »Was in Sre­bre­ni­ca geschah, war nicht ein ein­zi­ges, gro­ßes Mas­sa­ker von Ser­ben an Mos­lems, son­dern eine Serie von sehr blu­ti­gen Angrif­fen und Gegen­an­grif­fen über eine Zeit­span­ne von drei Jah­ren, die im Juli 1995 ihren Höhe­punkt erreich­te.« Der US-Medi­en­ana­lyst Edward S. Her­man sprach davon, dass die ein­sei­ti­ge Schuld­zu­schrei­bung des ›Mas­sa­ker von Sre­bre­ni­ca‹ »der größ­te Pro­pa­gan­da­tri­umph« sei, der aus den Bal­kan­krie­gen her­vor­ge­gan­gen ist.

Für eine Gleich­schal­tung der öffent­li­chen Mei­nung war gesorgt. Die Buch­au­to­ren Mira Beham und Jörg Becker haben 31 PR-Agen­tu­ren erfasst, die für alle nichts­er­bi­schen Kriegs­par­tei­en tätig waren. Allein Kroa­ti­en zahl­te mehr als fünf Mil­lio­nen Dol­lar an US-Agen­tu­ren. Pro­pa­gan­da-Zie­le waren: Dar­stel­lung der Ser­ben als Unter­drücker und Aggres­so­ren, wobei sie mit den Nazis gleich­zu­set­zen und ent­spre­chend emo­tio­nal gela­de­ne Begrif­fe zu eta­blie­ren sind; Dar­stel­lung der Kroa­ten und Bos­ni­er als unschul­di­ge Opfer, wobei die Erobe­rung der ser­bi­schen Kra­ji­na als legal hin­zu­stel­len ist; Völ­ker­mord­an­kla­ge gegen Jugo­sla­wi­en und Miloše­vić in Den Haag, gün­sti­ge Ver­hand­lungs­er­geb­nis­se für die alba­ni­sche Sei­te in Ram­bouil­let und Sezes­si­on Montenegros.

Beson­ders her­vor­ge­tan hat sich die PR-Agen­tur Ruder Finn aus Washing­ton, D. C. Ihr Direk­tor James Harff prahl­te im fran­zö­si­schen Fern­se­hen, wie pro­fes­sio­nell sie einen Arti­kel aus dem New York News­day über ser­bi­sche Lager auf­ge­grif­fen hät­ten: »Es gehört nicht zu unse­rer Arbeit, den Wahr­heits­ge­halt von Infor­ma­tio­nen zu prü­fen. Unse­re Auf­ga­be ist es, uns dien­li­che Infor­ma­tio­nen schnel­ler zu ver­brei­ten. Wir über­li­ste­ten drei gro­ße jüdi­sche Orga­ni­sa­tio­nen und schlu­gen vor, dass die­se eine Annon­ce in der New York Times ver­öf­fent­li­chen und eine Demon­stra­ti­on vor der UNO orga­ni­sie­ren. Das war ein groß­ar­ti­ger Coup. Als die jüdi­schen Orga­ni­sa­tio­nen in das Spiel auf Sei­ten der mus­li­mi­schen Bos­ni­er ein­grif­fen, konn­ten wir sofort in der öffent­li­chen Mei­nung die Ser­ben mit den Nazis gleich­set­zen. Nie­mand ver­stand, was in Jugo­sla­wi­en los war. Mit einem ein­zi­gen Schlag konn­ten wir die ein­fa­che Sto­ry von den guten und den bösen Jungs prä­sen­tie­ren, die sich ganz von allein wei­ter­spiel­te. Nie­mand konn­te sich mehr dage­gen wen­den, ohne des Revi­sio­nis­mus ange­klagt zu wer­den. Wir hat­ten hun­dert Pro­zent Erfolg.«

Durch der­ar­ti­ge Mani­pu­la­tio­nen ver­steht bis heu­te so gut wie nie­mand, was in Jugo­sla­wi­en los war. Wer auch nur den Hauch einer Ahnung haben woll­te, muss­te sich schon selbst auf den Weg machen. Er habe in das Land der »all­ge­mein soge­nann­ten ›Aggres­so­ren‹« wol­len, schrieb Peter Hand­ke in der »win­ter­li­chen Rei­se«, weil es ihm am wenig­sten bekannt war und am mei­sten betrof­fen von den »Verspie­ge­lun­gen« der Medi­en. Am Anfang war er als zwei­feln­der Augen­zeu­ge allein im Krieg. »Wer war der erste Aggres­sor?« frag­te er eigen­wil­lig. Zum Glück gibt es so etwas noch, eige­ner Wil­le. Vie­le waren es nicht, die spä­ter folg­ten, ohne Dienst­auf­trag und Rei­se­ko­sten­ab­rech­nung. Allen vor­an Eck­art Spoo, der Grün­der die­ser Zeitung.

