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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hamburg auf den Barrikaden

Im Ver­lag Haag + Her­chen ist eine Reprint-Aus­ga­be von Laris­sa Reisner’s gro­ßer Repor­ta­ge- Samm­lung »Ham­burg auf den Bar­ri­ka­den« über den ver­such­ten Ham­bur­ger Auf­stand im Okto­ber 1923 erschie­nen. Die im Jahr 1895 in Lub­lin gebo­re­ne und am 9. Febru­ar 1926 in einem Mos­kau­er Kran­ken­haus an Typhus ver­stor­be­ne Laris­sa Reis­ner war eine her­aus­ra­gen­de Per­sön­lich­keit in der noch jun­gen Sowjet­uni­on und auch über die Lan­des­gren­zen hin­aus bekannt. Sol­da­tin in der neu gegrün­de­ten Roten Armee wäh­rend des Bür­ger­kriegs, danach poli­ti­sche Kom­mis­sa­rin, natür­lich aner­kann­te Schrift­stel­le­rin und mit Leib und See­le Revo­lu­tio­nä­rin. Lite­ra­ten wie Joseph Roth oder auch Kurt Tuchol­sky spra­chen in den höch­sten Tönen von ihr. Dass dies zu Recht geschah, davon zeugt ihr Talent, in ihren Repor­ta­gen Bil­der zu gene­rie­ren, in denen jene kata­stro­pha­le Lage der Arbei­ter­klas­se in ihren kaser­nier­ten Milieus gera­de­zu schmerz­haft spür­bar wird.

»Die Ham­bur­ger Arbei­ter leben weit­ab von ihren Fabri­ken und Werf­ten, in einem Stadt­teil, genannt Barm­bek (…). Durch die­se reich­lich schmut­zi­ge und wider­wär­ti­ge Vor­stadt zieht die rie­si­ge Rau­pe einer Eisen­bahn­brücke einen stäh­ler­nen Halb­kreis, ihre leicht gebo­ge­nen Füße hal­ten sich mit Saug­war­zen aus Beton am Asphalt fest.«

In die Gemenge­la­ge eines Deutsch­lands der frü­hen 1920er Jah­re, das revo­lu­tio­när am Gären und von sozia­len Span­nun­gen durch­drun­gen war, die sich in Hun­ger­de­mon­stra­tio­nen, Lohn­streiks und Mas­sen­un­ru­hen Aus­druck ver­schaff­ten, tau­chen Reis­ners Tex­te, im Pathos der Unbeug­sa­men, mit unver­mit­tel­te Här­te ein, füh­ren direkt in das Ham­bur­ger Arbei­ter­wohn­vier­tel Barm­bek und, mit Abstri­chen, in das vor­ge­la­ger­ten Schiff­bek, wo ein gro­ßer Teil der Bevöl­ke­rung auf die Bar­ri­ka­den ging, dar­un­ter vie­le Frau­en und Kin­der. Gera­de das Schick­sal jener Frau­en mit viel Ein­füh­lungs­ver­mö­gen zu beleuch­ten, ist eine Stär­ke von Reis­ners Repor­ta­gen. Dies konn­te ihr nur gelin­gen, weil sie nicht fern­ab über die­se Men­schen schrieb, son­dern sich unter ihnen beweg­te und vor Ort das Gespräch such­te und um Ver­trau­en warb.

»Von Zeit zu Zeit erscheint bei den jeder Will­kür, Gewalt und Ent­beh­rung aus­ge­lie­fer­ten Frau­en ein Poli­zei­trupp zwecks Haus­su­chung, oder es kommt ein Kanzl­ei­gen­darm zu ihrer Ver­neh­mung. Dann zeigt die­se gan­ze hilf­lo­se Armut auf ein­mal ihre ver­bor­ge­nen Sta­cheln und setzt der zivi­len und mili­tä­ri­schen, mit ihren Säbeln über die ver­ei­sten, schmut­zi­gen Trep­pen ras­sel­ten Gewalt einen muti­gen har­ten Wider­stand entgegen.«

So sind ihre Repor­ta­gen, und dar­auf muss sich die Leser­schaft ein­stel­len: neben einer mit schar­fer Feder vor­ge­tra­ge­ne Ankla­ge gegen ein aus­beu­te­ri­sches System vor allem eine für alle Zei­ten unver­gess­li­che lite­ra­ri­sche Ver­beu­gung vor den Men­schen auf und hin­ter den Bar­ri­ka­den. Eine gewis­se histo­ri­sche Ein­ord­nung wäre den­je­ni­gen Lese­rin­nen und Lesern, die nicht über die genau­en zeit­li­chen Umstän­de infor­miert sind, ange­ra­ten. Aber auch ohne die­se Grund­kennt­nis­se sind die Bei­trä­ge als Doku­ment ihrer Zeit höchst gehalt­voll sowie von gro­ßer Inten­si­tät und Informationsfülle.

Laris­sa Reis­ner: Ham­burg auf den Bar­ri­ka­den, Ver­lag Haag + Her­chen, 182 S., 18 €.