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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gut sein in Zeiten von Corona?

Am 6. März, als die Pan­de­mie schon sicht­bar, aber die Thea­ter noch voll waren, habe ich ein Stück von Brecht sehen und hören kön­nen: Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Auf­ruhr sein. Und wo kein Auf­ruhr ist, da ist es bes­ser, dass die Stadt unter­geht durch ein Feu­er, bevor es Nacht wird! Nun ist Unrecht und Pan­de­mie und Nacht über Euro­pa – aber kein Aufruhr.

Die Göt­ter, wir alle, suchen den guten Men­schen von Sezu­an und sonst wo. Ist die Mis­si­on schon wie im Stück geschei­tert, weil trotz Pan­de­mie und trotz Ver­sa­gen der Herr­schen­den kein Auf­ruhr ist? Der gött­li­che Auf­trag: »Die Welt kann blei­ben, wie sie ist, wenn genü­gend Men­schen gefun­den wer­den, die ein men­schen­wür­di­ges Dasein leben können.«

»Wie soll ich gut sein, wo alles so teu­er ist?« lässt Brecht Shen Te in dem Stück »Der gute Mensch von Sezu­an« fra­gen: »Der Magen knurrt lei­der auch, wenn der Kai­ser Geburts­tag hat.« Es gibt kein rich­ti­ges Leben im Fal­schen – schreibt Ador­no in der Mini­ma Mora­lia nur weni­ge Jah­re, nach­dem das Stück von Brecht 1943 in Zürich urauf­ge­führt wor­den war, unter dem Ein­druck des faschi­sti­schen Terrors.

Im Schau­spiel­haus Mag­de­burg wur­de die Para­bel gezeigt, dicht am Text und an der Idee von Brecht: Die kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft, in der alles nur mit barer Mün­ze gemes­sen wird, in der alles zur Ware wird, die­se Gesell­schaft ist ver­kom­men bis ver­bre­che­risch – eine beäng­sti­gen­de Aktua­li­tät, wie bei fast allem von Brecht. Wie kann der ein­zel­ne Mensch gut sein, wenn das System nur auf Maxi­mal­pro­fit ori­en­tiert, nur auf die Siche­rung der Herr­schaft der Rei­chen? Kön­nen mensch­li­che Güte und Moral über mensch­li­che Gier und gesell­schaft­li­che Ver­kom­men­heit tri­um­phie­ren? Unter der Regie von Tim Kra­mer spielt Mai­ke Som­mer groß­ar­tig und sehr direkt die Shen Te wie auch ihren Ant­ago­ni­sten Shui Ta. Valen­tin Klein­schmidt ver­kör­pert glaub­wür­dig den arbeits­lo­sen Flie­ger Yang Sun, ent­wickelt die Musik von Paul Des­sau mit Gitar­re und star­ker Trom­pe­te in leicht­ver­ständ­li­chen und gut pas­sen­den Jazz. Wie aktu­ell eigent­lich alle Stücke von Brecht sind, wird am Lied vom Sankt Nim­mer­leins­tag sicht- und hör­bar, das Yang Sun gefühl­voll-resi­gniert singt. Da heißt es: »[…] Eines Tags, und das hat wohl ein jeder gehört/​ Der in ärm­li­cher Wie­ge lag/​ Kommt des armen Weibs Sohn auf ‹nen gol­de­nen Thron/​ Und der Tag heißt Sankt Nimmerleinstag./ […] Und an die­sem Tag zahlt die Güte sich aus […]«

Auf den Sankt Nim­mer­leins­tag war­ten viel­leicht noch weni­ge gläu­bi­ge Idea­li­sten – aber das Böse, der Hass und die Miss­gunst sind auch anstren­gend, wo Lie­be und Mensch­lich­keit feh­len, so Brecht in »Die Mas­ke des Bösen«.

Und so blei­ben wir, die Zuschau­er wie die Göt­ter, ohne Ant­wort, die wir selbst fin­den müs­sen, ent­täuscht und ste­hen betrof­fen, der »Vor­hang zu und alle Fra­gen offen«.

Auch bei dem Stück mit der Pan­de­mie sind vie­le Fra­gen offen, aber der Vor­hang eben auch. Was also, so mei­ne Gedan­ken heu­te, bedeu­tet es, gut zu sein in Zei­ten von Corona?

Erst flä­chen­decken­de Tests erlau­ben ein voll­stän­di­ges Bild als Vor­aus­set­zung für not­wen­di­ge Maß­nah­men, anson­sten sto­chern die Ver­ant­wort­li­chen im Nebel – und lie­gen oft und mit töd­li­chen Kon­se­quen­zen falsch.

Ohne einen wirk­li­chen Schutz­schirm für jene Men­schen, die ihn wirk­lich benö­ti­gen, die von Ent­las­sun­gen bedroht sind, die von Hartz IV leben müs­sen, die obdach­los sind, die Solo­selb­stän­di­gen, ohne einen Schutz­schirm für sozia­le Orga­ni­sa­tio­nen und Ver­ei­ne, ohne all das wird das Land, wird Euro­pa in der Bar­ba­rei ver­sin­ken – falls es die­ses Euro­pa, die »Euro­päi­sche Uni­on«, danach über­haupt noch gibt.

Gut sein in Zei­ten von Coro­na bedeu­tet Kampf, Klas­sen­kampf und Soli­da­ri­tät – nicht War­ten auf den Sankt-Nim­mer­leins­tag, der ja doch nicht kom­men wird.