Liebe Freunde,
ihr erinnert euch gewiss, dass mein Vater fünf Brüder hatte. Sicherlich habe ich auch irgendwann von ihren tragischen Reisen erzählt: Helmut, der Älteste, fuhr auf einem Torpedoboot nach Kirkenes, Reinhold steuerte seinen Panzer bis nach Sewastopol, Gerhard, meinen Vater, verschlug es nach mehreren Fahrten zur See in die Gefangenschaft hinter dem Ural. Auch Alfred nahm teil am Krieg gegen Sowjetrussland, und Waldemar, der Flugzeugführer – das altmodische Wort stand später auf seinem Grabstein –, überflog immer wieder den Osten Europas. Die beiden zuletzt Genannten haben ihre Reisen mit dem Leben bezahlen müssen. Gänzlich verschont blieb nur Wolfgang, der Jüngste, aber auch er reiste späterhin viel – freilich in friedlicher Mission – und war Jahre in Mosambik und in Angola tätig. Seine Brüder sprachen niemals darüber, was sie während ihrer unfreiwilligen Reisen erlebt hatten. Aber wer erfahren wollte, was »eisiges Schweigen« ist, der musste in ihrer Gegenwart nur einen Witz über Polen oder Russen erzählen.
Sie hätten nicht schweigen sollen, dachte ich kürzlich, als ich auf dem Bildschirm den Bundeskanzler sah, der ungeschickt in den Turm eines für die Ukraine bestimmten Panzers kletterte. Danach pries ein sogenannter Experte die entsetzliche Kampfkraft dieses Panzers und nannte ihn vertraulich Leo. Ich bin ziemlich sicher, was mein Vater und seine Brüder vom Bundeskanzler, von dem Experten und von jenen Zuschauern gehalten hätten, die solchen Bildern zustimmend oder unbewegt zusahen. Empfand niemand Widerwillen, Furcht, ein wenig Angst? Wir schon, insbesondere Angst um unseren Sohn, aber wir sind zu alt, um auf die Straße zu gehen. Es wurde Zeit zu verschwinden.
Also fuhren wir nach Neapel, in eine komplett verrückte Stadt: Neapel wurde nach dem Spiel in Udine italienischer Fußballmeister – eine Meisterschaft, auf die so viele seit dreiunddreißig Jahren gewartet haben. Als wir tags darauf ankamen, liefen wir in jeder Gasse unter einem blau-weißen Himmel: Bänder in den Mannschaftsfarben verbanden alle Balkone, unzählige Fahnen flatterten. Auf dem gutbürgerlichen Vomero mag das anders ausgesehen haben. Jedoch in der Altstadt, wo man ständig über Flaschen und Feuerwerksreste stolperte, glänzten die Leute immer noch vor Stolz, obwohl es in der Raserei des Sieges einen Toten und zweimal hundert zum Teil schwer Verletzte gegeben hatte. Was da in den Menschen vorging, mag ein Ausbruch aus dem Gefühl der Demütigung gewesen sein, das seit anderthalb Jahrhunderten, seit der politischen Vereinigung mit dem Norden anhält. Nun aber sind sie endlich wieder Campioni d’Italia.
Am Sonnabend dann das Maiwunder: Bei solchen Gelegenheiten verflüssigt sich das angeblich vor Jahrhunderten geronnene Blut des heiligen Gennaro. Für die Gläubigen bedeutet das Gottes Anwesenheit, Frieden und Wohlergehen für die Stadt. 1980, als das Blut erstarrt blieb, gab es ein schreckliches Erdbeben. Davon kann nun jeder halten, was er will, aber das Zusammentreffen von Fußballmeisterschaft und Maiwunder war für einige Leute offenbar zu viel. Wir gingen mitten in der Prozession, im schlimmsten Gedränge – ein Festtag für die Taschendiebe. Doch es war bewegend anzusehen, wie die mit Blumen geschmückten silbernen Statuen der Stadtheiligen – übergroße Torsi, zentnerschwer, nur die Himmelskönigin schwebte leicht und lebensgroß über allen Köpfen – vom Dom zur Santa Chiara getragen wurden. Vor den auf den Schultern von jeweils vier Männern getragenen Gestellen mit den Heiligen darauf lief rückwärts der Kräftigste und stemmte sich dagegen, denn wenn auf der abschüssigen via Duomo das Schrittmaß verlorengegangen wäre, hätte es eine Katastrophe gegeben. An jeder Kirche am Weg wurde gehalten, die Glocken läuteten, und Nonnen und Priester sangen Choräle, bevor es weiterging. In der engen San Biagio ai Librai hat man uns dann beinahe erdrückt. Das Gewühl war furchtbar – besonders für Behinderte, die von dem Bittgang Heilung oder Linderung ihrer Leiden erhofften.