Eins wur­de klar: So grau­sam die Kämp­fe in Sre­bre­ni­ca in jedem Fall waren, sie hat­ten kei­nen ursäch­li­chen Zusam­men­hang zu dem vier Jah­re spä­ter geführ­ten Krieg um die Abtren­nung des Koso­vo. Dazwi­schen lag das Frie­dens­ab­kom­men von Day­ton, das im Novem­ber 1995 den Bos­ni­en-Krieg bei­leg­te. Doch war die Zer­schla­gung Jugo­sla­wi­ens noch nicht voll­endet. Seit Ent­ste­hen der koso­va­ri­schen UÇK 1996 wur­de die­se Kampf­grup­pe eng vom BND betreut, der eine sei­ner größ­ten Regio­nal­ver­tre­tun­gen in Tira­na ein­rich­te­te. Nein, ganz allein stand Hand­ke nicht. So sen­de­te das ARD-Maga­zin Moni­tor am 9. Juni 1998 ein Inter­view mit einem MAD-Mit­ar­bei­ter, der die Lie­fe­rung von Waf­fen im Wert von zwei Mil­lio­nen Mark an die Alba­ner als »von ganz oben« erwünscht bezeich­ne­te. Trotz des UN-Waf­fen­em­bar­gos rüste­ten auch die USA die alba­ni­sche UÇK mit ille­gal nächt­lich ein­ge­flo­ge­nen Waf­fen auf.

Ein Bericht des Aus­wär­ti­gen Amtes vom Novem­ber 1998 erklär­te den Kon­flikt nach­träg­lich so: Seit Ende 1995 wur­den min­de­stens 200.000 ser­bi­sche Ver­trie­be­ne aus Kroa­ti­en und Bos­ni­en auf Jugo­sla­wi­en ver­teilt, 10.000 auch im Koso­vo, weni­ger als anders­wo. Dies wer­te­ten die Koso­vo-Alba­ner in ihren Medi­en als erneu­ten Ver­such der Kolo­nia­li­sie­rung. Seit April 1998 häuf­ten sich Anschlä­ge der UҪK auf Poli­zei­sta­tio­nen. Da man­cher­orts die Poli­zei floh und auch Ver­wal­tungs­äm­ter und Post ihre Arbeit ein­stell­ten, konn­ten die Frei­schär­ler die dor­ti­ge ser­bi­sche Zivil­be­völ­ke­rung angrei­fen und »befrei­te Gebie­te« aus­ru­fen. Erst da began­nen die jugo­sla­wi­sche Armee und para­mi­li­tä­ri­sche Ein­hei­ten mit exzes­si­ver Gewalt zurück­zu­schla­gen. »Poli­tisch akti­ve alba­ni­sche Volks­zu­ge­hö­ri­ge wer­den nicht wegen ihrer eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit, son­dern als ›Sepa­ra­ti­sten‹ ver­folgt«, so der Bericht.

Noch zwei Tage vor Beginn des NATO-Krie­ges hieß es im Lage­be­richt der Bun­des­wehr: »Ten­den­zen zu eth­ni­schen Säu­be­run­gen sind wei­ter­hin nicht zu erken­nen.« Das bestä­tig­ten auch die OSZE-Beob­ach­ter vor Ort. Ende 1998 habe es kei­ne grö­ße­ren Kämp­fe zwi­schen den Par­tei­en mehr gege­ben, son­dern ein­zel­ne Über­fäl­le und Feu­er­ge­fech­te, für die man sich gegen­sei­tig ver­ant­wort­lich mach­te. Ein­deu­tig auch die im Koso­vo ein­ge­setz­te US-Diplo­ma­tin Nor­ma Brown: »Jeder wuss­te, dass es erst zu einer huma­ni­tä­ren Kri­se kom­men wür­de, wenn die NATO bombardiert.«

