Im Verlag Haag + Herchen ist eine Reprint-Ausgabe von Larissa Reisner’s großer Reportage- Sammlung »Hamburg auf den Barrikaden« über den versuchten Hamburger Aufstand im Oktober 1923 erschienen. Die im Jahr 1895 in Lublin geborene und am 9. Februar 1926 in einem Moskauer Krankenhaus an Typhus verstorbene Larissa Reisner war eine herausragende Persönlichkeit in der noch jungen Sowjetunion und auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Soldatin in der neu gegründeten Roten Armee während des Bürgerkriegs, danach politische Kommissarin, natürlich anerkannte Schriftstellerin und mit Leib und Seele Revolutionärin. Literaten wie Joseph Roth oder auch Kurt Tucholsky sprachen in den höchsten Tönen von ihr. Dass dies zu Recht geschah, davon zeugt ihr Talent, in ihren Reportagen Bilder zu generieren, in denen jene katastrophale Lage der Arbeiterklasse in ihren kasernierten Milieus geradezu schmerzhaft spürbar wird.
»Die Hamburger Arbeiter leben weitab von ihren Fabriken und Werften, in einem Stadtteil, genannt Barmbek (…). Durch diese reichlich schmutzige und widerwärtige Vorstadt zieht die riesige Raupe einer Eisenbahnbrücke einen stählernen Halbkreis, ihre leicht gebogenen Füße halten sich mit Saugwarzen aus Beton am Asphalt fest.«
In die Gemengelage eines Deutschlands der frühen 1920er Jahre, das revolutionär am Gären und von sozialen Spannungen durchdrungen war, die sich in Hungerdemonstrationen, Lohnstreiks und Massenunruhen Ausdruck verschafften, tauchen Reisners Texte, im Pathos der Unbeugsamen, mit unvermittelte Härte ein, führen direkt in das Hamburger Arbeiterwohnviertel Barmbek und, mit Abstrichen, in das vorgelagerten Schiffbek, wo ein großer Teil der Bevölkerung auf die Barrikaden ging, darunter viele Frauen und Kinder. Gerade das Schicksal jener Frauen mit viel Einfühlungsvermögen zu beleuchten, ist eine Stärke von Reisners Reportagen. Dies konnte ihr nur gelingen, weil sie nicht fernab über diese Menschen schrieb, sondern sich unter ihnen bewegte und vor Ort das Gespräch suchte und um Vertrauen warb.
»Von Zeit zu Zeit erscheint bei den jeder Willkür, Gewalt und Entbehrung ausgelieferten Frauen ein Polizeitrupp zwecks Haussuchung, oder es kommt ein Kanzleigendarm zu ihrer Vernehmung. Dann zeigt diese ganze hilflose Armut auf einmal ihre verborgenen Stacheln und setzt der zivilen und militärischen, mit ihren Säbeln über die vereisten, schmutzigen Treppen rasselten Gewalt einen mutigen harten Widerstand entgegen.«
So sind ihre Reportagen, und darauf muss sich die Leserschaft einstellen: neben einer mit scharfer Feder vorgetragene Anklage gegen ein ausbeuterisches System vor allem eine für alle Zeiten unvergessliche literarische Verbeugung vor den Menschen auf und hinter den Barrikaden. Eine gewisse historische Einordnung wäre denjenigen Leserinnen und Lesern, die nicht über die genauen zeitlichen Umstände informiert sind, angeraten. Aber auch ohne diese Grundkenntnisse sind die Beiträge als Dokument ihrer Zeit höchst gehaltvoll sowie von großer Intensität und Informationsfülle.
Larissa Reisner: Hamburg auf den Barrikaden, Verlag Haag + Herchen, 182 S., 18 €.