Inzwischen sind wir nun in Pozzuoli, in einem Vorort, der immer eine Reise wert war: Bis zum Bau großer Hafenbecken in Ostia Antica war Pozzuoli der bedeutendste Hafen Roms. Hier gingen Cäsar und Kleopatra von und an Bord, hier legten die Schiffe an, mit denen Luxusgüter und Getreide, die Kulte der Sonnenanbeter und der Isis, Tyrer, Griechen, Juden, Äthiopier, Nabatäer sowie der Apostel Paulus – seine Ankunft wird in der Bibel erwähnt – Europa erreichten. Damals hieß die Stadt noch Puteoli. Mir ist kein römischer Kaiser bekannt, der nicht in Puteoli war – freilich nur auf der Durchreise zu den Villen in Baia und Cuma. Ob zum Beispiel Nero dabei das Amphitheater der Stadt für eine seiner Gesangsdarbietungen nutzte, ist nicht überliefert. Das Odeum in Neapel hat er jedenfalls dafür missbraucht. Damals blühten die Geschäfte der Reedereien, Banken und Seeversicherungen noch. Pozzuoli verband Rom nicht allein mit einer Nahrungsgrundlage des Reiches, mit dem Getreide aus Ägypten, sondern auch mit anderen Häfen in Gallien, Hispanien, Nordafrika, in Kleinasien und denen griechischer Inseln. Heute ist schwerlich vorstellbar, wie sich vor den Lagerhäusern dutzende Laufkräne drehten und welcher Trubel im Hafenviertel herrschte, im Paradies der Seeleute, in dem die Fiedel nie verstummte und die Bäume statt der Blätter Branntweinflaschen trugen. Wer jedoch als Herrscher, in Geschäften oder wegen seines Handwerks kam und seinen Glauben bewahrt sehen wollte, der gründete einen Tempel: Griechen und Römer auf Rione Terra, einem Felsen über dem Hafen, Ägypter am Macellum, dem römischen Markt. Davon ist nicht mehr viel zu besehen, denn die Stadt und ihre Umgebung liegen über einer gewaltigen Magmablase: Schwankender Untergrund, der sich zum Beispiel in den achtziger Jahren mit den darauf stehenden Kaianlagen und Gebäuden um nahezu zwei Meter hob. Solche Unruhe in der Tiefe verträgt sich gut mit einem der seltsamsten Denkmäler der Welt, genannt Monument der Anarchisten, nahe beim Macellum, auf dem es heißt: »Das Notwendigste ist, dass die Völker, dass alle Menschen die ängstlichen Instinkte und Gewohnheiten aufgeben, die Jahrtausende der Sklaverei in ihnen geweckt haben, und dass sie lernen, frei zu denken und zu handeln. Die Anarchisten«.
Pozzuoli ist zum Glück kein Badeort. Stattdessen findet reichlich, wer Schönheit, Geschichte und Kultur sucht. Etwa in der Basilica di San Procolo Martire auf Rione Terra. Wenn ihr die Kirche irgendwann besuchen solltet, dann erwartet euch barocker Bilderschmuck. Insbesondere ein Gemälde, das den Märtyrer San Gennaro auf dem Weg zur Enthauptung darstellt, hat es uns angetan: Im Gegensatz zu anderen Darstellungen des Heiligen blickt dieser nicht ergeben himmelwärts. Er scheint nicht erleuchtet oder verklärt, sondern ist schlicht ein gequälter, erschöpfter alter Mann, der wahrscheinlich lieber sogleich vor seinen Schöpfer treten würde.
