»Wo die Vergangenheit weggewischt wird wie verschüttete Milch, wie etwas Ungehöriges, da ist es die Aufgabe der Dichter, Forscher und Historiker, die geschichtliche Dimension wiederherzustellen.«
Dieser Aufgabe hat sich Herbert Schuldt unterzogen, 1941 als Reeder-Sohn in Hamburg geboren. Meistens verwendet er bloß »Schuldt« als Künstlernamen. Er ist ein Multitalent, Dichter, Essayist, Übersetzer, bildender Künstler in einer Person. Er schuf in China wandgroße Bilder »aus Schriftzeichen und Verfall«, wie auf der Website des Rowohlt Verlages zu lesen ist, reiste zu fremden Völkern und hatte Ausstellungen in New York, Shanghai und Moskau.
Schuldt ist Radfahrer. Und jedes Mal, wenn er »auf dem Rennrad an den neuen Straßennamen des mit Erde abgefüllten ehemaligen Hafens vorbeikam«, inzwischen bundesweit als HafenCity bekannt und vermarktet – Stichwort: Elbphilharmonie –, dann »schämte [er sich] für Hamburg«. Er schämte sich für Straßennamen wie Busanbrücke, Koreastraße, Tokiostraße, Osakaallee, Magellan-Terrassen, Singapurstraße, Hongkongstraße, Shanghaiallee, Yokohamastraße, Überseeboulevard. Denn: »Diese Straßennamen … verkünden ein beziehungsloses Niemandsland im Nirgendwo.« Sie sind »1. Aus der Luft gegriffen, 2. Zum System ausgebaute Phantasielosigkeit, 3. Großmannssucht«.
Beispiel Überseeboulevard: Kein Boulevard, und ohne Kräne, Schiffe oder Händler überzeugt die Namensgebung Schuldt ebenso wenig, als wäre ein Weltraumboulevard an dieser Stelle. Beispiel HafenCity: Das Neubauviertel heißt so, obwohl »dort kein Hafen liegt«, sondern Neuland für Immobilien und Büros. Beispiel Shanghaiallee: für Schuldt ebenfalls ein Fehlgriff. Denn das chinesische Wort Shanghai bedeutet »Blick über das Meer«. Die Nordsee ist aber nun mal rund 100 Kilometer Luftlinie entfernt, und eine Allee ist die Straße auch nicht, nur Beton und Glas säumen sie.
Schuldts bitteres Resümee: »Ratlose Ämter haben das Gelände mit Allerweltsnamen verdeckt, haben es … namenlos gemacht und um seine reiche Geschichte gebracht.«
Wie reich diese Geschichte ist, welche Adressen es statt der Surrogate, der »Globalisierungsattrappen« (Schuldt) hätte geben können, die durch Arbeit und Sprache an dem Ort verankert gewesen wären, das führt Schuldt in dem von ihm selbst ansprechend und geschmackvoll gestalteten Bändchen des Berliner Berenberg Verlags aus.
In dem abschließenden Teil widmet er sich in einem kulturhistorischen Zeitraffer der, wie er sie nennt, »Hamburgischen Schule des Lebens und der Arbeit«, einem Kosmos aus hochspezialisierten Berufen, ausgetüftelten Werkzeugen, rätselhaften Wörtern und dem von ihnen geprägten Menschenschlag: von »Achtern Diek« (Hinterm Deich) bis »Zum Festmachertreff« (der Festmacher macht das Schiff an Land fest). Natürlich fehlen hier auch der Seeräuberführer Klaus Störtebeker und seine Likedeeler nicht.
Schuldt: »Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit«, Berenberg, 134 Seiten, 25 €