Je älter der Mensch wird, je eher ist er der Auffassung, man habe zwar nicht alles, aber vieles schon erlebt. Das gilt im Guten wie im Schlechten. Grundsätzlich mag das ja auch stimmen, aber manchmal muss man doch die Erfahrung machen, dass das Geschehene neu ist und erschütternd zugleich. Mir ging dies vor einigen Tagen so, und das Ereignis beschäftigt mich noch immer. Aus dem thüringischen Gotha war ich am Morgen des 10. Mai nach Berlin aufgebrochen, um – wie bereits seit Jahren Tradition – am Nachmittag am »Lesen gegen das Vergessen« auf dem Bebelplatz teilzunehmen. Alljährlich erinnern hier Künstler und Schriftsteller an die von den Nazis 1933 an diesem Platz und anderen Orten in Deutschland inszenierte Bücherverbrennung. Was die Faschisten als »Ungeist« bezeichneten, wurde den Flammen übergeben, und man hatte wohl die Illusion, damit alle fortschrittlichen Gedanken, die bis dahin aufgekommen und literarisch festgehalten wurden, vernichten zu können. So absurd dieser Gedanke ist, so sehr wurde er damals zelebriert. Ich war am 10. Mai dieses Jahres etwas früher am Veranstaltungsort angekommen. Alle bereitgestellten Stühle für die Zuschauer waren noch unbesetzt. Da die Sonne sehr intensiv strahlte, und ich wusste, dass ich dieser dann für die Dauer der Veranstaltung noch mindestens für zwei Stunden ausgesetzt sein würde, ging ich seitlich hinter das in der unmittelbaren Nachbarschaft gelegene Gebäude der Deutschen Staatsoper. Dort war auch im Schatten eine Bank und der Platz gefiel mir gut. Von da aus konnte ich in Richtung des wieder erbauten Stadtschlosses, aber auch zu meiner alten Humboldt-Universität hinüberblicken. Viele Menschen gingen hin und her, man hörte unterschiedliche, fremde Sprachen. Dann kam auch eine Braut im weißen Kleid mit Bräutigam und einigen Hochzeitsgästen. Das erinnerte mich daran, dass auch mein Sohn im nächsten Monat den Bund der Ehe schließen wird. Ich saß etwa 20 Minuten, als aus Richtung der Neuen Wache mehrere junge Leute – sie mögen so zwischen 17 und 20 Jahren alt gewesen sein – die Straße Unter den Linden zu mir hinüberwechselten. In etwa 5 m Entfernung gingen sie an mir vorbei und erweckten beim besten Willen keinen auffälligen Eindruck. Etwa vier von ihnen gingen zu den übrigen drei mit einem Abstand von einigen Metern voraus. Alle gehörten aber irgendwie zusammen. Plötzlich rief einer aus der hinteren Gruppe zu den vorderen: »Halt, stehen bleiben! Geheime Staatspolizei!« Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Die vorderen stoppten auch und drehten sich zu den hinteren um. Lachend kommentierten sie die Aufforderung zum Halten. Als alle wieder auf gleicher Höhe waren, gingen sie vergnügt und völlig unbekümmert weiter. In mir hatte diese Situation jetzt erst richtig begonnen, verarbeitet zu werden. Meine Fassungslosigkeit hätte man mir vermutlich angesehen. Was veranlasst junge Leute auf derart unwürdige Weise mit dem Nazivokabular umzugehen, als würde man einen schlechten Witz machen? Die Aufforderung mit dem benutzten Text war vermutlich Jahrzehnte vorher oft der Beginn der Festnahme, Inhaftierung und Verschleppung von Menschen in ein KZ oder eine andere Folterstätte. Nicht selten bedeutete das den sicheren Tod, die Ermordung und vorangegangene grausame Folterung. War das den jungen Leuten nicht bewusst? Hatten sie davon etwa noch nie gehört? Wohl kaum!
Die Verwendung des Vokabulars lässt aber nur den Schluss zu, dass sie sich deren Bedeutung nicht annähernd bewusst waren. Wie viel Nachholbedarf mag es diesbezüglich geben? In einer Stadt wie Berlin gäbe es genügend Gelegenheiten, sein Wissen aufzufrischen und sich anzusehen, wohin die Nazidiktatur führte und welche menschenverachtenden Verhaltensweisen sie hervorbrachte. Allein im gegenüberliegenden Deutschen Historischen Museum wäre Gelegenheit dazu. Doch die jungen Leute gingen in eine andere Richtung, scheinbar nicht nur mit den Füßen. Inzwischen war die Zeit herangekommen, sodass ich um die Ecke zum Bebelplatz ging, um dort auf einem der Stühle Platz zu nehmen und auf den Beginn der Veranstaltung zu warten. Bald kamen auch Beate und Serge Klarsfeld, die zu diesem Anlass bereits seit Jahren aus Paris anreisen, weil Beate zu den Akteuren der Veranstaltung gehört. Beide sind inzwischen weit über 80 Jahre alt und haben fast ihr gesamtes Leben der Aufspürung nazistischer Gewaltverbrecher gewidmet und dafür Sorge getragen, dass mancher von ihnen später vor Gericht gestellt werden konnte. Serge ist nur durch glückliche Umstände der Deportation als Kind entgangen und damit auch dem sicheren Tod. Was wäre wohl in ihm vorgegangen, wenn er statt meiner die beschriebene Situation hätte erleben müssen?