Und es war kei­ne »unbe­streit­ba­re Tat­sa­che, dass die Bel­gra­der Füh­rung, und nur sie, die diplo­ma­ti­schen Bemü­hun­gen hat schei­tern las­sen«, wie Kanz­ler Schrö­der den Abbruch der Frie­dens­ge­sprä­che im März 1999 in Ram­bouil­let kom­men­tier­te. Dem poli­ti­schen Teil des Abkom­mens hat­te Miloše­vić im Gegen­satz zu den Koso­va­ren zuge­stimmt. Wor­auf­hin der ser­bi­schen Sei­te in letz­ter Minu­te als unver­han­del­ba­res Dik­tat die mili­tä­ri­sche NATO-Besat­zung ganz Jugo­sla­wi­ens vor­ge­legt wur­de. Nie durf­te hier­zu­lan­de auch nur ein erklä­ren­der Satz des »Des­po­ten« zu hören sein. »Es war unvor­stell­bar für uns«, sag­te Miloše­vić in einem UPI-Inter­view vom 30. April 1999, »dass unse­re Ableh­nung des Teils des Abkom­mens, über den mit uns nicht ein­mal ver­han­delt wor­den war, als Aus­re­de benutzt wür­de, um uns zu bombardieren.«

In dem Inter­view räum­te er auch Ver­feh­lun­gen ein: »Wir sind kei­ne Engel. Aber wir sind auch nicht die Teu­fel, die zu sein ihr uns aus­er­ko­ren habt. Unse­re regu­lä­ren Streit­kräf­te sind über­aus dis­zi­pli­niert. Anders ver­hält es sich mit den irre­gu­lä­ren para­mi­li­tä­ri­schen Ein­hei­ten. Es sind schlim­me Din­ge pas­siert. Wir haben sol­che irre­gu­lä­ren, selbst­er­nann­ten Füh­rer ver­haf­tet. Eini­ge von ihnen sind bereits ange­klagt und zu 20 Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt worden.«

Mit Sicher­heit ist es längst nicht immer so rechts­staat­lich zuge­gan­gen. Miloše­vić woll­te die staat­li­che Unab­hän­gig­keit des Koso­vo um jeden Preis ver­mei­den. Also mit Gewalt. Aber nicht mit Völ­ker­mord. Die­ser ihm (und Hand­ke gleich mit) auch in der jüng­sten Debat­te mit nicht wei­ter zu erklä­ren­der Selbst­ver­ständ­lich­keit zur Last geleg­te Vor­wurf ist falsch. Die noch wäh­rend des Krie­ges ver­öf­fent­lich­te Ankla­ge­schrift des Haa­ger Tri­bu­nals leg­te der Regie­rung unter Slo­bo­dan Miloše­vić zum Ärger so man­cher Poli­ti­ker kei­nen Völ­ker­mord zur Last. Als Chef­an­klä­ge­rin Car­la del Pon­te von Le Mon­de gefragt wur­de, war­um die­ser Ankla­ge­punkt feh­le, muss­te sie zuge­ben: »Weil es kei­ne Bewei­se dafür gibt.« Damit war die Legi­ti­ma­ti­on des Angriffs, der sich auf »Ver­hin­de­rung eines Völ­ker­mor­des« berief, schon Wochen vor Ende des Bom­bar­de­ments entfallen.

Die Mah­nung des dama­li­gen UN-Gene­ral­se­kre­tärs Kofi Annan, Ser­ben und Alba­ner trü­gen glei­cher­ma­ßen Ver­ant­wor­tung für den Kon­flikt, wur­de in den Wind geschla­gen. Die UNO war ent­mach­tet. Die NATO fun­gier­te als Luft­waf­fe der UҪK. Acht­und­sieb­zig Tage lang wur­de eine euro­päi­sche Haupt­stadt und das zuge­hö­ri­ge Rest­land mit »Luft­schlä­gen« trak­tiert. Etwa 1200 Zivi­li­sten star­ben. Zer­stört wur­den 235 Fabri­ken, 61 Brücken, 476 Bil­dungs­stät­ten, 113 Gesund­heits­ein­rich­tun­gen und 36 sakra­le Kul­tur­denk­mä­ler. 50.000 Woh­nun­gen wur­den beschä­digt. Dann war das Koso­vo abge­trennt. Es ist mit dem unge­fragt errich­te­ten, inter­na­tio­nal größ­ten US-Mili­tär­stütz­punkt Camp Bond­s­teel zu einem aus eige­ner Kraft nicht lebens­fä­hi­gen NATO-Pro­tek­to­rat geworden.

