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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hamburger Surrogate

»Wo die Ver­gan­gen­heit weg­ge­wischt wird wie ver­schüt­te­te Milch, wie etwas Unge­hö­ri­ges, da ist es die Auf­ga­be der Dich­ter, For­scher und Histo­ri­ker, die geschicht­li­che Dimen­si­on wiederherzustellen.«

Die­ser Auf­ga­be hat sich Her­bert Schuldt unter­zo­gen, 1941 als Ree­der-Sohn in Ham­burg gebo­ren. Mei­stens ver­wen­det er bloß »Schuldt« als Künst­ler­na­men. Er ist ein Mul­ti­ta­lent, Dich­ter, Essay­ist, Über­set­zer, bil­den­der Künst­ler in einer Per­son. Er schuf in Chi­na wand­gro­ße Bil­der »aus Schrift­zei­chen und Ver­fall«, wie auf der Web­site des Rowohlt Ver­la­ges zu lesen ist, rei­ste zu frem­den Völ­kern und hat­te Aus­stel­lun­gen in New York, Shang­hai und Moskau.

Schuldt ist Rad­fah­rer. Und jedes Mal, wenn er »auf dem Renn­rad an den neu­en Stra­ßen­na­men des mit Erde abge­füll­ten ehe­ma­li­gen Hafens vor­bei­kam«, inzwi­schen bun­des­weit als Hafen­Ci­ty bekannt und ver­mark­tet – Stich­wort: Elb­phil­har­mo­nie –, dann »schäm­te [er sich] für Ham­burg«. Er schäm­te sich für Stra­ßen­na­men wie Bus­an­brücke, Korea­stra­ße, Toki­o­stra­ße, Osaka­al­lee, Magel­lan-Ter­ras­sen, Sin­ga­pur­stra­ße, Hong­kong­stra­ße, Shang­hai­al­lee, Yoko­ha­ma­stra­ße, Über­see­bou­le­vard. Denn: »Die­se Stra­ßen­na­men … ver­kün­den ein bezie­hungs­lo­ses Nie­mands­land im Nir­gend­wo.« Sie sind »1. Aus der Luft gegrif­fen, 2. Zum System aus­ge­bau­te Phan­ta­sie­lo­sig­keit, 3. Großmannssucht«.

Bei­spiel Über­see­bou­le­vard: Kein Bou­le­vard, und ohne Krä­ne, Schif­fe oder Händ­ler über­zeugt die Namens­ge­bung Schuldt eben­so wenig, als wäre ein Welt­raum­bou­le­vard an die­ser Stel­le. Bei­spiel Hafen­Ci­ty: Das Neu­bau­vier­tel heißt so, obwohl »dort kein Hafen liegt«, son­dern Neu­land für Immo­bi­li­en und Büros. Bei­spiel Shang­hai­al­lee: für Schuldt eben­falls ein Fehl­griff. Denn das chi­ne­si­sche Wort Shang­hai bedeu­tet »Blick über das Meer«. Die Nord­see ist aber nun mal rund 100 Kilo­me­ter Luft­li­nie ent­fernt, und eine Allee ist die Stra­ße auch nicht, nur Beton und Glas säu­men sie.

Schuldts bit­te­res Resü­mee: »Rat­lo­se Ämter haben das Gelän­de mit Aller­welts­na­men ver­deckt, haben es … namen­los gemacht und um sei­ne rei­che Geschich­te gebracht.«

Wie reich die­se Geschich­te ist, wel­che Adres­sen es statt der Sur­ro­ga­te, der »Glo­ba­li­sie­rungs­at­trap­pen« (Schuldt) hät­te geben kön­nen, die durch Arbeit und Spra­che an dem Ort ver­an­kert gewe­sen wären, das führt Schuldt in dem von ihm selbst anspre­chend und geschmack­voll gestal­te­ten Bänd­chen des Ber­li­ner Beren­berg Ver­lags aus.

In dem abschlie­ßen­den Teil wid­met er sich in einem kul­tur­hi­sto­ri­schen Zeit­raf­fer der, wie er sie nennt, »Ham­bur­gi­schen Schu­le des Lebens und der Arbeit«, einem Kos­mos aus hoch­spe­zia­li­sier­ten Beru­fen, aus­ge­tüf­tel­ten Werk­zeu­gen, rät­sel­haf­ten Wör­tern und dem von ihnen gepräg­ten Men­schen­schlag: von »Ach­tern Diek« (Hin­term Deich) bis »Zum Fest­ma­cher­treff« (der Fest­ma­cher macht das Schiff an Land fest). Natür­lich feh­len hier auch der See­räu­ber­füh­rer Klaus Stör­te­be­ker und sei­ne Lik­edee­ler nicht.

Schuldt: »Ham­bur­gi­sche Schu­le des Lebens und der Arbeit«, Beren­berg, 134 Sei­ten, 25 €