Der heilige Gennaro gehört zu einem Triptychon, das Artemisia Gentileschi in der Mitte des 17. Jahrhunderts malte. Die schon in ihrer Jugend vergewaltigte und nur zeitweilig verheiratete Künstlerin hatte übrigens fünf Kinder. Es fand sich dennoch ein Bischof, der die Fähigkeiten der nicht übermäßig gottesfürchtigen Malerin erkannte und sie mit dem Auftrag für ein Triptychon bedachte. Wenn wir wieder in Neapel sind, wollen wir nach ihrem während der fünfziger Jahre eingeebneten Grab suchen. In einer Zeit, in der Panzer das Gedenken an die Vergangenheit einebnen, mag das etwas theatralisch anmuten, doch seit wir ihren Gennaro gesehen haben, bekommen wir das Vorhaben nicht mehr aus dem Kopf.
Aber ich will euch nichts vormachen: Wir fahren natürlich vor allem wegen der hervorragenden Fischgerichte nach Pozzuoli. Wenn wir dort vor einer Flasche Greco di Tufo sitzen, vor knusprigem, warmem Brot und einer gegrillten Dorade – oder vor einem meiner geliebten Muschelgerichte, deren Geruch Ingrid immer wieder über eine Trennung nachdenken lässt –, dann sind wir endlich ganz gelassen und heiter. Unter uns liegt der Golf im Licht des Südens. Dort drüben, am Kap Misenum der Antike, stand im Jahr 79 Plinius der Ältere, Admiral der römischen Flotte und zugleich hervorragender Gelehrter. Er sah den furchtbaren Ausbruch des Vesuvs, der Pompeji und Herculaneum begrub und ist darauf mit der Besatzung einer Kriegsgaleere aufgebrochen, um Menschen zu retten. Es war seine letzte Fahrt. Zur Rechten, auf einem Hügel über der Stadt, hat der sterbende Giambattista Pergolesi im Kloster San Francesco d’Assisi das STABAT MATER komponiert. Etwas darüber, an der Solfatara, zeichnete Goethe die von vulkanischen Schwaden durchzogene Landschaft, und zur Linken liegt das Betonskelett von Vincenzo a Mare, zuvor ein Kapuzinerkloster, in dem die Camorrabosse Neapels prassten, einander umarmten und küssten und dann ihrem Oberhaupt Cuoca eine Sattlernadel ins Herz stechen ließen.
Zum Schluss: Kennt ihr diesen Witz aus der Zeit der Sowjetunion? Ein Redner der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse preist die Entwicklung der Stadt Schirokij: »Was war Schirokij vor der Sowjetmacht? Drei windschiefe Hütten und ein Ziehbrunnen. Und was ist Schirokij jetzt? Ein Atomkraftwerk, eine Universität, eine Automobilfabrik, ein Konservatorium, Kulturhäuser, Kindergärten.« Im Publikum hebt jemand schüchtern die Hand, und der Versammlungsleiter gestattet die Wortmeldung. Darauf sagt der Mann: »Ich komme gerade aus Schirokij. Es gibt dort nichts außer drei windschiefen Hütten und einem Ziehbrunnen.« Der Redner beißt sich auf die Lippe und zischt: »Weniger reisen, Genosse. Mehr lesen!«
Gelegenheit dazu gäbe es, denn man kann auch hier Spiegel, SZ, Neue Zürcher und andere regierungstreue Blätter kaufen. Aber es ist gewiss lehrreicher, wenn man noch reisen und die Zweideutigkeiten der Welt besehen kann. So hat uns zum Beispiel Antonio, mit dem wir in der kommenden Woche nach Palermo aufbrechen werden, eine Figurengruppe gezeigt, die in der via dei Tribunali hinter einer Glasscheibe eingemauert ist: Heuchler beider Geschlechter im Fegefeuer, gepeinigt von blutroten Flammen. Vornan ein kahlköpfiger, grinsender Zwerg.
Wie immer unsere besten Wünsche für euch alle!