Doch das Kriegs­ziel, Miloše­vić zu stür­zen, war nicht erreicht. Nach die­sem Angriffs­krieg schar­ten sich die natio­nal gesinn­ten Ser­ben um ihren Prä­si­den­ten. Aus der Wahl im Herbst 2000 ging er als unan­ge­foch­te­ner Sie­ger her­vor. Was für ein hin­ter­fra­gens­wer­ter Vor­gang für Autoren und Histo­ri­ker. Der Sturz begann weni­ge Tage dar­auf nach dem gut vor­be­rei­te­ten Dreh­buch der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on Otpor (Wider­stand). Aus dem gan­zen Land tra­fen Anhän­ger der Oppo­si­ti­on in Bel­grad ein, um »sich dem gro­ßen Stim­men­raub zu wider­set­zen, den die Bun­des­wahl­kom­mis­si­on auf Anord­nung Slo­bo­dan Miloše­vićs began­gen hat«. Die auf­ge­brach­te Men­ge zün­de­te das Par­la­ment an, und die Poli­zei lief zu ihr über. Noch am sel­ben Abend wand­te sich der von der dama­li­gen US-Außen­mi­ni­ste­rin Alb­right und ihrem deut­schen Kol­le­gen Fischer vor­aus­ge­such­te Koštu­ni­ca als neu­er Prä­si­dent über das Fern­se­hen an die Bürger.

Miloše­vić wur­de ver­haf­tet. Die Beweis­auf­nah­me in sei­nem Pro­zess dau­er­te vier Jah­re. Vier­zig Stun­den vor deren Ende ist er (ver­mut­lich wegen der Ein­nah­me fal­scher Tablet­ten) gestor­ben. Der bri­ti­sche Chef­an­klä­ger Geoffrey Nice schien erleich­tert: »Das Ende der Ver­hand­lun­gen wäre eine Kata­stro­phe gewor­den. Ein Urteil, das kei­nen Bestand gehabt hät­te«, hieß es in der von Arte aus­ge­strahl­ten Doku­men­ta­ti­on: »Miloše­vić«. Auf einen Abschluss­be­richt des Gerichts war­te­te man vergeblich.

Auch auf das Urteil gegen die Wahl­kom­mis­si­on. Vie­le hun­dert Zeu­gen wur­den sie­ben Jah­re lang ver­nom­men. In die­ser Zeit wur­den vier Rich­ter aus­ge­tauscht, da sie nicht bereit waren, ohne Bewei­se einen Schuld­spruch zu fäl­len. Im Febru­ar 2008 erging schließ­lich ein rechts­kräf­ti­ges Urteil gegen alle Mit­glie­der der Wahl­kom­mis­si­on, wie mir Juri­sten in Bel­grad berich­te­ten. Frei­spruch. Fäl­schung der Wahl vom 24. Sep­tem­ber 2000 war nicht nach­zu­wei­sen. Die war nach über­stan­de­nem Angriffs­krieg zum Sieg auch nicht nötig. Miloše­vić ist nicht als Dik­ta­tor gestor­ben, son­dern als demo­kra­tisch gewähl­ter Prä­si­dent. Das ist noch kein Qua­li­täts­merk­mal, wie man weiß. Ein Mann, der Unrecht getan hat und dem Unrecht getan wur­de. Ein Gesche­hen von wohl shake­speare­schen Dimensionen.

Eigent­lich ein Pflicht­pro­gramm für jeden Dra­ma­ti­ker. Doch das bis heu­te toxi­sche Feind­bild hat ein Kon­takt­ver­bot hin­ter­las­sen. Solch »Schläch­ter vom Bal­kan« ist des Zure­dens und Zuhö­rens nicht wert. Dar­an haben sich bis auf Hand­ke unab­ge­spro­chen alle deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­ten und Jour­na­li­sten gehal­ten. Die Ver­mu­tung, dass da etwas zu ver­ste­hen sein könn­te, galt schon als Ver­rat. An der wort­los ver­ein­bar­ten Verspie­ge­lung. Ein Ver­rat, der mit Hass bestraft wird. Und dem nicht min­der zer­stö­re­ri­schen Selbsthass.